Einzelfall-Arbeit

Oder: literarische Verfahren in medizinisch-psychologischen Fachtexten

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit alters her, insbesondere jedoch seit dem 18. Jahrhundert, erfinden Autoren Figuren, deren Verhalten im Abseits dessen liegt, was eine Mehrheit der Menschen als „Norm“ bezeichnen würde. Oftmals fiktionalisieren sie auch die eigene Biografie, wie jüngst der für den Deutschen Buchpreis nominierte Thomas Melle mit Die Welt im Rücken.

Ebenso seit jeher und ebenfalls in stärkerem Maße seit dem 18. Jahrhundert publizieren Ärzte, insbesondere Nervenärzte beziehungsweise in späterer Diktion Psychiater und Psychotherapeuten die Geschichten ihrer Patienten. Waren diese vor Sigmund Freud oftmals noch in Abhandlungen über bestimmte Symptomenkomplexe eingebettet – beliebt etwa als Einzelfalldarstellungen im Kontext der Erläuterung von Manie und/oder Melancholie – so erlangen sie spätestens mit Freuds berühmten Geschichten seiner Patienten (zum Beispiel Der Wolfsmann, Die Geschichte der Anna O.) Autonomie und werden somit auch außerhalb fachlicher Diskurse rezipiert. Neben der epistemologischen Funktionalisierung für den ursprünglichen Wissenschaftsbereich führen sie ein Eigenleben, das über die ursprüngliche Disziplin hinausgeht und ästhetische Wirksamkeit entfaltet.

Obwohl Fallgeschichten literarische Züge annehmen, dabei oftmals fiktionalisiert werden, hat die Literaturwissenschaft bislang wenig Interesse an ihnen gezeigt. Dieses Manko behebt Bianca Sukrow mit ihrer Dissertation, die zwar per se interdisziplinär orientiert ist, jedoch in erster Linie das Anliegen verfolgt, Fallgeschichten einer literaturwissenschaftlichen Analyse zu unterziehen. Wie schwer es ist, aus einem schier unüberschaubaren Korpus an Geschichten die geeignetsten herauszufiltern, verdeutlicht Sukrow in ihrer Einleitung. Mit „Körperbau: Darlegung des Korpus und der Gliederung“ bemüht sie zum ersten Mal eine Metapher aus dem medizinisch-physiologischen Bereich, die eine nicht ausschließlich wissenschaftliche, eher essayistische, nichtsdestoweniger höchst passende Annäherung an das facettenreiche Korpus zu akzentuieren scheint. Die Auswahl beruhe einerseits auf „harten“ Merkmalen (gelten für alle Texte), andererseits auf „weichen“ Merkmalen (beziehen sich nur auf Werke einzelner Untergruppen). Alle Werke seien veröffentlicht und mit wenigen Ausnahmen in den letzten 40 Jahren erschienen.

