Die Hoffnung stirbt zuletzt

Dola de Jongs Roman „Das Feld in der Fremde“ aus dem Jahr 1945 erzählt vom Leben jugendlicher Flüchtlinge in Marokko

Von Miriam SeidlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Seidler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Medien berichten täglich von Krieg und Vertreibung. Die Flüchtlingswelle, die Europa im vergangenen Jahr erreichte und die auch in diesem Jahr nicht abebbt, sehen viele mit Unbehagen. Dabei können sich viele Ältere noch daran erinnern, dass Europa in der Mitte des 20. Jahrhunderts vom Krieg geprägt war und die Flucht für viele die einzige Möglichkeit war, der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu entkommen. Im Jahr 2002 wurde Imre Kertész für seinen 1975 erschienen, aber erst zu Beginn der 1990er-Jahre wahrgenommenen Roman eines Schicksalslosen mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Damals wurde die Preisverleihung als ein Statement des Nobelpreiskomitees gegen Krieg und Gewalt und als Würdigung für einen sprachmächtigen Erzähler angesehen. So wie der jugendliche Ich-Erzähler in Kertészs Roman die scheinbar wissenden Leser mit einem unbedarften Blick auf Auschwitz konfrontierte, lässt auch die niederländische Autorin Dola de Jong ihre Leser in eine unbekannte Welt eintauchen. Ihr bereits im Jahr 1945 in Amerika erschienener Roman And the Field is the World spielt in Tanger. Die Stadt im Norden Marokkos beherbergte während des Zweiten Weltkriegs Flüchtlingsströme aus Europa. Reiche Europäer, die auf ein Visum nach Amerika warteten, mittellose Europäer, die sich ebenso wie die einheimische Bevölkerung um ihre tägliche Ernährung sorgen mussten, da die Nahrungsmittel nicht für die stark gestiegene Bevölkerungszahl ausreichten. Das Leid traf auch die Länder, die nicht direkt von den Kriegshandlungen auf dem europäischen Festland betroffen waren.

In dieses Dazwischen versetzt Dola de Jong eine zusammengewürfelte Gemeinschaft. Auf ihrer Fahrt Richtung Süden hat das junge niederländische Paar Lies und Aart Kinder mitgenommen, die in den Kriegswirren von ihren Eltern getrennt wurden. Mit diesen leben sie nun in Tanger in einer ärmlichen Hütte, geplagt von Läusen, Krankheiten und Hitze. Aart hat ein Feld gepachtet und gemeinsam wollen sie dieses Stück Erde nutzen, um in Marokko Fuß zu fassen. Doch bereits die ersten Seiten des Romans machen die Hoffnungslosigkeit des Unterfangens eindrucksvoll sichtbar. Während die Araber auf den angrenzenden Feldern singen, tragen die sechs Kinder verbissen und an den Grenzen ihrer Kräfte Wasser auf das Feld, um die Keimlinge zu retten.

Der englische Titel deutet es an: Das Bild des in der Fremde bewirtschafteten Feldes hat symbolische Bedeutung. Wie die Keimlinge auf dem Feld, so sind auch die Kinder schutzlos ihrer Umwelt ausgeliefert. Die Gefahr des Scheiterns deutet sich an. Obwohl Aart und Lies die Kinder aufgenommen haben, scheinen sie keine emotionale Bindung zu ihnen aufbauen zu können. Auch ihr eigenes Kind, der Säugling Dolfje, bekommt die mangelnde Empathie zu spüren. Er wird im Lauf des Romans von der blonden Berthe adoptiert, die die Pflege des Kindes zu ihrer Aufgabe macht. Dabei wäre gerade Empathie das, was den geschundenen Kinderseelen helfen könnte, sich über ihre traumatischen Erfahrungen und den Verlust ihrer Herkunftsfamilien, die in kurzen Erinnerungsfetzen als Orte eines behüteten Lebens aufscheinen, bewusst zu werden. Zwar sind sich die jüngeren Kinder ihrer Situation kaum bewusst, doch suchen sie sich selbst Auswege aus der Enge.

