Stimmen, die um Artikulation ringen

Zur Neuauflage der Hörbuch-Edition der „Ästhetik des Widerstands“

Von Michael HofmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Hofmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fünfundzwanzig Jahre nach Abschluss der „Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss luden Karl Bruckmaier (Regie) und Herbert Kapfer (Dramaturgie) Radiohörer und Hörbuch-Liebhaber ein, den Roman „auf der Grundlage einer politisch und kulturell fundamental veränderten Weltkarte“ wieder zu besichtigen, genauer gesagt: wieder zu erhören. Die anspruchsvolle Hörbuch-Edition erregte zu Recht großes Aufsehen und gewann den Deutschen Hörbuchpreis 2008.

Die Hörspiel-Inszenierung, die mehr als zehn Stunden konzentrierter Beschäftigung mit einem schwierigen Text ermöglicht und auf der akribischen Arbeit vor allem des Regisseurs Karl Bruckmaier basiert, war nicht Ausdruck eines modischen Zeitgeistes, sondern verdankte sich der Energie und dem Engagement Einzelner. Der Bayerische und der Westdeutsche Rundfunk flankierten damals das Projekt des Hörbuchs „Die Ästhetik des Widerstands“ mit einer ganzen Reihe von Sendungen. Trotzdem blieb es 2007 vermutlich ein begrenzter Kreis von Interessenten, der sich der nicht unerheblichen Mühe unterzog und sich der Herausforderung dieser neuen Auseinandersetzung mit dem Text stellte. Oder hat sie die überraschende Weiss-Renaissance rund um den 100. Geburtstag mit vorbereitet?

Für Weiss-Forscher ist es von großem Interesse, die Voraussetzungen dieses neuen und durchaus eindrucksvollen Umgangs mit dem Text des Romans zu reflektieren und die Wandlungen der Aufnahmebedingungen von Weiss‘ Werk zur Kenntnis zu nehmen. Dabei ist zunächst zu betonen, dass ganz im Sinne der Rezeptionsästhetik von einer Veränderung des Horizonts der Leserinnen und Leser des Romans auszugehen ist, die aber im Sinne der Formel „neue Fragen an alte Texte“ überraschend fruchtbare Konstellationen eröffnet. Im Booklet zum Hörbuch verweist der Dramaturg Herbert Kapfer, der das Projekt maßgeblich betreut hat, darauf, dass sich die Situation des beginnenden 21. Jahrhunderts dahingehend geändert habe, dass der vermeintlich siegreiche Kapitalismus in der Form der Globalisierung den Weltlauf zu bestimmen scheint und dass die Ansprüche auf Selbstbestimmung und Menschlichkeit sich dezentral und polyphon artikulieren, ohne sich einer „großen Erzählung“ wie derjenigen vom Kommunismus unterordnen zu lassen: „Der Zusammenbruch des Ostblocks, das Scheitern des ‚realsozialistischen‘ zweiten deutschen Staates, die Identitätssuche der politischen Linken in einer postmodernen Welt, die Mediatisierung und der Siegeszug des Neoliberalismus markieren die veränderten Voraussetzungen für eine Diskussion über den möglichen Stellenwert der ‚Ästhetik des Widerstands‘.“

Vor diesem Hintergrund hören wir die Stimmen des Romans noch einmal – und jetzt als real tönende Stimmen. Noch einmal können wir die Stimmen der Untergegangenen, Gescheiterten und Enttäuschten hören – aber auch die Stimme der trotzigen Hoffnung, die angesichts des Scheiterns aller politischen und ästhetischen Konzepte nach dem fragt, was in allen Kämpfen und Reflexionen das war, worum es eigentlich ging; das, was das Anliegen der politischen wie der ästhetischen Befreiungsversuche war. Und es war eine geniale Idee, aus der „Ästhetik des Widerstands“ ein Hörbuch zu machen – nicht eigentlich ein Hörspiel, sondern eine Lesung mit verteilten Rollen, die durch sparsam eingesetzte Geräusche ergänzt wird: durch ein „Geräuschdesign, das mit den Steinen am Altar von Pergamon beginnt, sich ganz archaisch durch die akustische Repräsentation der vier Elemente Stein/Erde, Wasser, Feuer und Luft bewegt und sich schließlich im Hinrichtungsraum von Plötzensee findet, wo man den Regen fallen hört, während das Mikrophon an der Wand schabt, um ihr ein Geräusch, eine akustische Zeugenschaft zu entlocken“, so Karl Bruckmaier im Booklet.