Ihre zu Beginn gesetzte Metaphorik fortführend, verdeutlicht Sukrow mit „Operationsbesteck: Vorbemerkungen zur Behandlung (nicht-)literarischer Texte“ nicht nur, welchen methodischen Weg sie in ihren Textanalysen beschritten hat, sondern auch, welche Probleme sich dabei für sie als Verfasserin aufgetan haben. Dabei liefert die Konzeption der Metapher als „Sinnesorgan“ eine ganz wesentliche Prämisse. Sie positioniere das Metaphorische, so die Verfasserin, im Affektiven und im Intellektuellen, das „dichterische Bild“ sei „eines der wirkmächtigsten literarischen Verfahren, das eine sofortige Reaktion bei den Rezipienten bewirke und in der Literaturwissenschaft den Interpretationsspielraum ausdehne“. Auch das Deuten von Texten könne nach dieser Auffassung nicht unmetaphorisch sein. Vor diesem Hintergrund sei es unabdingbar festzustellen, welche Parameter im jeweiligen Werk es ermöglichen, dass Rezipienten sich in die Handlung hineindenken, vielleicht sogar „mitfiebern“, sich mit den Figuren identifizieren. „Leser“, „Rezipienten“ und „Adressaten“ seien demzufolge immer eine Textinstanz, man könnte auch sagen ein impliziter Leser, eine Leserrolle, die der Autor mit der Hilfe seines Erzählers in den Text einschreibe. Das Spezifische der Fallgeschichte, dass nämlich der Autor meistens der behandelnde Therapeut sei, werde in der Dissertation insofern pragmatisch gelöst, als in der literaturwissenschaftlichen Perspektive auf Fallgeschichten dasselbe Vokabular verwendet werde wie bei der Analyse „genuin literarischer Texte“. Im Zuge der Deutung von Fallgeschichten sei ein besonderes Augenmerk auf die „Schönheitschirurgie“, „die sprachliche Glättung“ zu richten, denn eine Behandlung könne nicht im Wortlaut wiedergegeben werden. Dabei stehe zum einen die „Ausrichtung der Falldarstellung an Darstellungsstandards“ und zum anderen das „Auslassen der Begleitumstände einer therapeutischen Begegnung“ im Fokus. Der Glättungsgrad bedinge den Informationsgehalt der Texte.

Nach dem kurzen methodischen Abriss widmet sich Sukrow zunächst in „Persönlichkeitsentwicklung: Geschichte und Gesichter der Fallerzählung in Psychoanalyse und Psychiatrie“, ihrem ersten textanalytischen Hauptteil, begründet knapp den Fallnovellen Freuds, danach Hermann Argelanders Der Flieger. Eine charakteranalytische Fallstudie (1972) und Susann Heenen-Wolffs Die Reminiszenz in der Halluzination (2009). Bei Freud zeige sich bereits die Doppelrolle des Ichs als behandelndes und die Therapie miterlebendes Ich einerseits und als eigentlich erzählendes und mitunter den Fall direkt kommentierendes Ich andererseits. Argelander ergänze diese Dopplung mit einer gezielten Poetisierung seines Falles und unterstreiche damit, wie weit sich Fallerzählungen und literarische Erzählungen überschneiden. Einen Gegenpol dazu bildet Heenen-Wolffs Falldarstellung, die in erster Linie der Kommunikation unter Fachkollegen diene und mit Lehrbuchfällen vergleichbar sei. Diese jedoch seien, so konstatiert Sukrow im Abschnitt „Zustand kritisch: Wissenschaftshistorisches Intermezzo zur Überlebensfähigkeit der Fallerzählung“ in einem deutlichen Rückgang begriffen. Insbesondere in medizinisch-biologischer Fachliteratur sehe man die Idealtypisierung von Krankheiten als den Falldarstellungen überlegen an. (Somit kommt es hier zu einem anderen „Fall des Falles“.) Obwohl auch gegenläufige Bewegungen zu verzeichnen seien (Reintegration des Narrativen in einigen psychiatrischen Strömungen), dominiere in vielen psychiatrisch-psychotherapeutischen Bereichen die Validierung des Quantitativen.