Die polnische Luba wählt sich den Niederländer Manus zum Ziehvater. Der bescheidene Wohlstand, den er ihr bieten kann, wird nicht nur durch ihre vollständige Abhängigkeit erkauft, der Text deutet an, dass der einsame Mann vor dem Missbrauch des Mädchens nicht zurückschreckt. Der kleine Pierre, der zum Stehlen auf den Markt geschickt wird, um das spärliche Essen etwas aufzubessern, wird von einem Hund ins Bein gebissen. Aufgrund der fehlenden medizinischen Versorgung muss es nach wenigen Tagen amputiert werden. Maria  wird als Pflegekind in der Familie des niederländischen Konsuls aufgenommen. Das fehlende Verständnis für ihre Situation und die Erwartung von Dankbarkeit machen ihr das Leben in der neuen Umgebung unmöglich und sie flieht zurück zu den anderen Kindern. Die Unbekümmertheit und Hilflosigkeit ihrer Pflegeeltern steigert das Leid der Kinder, die vollkommen sich selbst überlassen sind. Erst als Aart verhaftet wird, kann sein Traum vom fruchtbaren Ackerland begraben werden. Für die Kinder bedeutet dies zugleich neue Entwicklungsmöglichkeiten. Hans, Sohn eines deutschen Dissidenten und schon früh daran gewöhnt, Verantwortung zu übernehmen, versorgt fortan die Familie durch Sprachunterricht und die nächtliche Arbeit in einem Club. Auch wenn er im Lauf des Romans seine eigene Naivität irritiert konstatiert, kämpft er darum, dass die Kinder ihre Würde nicht verlieren. Der Umzug in ein kleines Haus bringt etwas Wohlstand, aber keine Linderung der seelischen Traumata.

Dola de Jong schildert die Ereignisse in Tangar mal aus der Innenperspektive der Figuren, mal aus der Außenperspektive eines zurückhaltend kommentierenden, allwissenden Erzählers. Neben den Kindern und ihren Adoptiveltern wird immer wieder die Sicht von Außenstehenden eingebunden. So wird auch die Innenperspektive des niederländischen Konsuls und seiner Frau wiedergegeben, die sich aus Pflichtgefühl um die kleine Familie bemühen, ohne doch zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen beitragen zu können. Der Roman hält dabei in der Schwebe, ob dem Konsul tatsächlich die Hände gebunden sind, oder ob er phlegmatisch das Ende des Krieges abwartet.

Wie auch Ilse Aichinger in ihrem 1948 erschienenen Roman Die größere Hoffnung nutzt die Autorin Dola de Jong die Kinderperspektive, um anhand der an Krieg und Vertreibung unschuldigen Kinder die Auswirkungen der Politik auf die europäische und nordafrikanische Bevölkerung darzustellen. Anders als Ilse Aichinger, die die Grausamkeit der Realität durch einen magischen Realismus transzendiert und damit die Schrecken des Krieges durch den traumhaften Charakter der einzelnen Episoden eindrücklich erfahrbar macht, setzt Dola de Jong auf einen journalistisch-nüchternen Stil. Sie beschreibt die aussichtslose Situation der Figuren, lässt Hoffnung aufblitzen, ohne dass wirklich Hoffnung in Sicht wäre. Die Möglichkeit, wieder zur Herkunftsfamilie zurückkehren zu können, scheint ebenso wenig auf wie eine Erlösung aus der ausweglosen Situation in Tangar. Dass Lies zum zweiten Mal schwanger wird, deutet zwar eine Veränderung an, die aber keine Hoffnung auf eine Verbesserung der Lebenssituation der Kinder mit sich bringt. Wie ein Kind, das auf einem Bein hüpft, bis ihm schwindelig wird, dreht sich der Roman um sich selbst und das Schicksal der Kinder. Bis zuletzt hofft der Leser auf einen Silberstreif am Horizont. Ob Dola de Jong diesen in Zeiten des Krieges sieht, erfährt der Leser am Ende des Romans. 

Titelbild

Dola De Jong: Das Feld in der Fremde. Roman.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Anna Carstens.
Verlag Antje Kunstmann, München 2016.
272 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783956141232

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