Der gerettete Retter

Tim Trageser verfilmt eine ungewöhnliche Geschichte über einen Bankräuber: „Der Äthiopier“

Von Marie-Luise EberhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marie-Luise Eberhardt

Was wird aus einem Waisenkind, das ohne Liebe, ausgegrenzt und mit Gewalt aufwächst? Ein liebender Familienvater oder ein verurteilter Krimineller? Regisseur Tim Trageser und Drehbuchautor Heinrich Hadding zeigen mit Der Äthiopier, einer Verfilmung nach der gleichnamigen Kurzgeschichte von Ferdinand von Schirach, dass sich beide Optionen nicht ausschließen lassen.

Frank Michalka – gespielt von Jürgen Vogel – sitzt mit einer schwarzen Plastiktüte auf einem Platz. Etwa 50 Meter entfernt befindet sich eine Bankfiliale, aus der Polizist*innen treten, die nach dem Hinweis eines Passanten zu Michalka stürmen, ihn umzingeln und zu Boden drücken. Michalka wirkt geistesabwesend und lässt alles mit sich geschehen, ohne sich zur Wehr zu setzen. Allein diese erste Szene durchbricht stereotype Vorstellungen vom gewaltbereiten Kriminellen und eröffnet die Frage, wie Michalka in diese Situation geraten ist. Die Antwort auf die Frage wird im Film erst nach und nach gegeben.

Michalka ist traumatisiert und verstört: Nur langsam gelingt es Sophie Kleinschmidt (Paula Kalenberg), die ein Praktikum in einer großen Anwaltskanzlei macht, das Vertrauen des Wiederholungstäters zu gewinnen. Mehrmals besucht die unsichere, naiv wirkende Frau ihn im Gefängnis und versucht Michalka begreiflich zu machen, dass er aussagen muss, um verteidigt werden zu können. Kleinschmidt schafft es schließlich sein Schweigen zu beenden, indem sie Michalka ein Aufnahmegerät übergibt, auf welches er in seiner Zelle nach vielen Anläufen ein afrikanisches Lied singt.

Dieses Lied führt die Anwaltsanwärterin nach weiterer cleverer Recherche zur Geschichte des verschwiegenen Mannes. Kleinschmidt schafft es auch diese Geschichte ihrem Chef, Doktor Weilandt (Thomas Thieme), zu präsentieren. Während dieser sich die Erzählung über die Kindheit und Jugend Michalkas anhört, wird diese in Rückblenden mit düsteren Bildern gezeigt. Solche Rückblenden sind charakteristisch für Der Äthiopier. Die verschiedenen Zeitebenen werden vor allem auch bei Michalkas Verhandlung benutzt. Während dieser erfahren die Anwesenden durch Sophie Kleinschmidt, die für Frank Michalka aussagt, von dessen Glück in einem kleinen Dorf in Äthiopien. Dort wurde er nach seiner Flucht aus Deutschland halb tot aufgefunden, von der jungen Witwe Ayantu (Sayat Demissie) gepflegt und lieb gewonnen. Auch dieses Kennenlernen und Verstehen behandelt Regisseur Tim Trageser mit der nötigen Geduld.

Für einige Zuschauer*innen mag der Film zu langatmig sein – aber die zeitdeckend erzählten Szenen zeigen die Sorgfalt mit der sowohl der Regisseur als auch die Figur der Sophie Kleinschmidt Michalka begegnen und seine Geschichte zu verstehen versuchen. Ein kurzer Blick hätte der jungen Jurastudentin in dieser Angelegenheit jedenfalls nicht weiter geholfen. Später werden allerdings manche Szenen im Dorf, vor allem aber im Gerichtssaal, unnötig in die Länge gezogen. Michalkas Verhandlung, zwar wichtiger Bestandteil des Spannungsbogens, wirkt an einigen Stellen wie ein anderer Film. Die Gespräche zwischen der Richterin und dem Staatsanwalt erscheinen gekünstelt und unpassend komödienhaft und erzeugen dadurch kein Lächeln, sondern Unverständnis. Dafür wird das äthiopische Dorf samt der Bewohner*innen facettenreich, ohne Wertung und ohne europäische Arroganzposition, dargestellt. Jedenfalls bis kurz vor Schluss. Dann nämlich wird Michalka zum europäischen Retter klischiert, der den netten, aber rückschrittlichen Afrikaner*innen mit seinen klugen Ideen und Erfindungen den Fortschritt und damit den Wohlstand ermöglicht. Dafür erhält er Liebe, Geborgenheit, eine Familie und ein Zuhause. Der Deutsche wird als der Intelligente dargestellt, der Gutmensch, der dem Dorf hilft und dafür lernt seine Einsamkeit zu überwinden. Die klischeehaften Zuschreibungen und Wertungen hätte die Geschichte nicht gebraucht. Hingegen hätte die Geschichte die Thematisierung der Frage, ob durch einen technischen Fortschritt soziale, kulturelle oder ökologische Rückschritte entstehen können, bereichert.

Die Kurzgeschichte, die dem Film zu Grunde liegt, stammt aus dem Erzählband Verbrechen, mit welchem Ferdinand von Schirach, der seit 1994 als Rechtsanwalt in Berlin tätig ist, 2009 debütierte. Die elf Kurzgeschichten sind von Schirachs Arbeit geprägt: „Diese Fälle sind wahr, aber nicht in dem Sinne, dass alle so passiert sind. […] Wenn man lange Strafverteidiger war, hat man einen großen Setzkasten von Personal, Ereignissen und Szenen“, so von Schirach in einem Interview mit der Süddeutsche Zeitung im Jahr 2010.

Die Unglaublichkeit von Michalkas Geschichte, vor allem die unterstützende Reaktion des Gerichts, gepaart mit einem möglichen Realitätsanteil lässt auch im echten Leben auf ein Gericht hoffen, das dem Angeklagten zuhört und Biografie des Menschen beachtet.

Der Äthiopier ermöglicht es dem*r Zuschauer*in über weite Strecken durch einen beinahe dokumentarischen Kamerablick, der wohl passend zu Schirachs Außenperspektive keine Auslegung festlegt, sich Michalka zu nähern. Diese authentische Atmosphäre wird durch das gewollt emotionale Happy End der letzten Minuten zerstört. Das Zusammenspiel der dramatischen Musik samt romantischer Bilder verursacht kein Weinen, wie es in der Filmbeschreibung gefordert wird, sondern einen empörten Aufschrei. Eventuell ist dieser Kitsch auf Tim Trageser bisherige Regieerfahrung zurückzuführen: Er produzierte vor allem Filme fürs Fernsehen, beispielsweise den Tatort.

Trotzdem ruiniert das Ende nicht den ganzen Film. Mit gelungenen Bildern, atmosphärischer Musik und einem Schnitt, der Vergangenheit und Gegenwart gekonnt kombiniert, ist Der Äthiopier ein bewegender Film. Vor allem die schauspielerische Leistung, allen voran Jürgen Vogels, überzeugt. Vogel, wohl einer der wandelbarsten deutschen Schauspieler, durchdringt seine Rolle und schafft es, Frank Michalka verschlossen, liebevoll, rau, sensibel und unberechenbar zugleich erscheinen zu lassen. Fernab von allen Klischees über Kriminelle ist Michalka das, was er ist: ein Mensch.

Der Äthiopier
Deutschland, Äthiopien 2016
Regie: Tim Trageser
Darsteller: Jürgen Vogel, Paula Kalenberg, Thomas Thieme
Länge: 115 Minuten

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Weitere Filmrezensionen hier