Da die Fallgeschichte in einem solchen Umfeld nur eine unzureichende Wertschätzung erfahre, folge – so der Titel eines weiteren Abschnitts – „Die Flucht der Fallgeschichte in die (Populär-)Literatur“. Hier führt der Weg von Gerd Overbecks Der Koryphäenkiller (1997) über Irvin Yaloms Love’s Executioner (1989) hin zu Ernst Augustins Roman Raumlicht. Der Fall Evelyne B. (1976). Alle drei Werke unterzieht Sukrow einer sehr fundierten sowie detaillierten und gleichzeitig freien, keinem festen Schema folgenden Textanalyse. So entpuppt sich Der Koryphäenkiller als „system- und verhaltenskritische Unterhaltungsliteratur“, mit deren ironisch überzeichneten Charakteren eine „treffende und umfassende Satire auf das deutsche Gesundheitssystem und seine Protagonisten“ einhergehe. Irvin Yalom kann mit Fug und Recht als psychotherapeutisch-literarischer Vielschreiber bezeichnet werden, des Weiteren als Vertreter dessen, was er selbst als „existential psychotherapy“ bezeichnet. Seine von ihm selbst als „wahr“ klassifizierten Fallgeschichten erscheinen als literarische Texte. Damit ist jedoch kein Wirkungsverlust verbunden, wie Sukrows hervorragende Analyse der Geschichte Therapeutic Monogamy (aus Love’s Executioner) zeigt. Trotz einiger Abweichungen von bestimmten therapeutischen „Grundgesetzen“ glaube Yalom an die Wirksamkeit der Psychoanalyse. In Raumlicht hingegen liegt laut Sukrow die Abkehr von psychoanalytisch-psychiatrischen Mainstream-Verfahren vor. Antipsychiatrische Inhalte und intertextuelle Bezüge zu den Schriften Ronald Laings bilden für den Erzähler die Grundlage für das Überschreiten der „Dichotomie aus Wahnsinn und Gesundheit“. Augustin „hält für seine Figuren ein ‚poetisches Drittes‘ bereit, einen neuen Nexus, einen autopoetischen Raum, in den der Erzähler sich und Evelyne […] hineinerzählen kann“ – so die Schlussfolgerung am Ende einer abermals überzeugenden Textanalyse.

Der zweite Hauptteil, „Patient Gehirn: Die Fallgeschichte in den Neurowissenschaften“, dringt in einen Bereich vor, der die Fallgeschichte nicht als Teil der Forschung begreift, sondern diese als tendenziell privates Hobby ihrer Verfasser definiert. Allerdings biete sich hier, so verdeutlicht Sukrow, den Neurowissenschaftler Antonio R. Damasio zitierend, die Möglichkeit Neurobiologie und Kultur zu verknüpfen. Damasio selbst erzählt die berühmte Geschichte des Eisenbahners Phineas Gage, die mehr als andere „implizit die Relevanz neurowissenschaftlicher Erkenntnisse für unser aller Erfahrungswirklichkeit untermauert“. In den Neurowissenschaften nehme die Fallgeschichte in erster Linie pragmatische Züge an, diene der „öffentlichkeitswirksamen Positionierung des eigenen Fachs“. Sukrow belegt diese These, indem sie nachzeichnet, wie Oliver Sacks mit seiner Fallgeschichtensammlung Awakenings (1973) sehr publikumsaffin mediale Grenzen überschreitet.

