Lesen als Verwandlungsrausch

„Sich verlieben hilft“: Der Schriftsteller David Wagner hat seine Lektüren aufgeschrieben

Von David BrehmRSS-Newsfeed neuer Artikel von David Brehm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Jugendlicher – so erinnert sich David Wagner im Eröffnungstext dieses Essaybändchens – habe er noch minutiös Protokoll darüber geführt, was er las: „Ich hatte das völlig vergessen“, schreibt Wagner, „bis ich, nach einem Umzug, in einem Karton ein Heftchen fand, in dem ich meine Lektüren der Jahre 1987 bis 1990 notiert hatte. ‚Bibliothek von Babel‘ hatte ich das Heftchen betitelt, Jorge Luis Borges tauchte dann auch mehrfach auf“: „Ich führte Buch über die Bücher“. Der Band Sich verlieben hilft, in dem Wagner nun seine Lektüren der letzten Jahre vor uns aufblättert, ist so etwas wie die Fortsetzung dieser ‚Buchführung‘ mit anderen, freieren, beschwingteren Mitteln.

In fünfzehn kurzen Texten, die zum größten Teil zunächst als „Literaturkolumne“ im Merkur erschienen sind, und die der Berliner Verbrecher Verlag nun in hinreißendes, knallrotes Leinen gebunden hat, porträtiert sich der Romanautor Wagner (Vier Äpfel, 2009; Leben, 2013) als manischer und ungemein begeisterungsfähiger Leser. Wagner streift von Text zu Text wie ein Flaneur durch die Großstadt, assoziativ und regellos, ohne Leitfaden und System, ausgestattet mit einem flüchtigen und doch detailverliebten Blick. Von Roberto Bolaño und Erich Mühsam treibt es ihn zu Adalbert Stifter, von Teju Cole und Emmanuel Carrère zu den unvermeidlichen großen US-Serien der Gegenwart wie Mad Men und The Sopranos – und von dort ganz rasch wieder zurück in die Literatur.

Die meisten dieser Leseszenen sind impressionistische Skizzen. Nie behandelt Wagner literarische Texte als Abstraktum, keine Lektüre spielt sich im luftleeren Raum ab. Der Eindruck, den ein Text bei Wagner hinterlässt, ist vielmehr stets an einen bestimmten Ort, an die konkrete Materialität des jeweiligen Lesemediums und auch schlicht an die Tagesstimmung des Lesers gebunden. Manchmal ist gar nicht auszumachen, ob der Enthusiasmus des Lesers Wagner sich tatsächlich an der Brillanz eines Textes entzündet oder nicht vielmehr an der Schönheit des Ortes, an dem er in ihn eintaucht.

Il n’y a pas de hors-texte, es gibt kein Außerhalb des Textes, lautete einst ein Credo des Poststrukturalismus. Für Wagner ist das ein Glücksversprechen: „Lesen, Lesen, Lesen durch den Tag, durch die Nacht und weiter, die Liebe kennt kein Maß“ – und was keine Literatur ist, wird kurzerhand dazu erklärt. Unter Wagners Augen verwandelt sich selbst der Sportteil des Guardian oder ein Londoner Stadtplan unversehens in einen Roman: „Ich laufe durch Stepney, Stoke Newington, Dalston, Bow und Highbury […], ich verfalle der Poetik der Ortsnamen, […] ich spaziere und verlaufe mich, aber das ist Methode, ich versuche, mich zu verlaufen, und verliebe mich in den hier und da bröckelnden Beton des britischen Brutalismus“. Umherstreifen, sich verirren, dem unendlichen Text verfallen: Damit ist Wagners emphatisches Leseverfahren auf den Punkt gebracht. Lesen als Erfahrung einer Überwältigung, die Raum und Zeit für Augenblicke dergestalt transzendiert, dass Textwelt und Lebenswelt, Reales und Imaginäres einander unauflöslich durchdringen: Dies – und nichts Geringeres – ist das Erlebnis, das Wagner in der Literatur sucht. Der große, lustvolle Leser Roland Barthes, dem das titelgebende Schlusskapitel des Bandes gewidmet ist, fungiert als Gewährsmann für diesen Anspruch: „Barthes sagt, zu lesen bedeute […], im Text aufzugehen, sich aufzulösen. Er versteht den Leseakt als Hingabe, Überschreitung, ja als Metamorphose.“

Immer wieder beschwört Wagner diesen Augenblick: Ich lese – und plötzlich stehe ich selbst mitten im Erzählten. Auf der Insel Elba durchpflügt Wagner in einem „tiefen, schweren Lektürerausch“ den Grafen von Monte Christo und kommt sich dabei selbst vor „wie in einem Roman des 19. Jahrhunderts.“ Dann liest er sich „im ‚Goldenen Esel‘ des Apuleius von Madaura fest“, um „mit dem in einen Esel verwandelten Ich-Erzähler“ durch Thessalien zu wandern, und wird, „Metamorphosen des Lesens, selbst zu diesem Esel“.

Die stetige Wiederholung dieser Denkfigur wirkt leider bisweilen redundant. Irgendwann verliert so die Erregung, mit der der Autor beispielsweise schildert, wie ihn Raija Siekkinens Erzählungen „nach Finnland“ „transportieren“, obwohl er sich doch gerade im „sehr unfinnischen Venedig“ befindet, oder wie sich beim Anschauen seiner liebsten HBO-Serien das Gefühl einstellt, er sei „in Amerika, in New Jersey und in Los Angeles – obwohl ich doch in meinem Bett in Berlin lag“, ein wenig von ihrem Charme.

Dass man Sich verlieben hilft trotz solcher Redundanzen mit großem Vergnügen liest, liegt vor allem daran, dass Wagner (ungeachtet des ungeheuren Anspruchs, den er an seine Lektüren stellt) alles andere als mit heiligem Ernst verfährt. Seine Texte zeichnen sich vielmehr durch eine angenehme Pathosabstinenz, einen äußerst munteren Stil und eine diebische Entdeckungsfreude aus, die darin besteht, selbst im Altbekannten – gut romantisch – das Aufregende, Neue, Unbekannte ausfindig zu machen. Wagner hat ein ausgesprochenes Talent zum Schwärmen. Rasch ist man deshalb selbst ein bisschen verliebt in dieses Bändchen – und liest es wie im Flug. Dann schlägt man es zu. Und liest weiter. Und verliebt sich neu.

Titelbild

David Wagner: Sich verlieben hilft. Über Bücher und Serien.
Verbrecher Verlag, Berlin 2016.
145 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783957321572

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