Die Nadel zeigt nach Osten

Mathias Enard reflektiert in seinem Roman „Kompass“ die engen Austauschbeziehungen zwischen Orient und Okzident

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Aleppo wird in Trümmer gelegt, Palmyra ausgebombt und Damaskus zum Gefängnis gemacht. Die Kriege in Syrien und im Irak zerstören nicht nur Zeugnisse der antiken und frühen islamischen Kultur, sie legen sich wie ein dunkler Schatten über ein altes europäisches Faszinosum: den Orient. Die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht beispielsweise haben ein märchenhaftes Bild geschaffen, das Eingang in die Populärkultur gefunden hat. Hinter den eher trivialen Vorstellungen verbirgt sich eine Sehnsucht nach dem Orient, die speziell im 19. Jahrhundert schönste Blüten trieb. Muslimische Ornamentik, das geheimnisvolle Opium, mystische Strömungen oder das scheinbar einfache Nomadenleben in der leeren Wüste lockten Intellektuelle und Künstler aus dem Westen an. Orientalismus kam in Mode und hielt Einzug in Poesie, Musik und Kunst. Abenteurer, Lebenskünstlerinnen, Linguisten und Archäologen bereisten die Welt zwischen Istanbul und Teheran und ebneten so, ob ungewollt oder tatkräftig, die Wege für die koloniale Machtpolitik.

„Die Orientalen haben nicht den geringsten Sinn für den Orient. Den Sinn für den Orient, den haben nur wir Westler, wir, die Rumis.“ Dies gibt die französische Orientalistin Sarah in Mathias Enards Roman Kompass zu bedenken. 2015 unter dem Titel Boussole mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, liegt er nun in der geschmeidigen Übersetzung von Holger Fock und Sabine Müller auf Deutsch vor.

Sarah spielt darin die Hauptrolle, ihr träumt der Ich-Erzähler Franz Ritter in melancholischer Sehnsucht nach. Der Wiener Musikwissenschaftler ist wie Sarah leidenschaftlich mit dem Orient verbunden. 1995 lernen sich die beiden auf Schloss Hainfeld kennen, wo vor 180 Jahren der Orientalist Joseph von Hammer-Purgstall lebte. Franz Ritter interessiert sich für die Einflüsse, die nahöstliche Exotik auf die Musik des 19. Jahrhunderts ausübte. Und die aus Paris kommende Sarah forscht den vielfältigen kulturellen und rituellen Austauschbeziehungen zwischen Orient und Okzident nach. Über das gemeinsame Gespräch entwickelt sich zwischen ihnen eine innige Beziehung, die freilich voller Missverständnisse steckt. Während der schüchterne Franz seine Liebe nur durch verborgene Zeichen ausdrückt, wahrt Sarah ihre Unabhängigkeit und heiratet schließlich einen syrischen Musiker. Ihre Verbundenheit und damit ihr intensives Gespräch halten sie dennoch über die Jahre aufrecht, bei gegenseitigen Besuchen oder per Brief und E-Mail.

Mathias Enard lässt Franz Ritter erzählen. In einer irgendwann im Jahr 2012 schlaflos durchwachten Nacht schwirren ihm alle gemeinsamen Begegnungen und Gespräche durch den Kopf. In einem halb bewussten, halb traumwandlerischen Monolog enthüllt er Stunde um Stunde seine unglückliche und zugleich erfüllte Liebe für Sarah. Ihre Zuneigung vollzieht sich gewissermaßen intellektuell.

Mathias Enard entwickelt in Kompass ein Gegenprogramm zum herrschenden Mainstream der Abgrenzung. Aus der Perspektive zweier Liebender blickt er hinter die aktuellen Krisen. In ihrem Interesse für den Orient, den sie auch selbst bereisen und über längere Perioden besuchen, spiegelt sich die Faszination für alles Orientalische.