Vor der eigentlichen Analyse einiger Fallgeschichten hält Sukrow bei dem Konzept der „Romantischen Wissenschaft“ inne, dem sowohl Oliver Sacks als auch Alexander Lurija, Korrespondenzpartner von Sacks und einer der Begründer der Neuropsychologie in der Sowjetunion, verpflichtet seien. Daraus ergebe sich eine „neue Diskursform“, diese sei „zwischen den Artikulationsgepflogenheiten positivistischer Neurowissenschaft und denen ganzheitlicher Individualpsychologie“ angesiedelt. So könne, da sei Lurija sehr enthusiastisch, die Dualität von Gehirn und Geist überwunden werden. Ein vergleichsweise kurzer Blick auf zwei von Lurijas neuropsychologischen Porträts, Der Mann, dessen Welt in Scherben ging und Kleines Porträt eines großen Gedächtnisses (deutsch 1991), konturiert zwei Charaktere mit diametral entgegengesetzter Symptomatik – Gedächtnisverlust einerseits und außergewöhnliche Gedächtniskunst andererseits. Da beide Protagonisten nicht in der Lage seien ihre Lebensgeschichte in einer „kohärenten Narrative“ wiederzugeben, bedürfe es eines ordnenden Erzählers, der diese Aufgabe übernehme. So entstehe eine ausgeprägte Diskrepanz zwischen dem Bemühen um Sprache auf der Seite der Protagonisten und der kompakten Erzählung, die der Erzähler aus dem Material zusammenfüge. Während hier – so könnte man folgern – das Subjekt hinter dem ordnenden Zugriff des Erzählers verschwindet, ist es Oliver Sacks ein Anliegen die Autonomie des Subjekts trotz aller postmodernen Unkenrufe hervorzuheben. Sukrow würdigt die Erzählung The Autist Artist (aus The Man Who Mistook his Wife For a Hat, 1985) und die eigenständig veröffentlichte, „romanlange Falldarstellung“ A Leg to Stand On (1984). Sehr schlüssig belegt sie anhand von Textstellen aus The Autist Artist, dass sich Sacks Verfahren und Bilder zu eigen macht, die seinen Lesern aus Detektivgeschichten bekannt sein dürften: in erster Linie „den Rätsel- und Spielcharakter sowie die dominante Rolle des ermittelnden Detektivs“, der mit dem Arzt identisch sei und keine Gegenspieler dulde. Damit rücke der Behandler und nicht der Behandelnde in den Fokus, so dass Sacks seinen eigenen Anspruch „den Patienten als Individuum in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen“ konterkariere. Wie die Identität von Arzt und Patient thematisiert werden kann, lässt sich in A Leg to Stand On verfolgen, dessen erster Teil, The Mountain, als Novelle gelesen werden kann. Mit der Fiktionalisierung eines Sturzes in einsamer Bergwelt und dessen Konsequenzen präsentiert Sacks eine Torpedierung des erlebenden Ichs in eine Vielzahl von unterschiedlichen Stimmen, die letztendlich vom erzählenden Ich aufgefangen werden. Die Rettung des handelnden Subjekts entspricht jedoch nicht der Rettung des behandelten Subjekts, denn dieses leidet so an den Auswirkungen des Unfalls (verletztes Bein, Entfremdung davon) und seiner Reifizierung im Krankenhaus, dass die Verbindung zwischen dem erlebenden Ich und einem Teil desselben, dem Bein, erst dann wieder aufgenommen werden kann, als ein Orthopäde ihm auf Augenhöhe begegnet. Sacks entlehne nun, was Sukrow erneut überzeugend im Detail beweist, Wirkungsmechanismen aus dem Genre der Gruselgeschichte. Simultan dazu reichere er seinen Text mit Erkenntnissen an, die ihm für eine Umorientierung der Neuropsychologie am Herzen lägen. In der Fachsprache offenbare sich eine Lücke, die die Trennung von Körper und Geist hinterlasse, diese fülle der Patient mit metaphorischer und/oder narrativer Sprache, die es vermöge „bisher unbeschriebene Wahrnehmungsphänomene“, wie bei Sacks selbst die „Empfindung, ein Körperteil gehöre nicht zu einem“, zu benennen. Die Abundanz von Sprachbildern, das unablässige Auffinden von Synonymen in der Narration bedeute Erkenntnisgewinn. Hier offenbaren sich „wirkmächtige Vermittlungsverfahren“, so Sukrow, „die der fachsprachlichen Definition und der hiermit verbundenen Reduktion vorausgehen müssen“.

Eine Sonderstellung im neurowissenschaftlichen Umfeld nehmen Vilayanur S. Ramachandrans Phantoms in the Brain (1999) ein, die der Neurowissenschaftler gemeinsam mit der Wissenschaftsjournalistin Sandra Blakeslee veröffentlichte. Die Sammlung der erfahrungsbasierten Geschichten fußt auf der Identität des Erzählers mit Ramachandran. Im Zentrum der einzelnen Geschichten stehe nicht ein individuelles Patientenschicksal, sondern vielmehr ein neurologisches Phänomen, das den Lesern auf narrativer Ebene mit einer Collagenstruktur und häufigem Wechsel der Erzählhaltung nahegebracht werde.

Während die ersten beiden Teile ausnahmslos Analysen von Geschichten enthalten, die aus der Perspektive eines Therapeuten verfasst sind, verlagert sich das Interesse der Verfasserin im dritten Teil („Im Spiegel der Seele: Die verrückte Selbstdarstellung“) auf sogenannte „Betroffenheits- bzw. Verständigungsliteratur“, deren literarische Qualität immer auf dem Prüfstand stehe. Angesichts des Vorwurfs der Trivialität bewahrt Sukrow eine erfrischend lakonische Haltung und antizipiert dazu, dass ihre Auswahl autobiografischer Falldarstellung in narrativer Hinsicht sehr facettenreich und oftmals unkonventionell sei. Mit Tief im Hirn (2006) zeichnet Helmut Dubiel, Professor der Soziologie, den Verlauf seiner Parkinson-Erkrankung nach. Im Zuge einer sachlich orientierten und nahezu die Qualitäten eines medizinischen Fachtextes aufweisenden Einleitung erstarke das erzählende Ich auf eine Weise, die auf der Seite der Leser die Entwicklung der Empathie störe. Der Verlauf der destruktiven Krankheit, so legt Dubiel über das reflektierende erzählende Ich seinen Lesern nahe, lässt sich nur selbst erleben, jedoch nicht Unbeteiligten vermitteln. Tief im Hirn unterlaufe damit die Erwartungen der Leser an autobiografische Fallgeschichten.

Anders sieht es bei der in den 1970er Jahren entstandenen und damals wie heute sehr populären „Verständigungsliteratur“ aus. Sie verfolgt das Ziel „über die reine Lektüre hinaus die Kommunikation zwischen Betroffenen, Angehörigen und Institutionenvertretern“ über den Inhalt der Texte anzukurbeln. Erstes Ziel ist die Mitbetroffenheit der Leser, was Sukrow mit den Analysen von Kündigungen des damals noch unbekannten Peter Sloterdijk, Niemandsmensch von Natascha Wdowin und Ein Tag von allen von Dwascha Wiechowski beweist (alle aus dem unter anderen von Kurt Kreiler herausgegebenen Sammelband In irrer Gesellschaft. Verständigungstexte über Psychotherapie und Psychiatrie, 1980). Die in Niemandsmensch und insbesondere Ein Tag von allen zu verfolgenden textuellen Verfahren unterstreichen, dass das Schreiben nicht nur als Versuch der Strukturierung von Lebenswelt und als Appell zur Verständigung über einen psychopathologischen Zustand zu verstehen ist, sondern gleichermaßen nicht referentielle Züge annimmt. Viele Texte aus dem Sammelband seien „vielschichtige, durchkomponierte Konstrukte, in denen Irritationsmomente, Perspektivverschiebungen und autopoetische Elemente nicht ausschließlich der Provokation einer Verständigung über den Text hinaus“ dienten.

Ähnliches gilt für Der Hunger nach Wahnsinn (1977) von Maria Erlenberger, in der die Verfasserin, deren Pseudonym niemals gelüftet wurde, von der Behandlung ihrer Anorexie in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt berichtet. Intensiv medial präsent sind jedoch nicht nur Essstörungen in ihren vielfältigen Facetten, sondern ebenso dissoziative Identitätsstörungen und Autismus. So ist es nur konsequent, dass spannende und facettenreiche Untersuchungen zu Cameron Wests First Person Plural (1999) und Axel Brauns Buntschatten und Fledermäuse (2002) Sukrows Dissertation abrunden. Beide Texte kommen als Erfahrungsberichte daher und beanspruchen unbedingte Authentizität. Während jedoch die Erzählweise in First Person Plural konventionellen Mustern folge, mit denen die Differenz zwischen Erzählen und Erleben zwar eklatant hervortrete, das erzählende Ich aber, obwohl Cameron West selbst Mediziner sei, keine Fachinformationen verbreite, funktioniere Buntschatten und Fledermäuse zum einen auf der Grundlage impliziter Mechanismen der Lesersteuerung und transzendiere zum anderen mit diversen lyrischen Textverfahren die Großgattung Epik. Außerdem gebe der Erzähler eine kurze Einführung in das Thema Autismus und biete sich als Mittler zwischen autistischer und nicht-autistischer Welt an.