Der Herr jenes Schlosses, auf dem sie sich erstmals begegneten, Joseph von Hammer-Purgstall, war einer der bedeutenden Initiatoren für ein neues kulturelles Verständnis der türkischen, arabischen und iranischen Kultur. Sein Kompass zeigte nach Osten. Von diesem Kompass lässt sich auch Mathias Enard leiten. Er ist angezogen vom Orient und sich doch immer bewusst, dass diese Anziehung auch eine westliche Vorstellung darstellt; eine Vorstellung allerdings, die in den Orient zurückwirkt, wie er schreibt. In Saudi-Arabien beispielsweise erfreuen sich Disneyfilme großer Beliebtheit, weil ihre „orientalisierenden“ Bilder mittlerweile für echt gehalten werden. Vergleichbar können die (womöglich aus Filmbildern gespeisten) Inszenierungen des IS als falsche Projektionen betrachtet werden, die im Orient selbst absolut fremd anmuten.

Es sind solche Hinweise, die diese Reise in die Vergangenheit für die Gegenwart öffnen. Auch wenn die aktuellen Krisen und Kriege im Hintergrund bleiben, sind sie unausgesprochen stets präsent, lediglich überlagert von den kulturellen Projektionen und Verwerfungen, die das Verhältnis zwischen Okzident und Orient grundsätzlich prägen.

Enard führt unendlich viele reizvolle, schillernde, überraschende Dokumente und Argumente vor, die unser Bild vom Orient nachhaltig geprägt haben. „Es gibt keine Zufälle, alles hängt zusammen, würde Sarah sagen“, bemerkt Franz Ritter. So weiß er auch, wie die Faszination für arabische Sprachen und für Kulturdenkmäler der Antike mithalfen, die orientalische Welt zu kolonisieren. Kaum überraschend stellten sich viele Repräsentanten des Orientalismus in den 1940er-Jahren an die Seite der Faschisten.

Es ist verblüffend zu lesen, wie reich Enard diese Austauschbeziehungen ausstattet und zum Teil kaum bekannte Namen von Hafis bis Honoré de Balzac oder von Heinrich Heine bis Sadeq Hedayat ins Feld führt. Ganz zu schweigen von Orientreisenden wie Annemarie Schwarzenbach oder der undurchsichtigen Marga d‘Andurain, die einst in Palmyra ein Hotel führte.

Enards Auseinandersetzung mit dem Orientalismus vermischt dabei listig reale Personen mit fiktiven. Darunter finden sich auch überraschende Begegnungen, beispielsweise mit dem iranischen Gelehrten Omar Khayyam, dem jüngst Dzevad Karahasan einen Roman, Der Trost des Nachthimmels, gewidmet hat. Mathias Enard sieht ihn in einem anderen Licht und stellt dem demütigen Philosophen (bei Karahasan) einen respektlosen Gelehrten gegenüber, einen Agnostiker, der „mal als hedonistischer, mal als kontemplativer Liebender, eingefleischter Trunkenbold oder mythischer Trinker“ beispielsweise Fernando Pessoa inspirierte.

Kompass erzählt schräge Anekdoten, gibt intellektuelle Debatten wieder oder interpretiert mit feinem Gespür die orientalischen Einflüsse auf die Musik von Georges Bizet oder Ludwig van Beethoven. Dieser übrigens hat dem Roman auch zum Titel verholfen. Beethoven soll einen Kompass besessen haben, ein Trick-Spielzeug, dessen Nadel stets nach Osten zeigte.

Das schönste Verdienst von Mathias Enard aber besteht darin, dass er seinen klugen Essayismus mit der Erzählung einer anrührenden und am Ende höchst traurigen Liebesgeschichte zu verbinden versteht. Je länger sich Franz Ritter erinnert, umso weniger versteckt er sich hinter Debatten und Diskussionen. Diese doppelte Erzählspur verleiht dem Roman jene Kraft, die den Orientalismus auch sinnlich spürbar macht. Kompass öffnet auf eine gleichermaßen kritische wie faszinierte Weise den Blick nach Osten. Trotz seiner Rückblicke ist es ein Buch ganz auf der Höhe unserer Zeit.

Titelbild

Mathias Énard: Kompass. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller.
Hanser Berlin, Berlin 2016.
429 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783446253155

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