In ihrem Rückblick betont Sukrow, dass es einerseits Ziel ihres Dissertationsprojektes gewesen sei „das Forschungsfeld zumindest grob zu kartieren“ und andererseits „Schneisen in das zum Teil undurchdringlich wirkende Materialdickicht“ zu schlagen. Es stimmt durchaus, dass mit der vorliegenden Arbeit eine gewisse Klarheit und Systematik in einem Bereich, der sich nur schwer strukturieren lässt, geschaffen worden ist. Dass er sich vermutlich auch anders strukturieren ließe, ist sekundär. Viel wichtiger ist demgegenüber, dass man ein stärkeres Bewusstsein für die Vorläufigkeit der Ergebnisse und für die Tatsache, dass auch andere als die hier präsentierten Ordnungsschemata herangezogen werden können, hätte artikuliert finden dürfen. Sukrow liefert schlüssige Begründungen für die Auswahl ihres Textkorpus, diese hätten jedoch genauer und ausführlicher direkt in der Einleitung erfolgen können. Obgleich in manchen Fußnoten erwähnt wird, warum der eine und nicht ein anderer Text zum Objekt der Analyse wurde, hätte man sich gewünscht, dass moderne „Fall-Klassiker“ wie etwa Marie Cardinals Les mots pour le dire (Schattenmund, 1976) oder Dörte von Drigaliskis Blumen auf Granit (1980), die eine Schriftstellerin, die andere Psychoanalytikerin, mit in die Darstellung einbezogen beziehungsweise ihnen zumindest kursorisch Aufmerksamkeit in einer Fußnote gezollt worden wäre. Ähnliches gilt für die Romane des israelischen Psychoanalytikers Noam Shpancer, vor allem The good psychologist (2010).

Der Fall des Falles lädt den Leser zu narratologischen Spaziergängen durch diverse Fallgeschichten ein“, so der Klappentext, und „nicht genuin literarische Fallgeschichten mit literaturwissenschaftlichen Methoden zu untersuchen“, habe sich dabei als gewinnbringender Ansatz herauskristallisiert. Sieht man ganz grundsätzlich davon ab, dass in diesem Kontext die Gretchenfrage nach dem Charakteristikum „genuin literarisch“ aufscheint, so lässt sich zusammenfassen, dass hier die Stärke der Arbeit liegt. Sukrow brilliert mit „induktiven Einzelanalysen“, die strukturelle Aspekte in ihrer Verschränkung mit narrativen, stilistischen und semantischen Besonderheiten, so in der Einleitung nachzulesen, detailliert darstellt. Dies gelingt ihr gleichzeitig mit synthetischem Zugriff und so, dass ihre Texte nicht selten packend zu lesen sind. Die a priori interdisziplinären Einzelanalysen illustrieren zudem, wie variabel an sich gesichertes medizinisch-psychologisches Fachwissen sein kann. Sicher ist, und dabei ist der Verfasserin voll zuzustimmen, dass „die Literarizität […] der Erkenntnisvermittlung nicht entgegen“ steht, sondern sie nicht selten bedingt.

Alles in allem hat Bianca Sukrow eine hervorragende Dissertation vorgelegt. Ihr ist ein breites Publikum zu wünschen, das sich dazu inspirieren lässt die analysierten Werke zu lesen und die hier erzielten Ergebnisse weiterzudenken.

Titelbild

Bianca Sukrow: Der Fall des Falles. Literarische Phänomene in psychiatrischen, neurowissenschaftlichen und autobiografischen Fallgeschichten.
Georg Olms Verlag, Hildesheim 2015.
372 Seiten, 54,00 EUR.
ISBN-13: 9783487153780

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