Es sind Stimmen, nicht fertige Bilder, die den Diskurs des Romans bestimmen; und die den Roman kennzeichnenden, beherrschenden Bilder – die Bilder der Vorstellung, der Kunst, der Todesangst, der Trauer, des Wahns – werden durch die Gewalt der Sprache evoziert, weshalb die Hörfassung dem Roman viel eher entspricht als eine mögliche Verfilmung, die zumindest im Falle der Werke aus der bildenden Kunst eine Vereindeutigung der visuellen Bilder bewirken würde. Indem wir uns als Hörer der Evokationskraft der Sprache anvertrauen, folgen wir der Kraft des gesprochenen Wortes, das uns der Roman vermittelt hat – und so erscheint die hier geschaffene Umsetzung des Romans als eine geglückte intermediale Bearbeitung.

Zu loben ist das Konzept des Regisseurs, der den Text – trotz eines konsequenten Respekts vor der Leistung des Autors – energischen Streichungen unterzogen und den gesamten Roman in (mit einer Ausnahme eines etwas kürzeren Abschnittes) zwölf jeweils gut fünfzig Minuten lange Sequenzen aufgeteilt hat, die sich um ein Thema oder ein Bild (zum Beispiel: „Der Altar“, „Guernica“, „Der Auftrag“, „Plötzensee“) gruppieren. Der wichtigste Eingriff, den sich der Regisseur gegenüber der Textvorlage erlaubt hat, liegt in der Idee, „den scheinbaren ideologischen Monolithen aufzubrechen durch eine Aufspaltung des erzählendes Ichs in ein ‚zeitgenössisches‘ und in ein schreibendes, reflektierendes Ich, deren Zweieinigkeit es ermöglicht, den Text aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten“. Die selbstreflektorischen Potentiale des Romantextes werden durch diesen Kunstgriff aufgenommen und intensiviert, und es steht ein junges Ich neben einem älteren, was die Komplexität und Lebendigkeit des Textes erhöht.

Zu loben sind in diesem Zusammenhang auch die Sprecher, vor allem die beiden Erzähler Robert Stadlober und Peter Fricke, aber auch Rüdiger Vogler, der den Vater des Ich-Erzählers spricht, und die anderen, die unter anderem Hans Coppi, Heilmann, Ayschmann, Marcauer und Lotte Bischoff ihre Stimme leihen. Gegenüber dem Romantext unterstreichen die gesprochenen Texte des Hörbuchs die existentielle Dimension des Romans – denn es zeigt sich, dass die umfangreichen und oft quälenden politischen und ästhetischen Diskussionen des Textes mit den Menschen zu tun haben, die von ihnen beherrscht werden. Dass buchstäblich Stimmen um Artikulation ringen, sich nicht nur „Leiber aus dem Stein hoben“, sondern Stimmen nach einem Ausdruck suchen und eigentlich diese Suche nach Artikulation und Ausdruck in einer Welt der Gleichmachung und Homogenisierung das Grundthema der „Ästhetik des Widerstands“ ist.

Indem der Hörtext diese existentielle Dimension von Peter Weiss‘ Romanprojekt hervorhebt, befreit er den Roman auch aus der historisierenden Sterilität mancher literaturwissenschaftlicher Bemühung. Jenseits einer allzu simplen Aktualisierung politischer Anliegen und Neudefinition linker Feindbilder erinnert das Hörbuch im Stimmengewirr der medialen Überversorgung daran, was es bedeutet, sich in der Vielfalt der Sinnangebote und Seinsmodelle so zu orientieren, dass Selbstbestimmung und Respektierung der Anderen nicht als Widerspruch erscheint, und wie eine Orientierung an ästhetischen und politischen Traditionen möglich ist, ohne das Ideal einer rückhaltlosen Zeitgenossenschaft aufzugeben.

Die Wiederveröffentlichung der Hörbuch-Edition von 2007 kostet nur noch die Hälfte der Erstausgabe. Dafür ist die Ausstattung auch sparsamer ausgefallen als bei der früheren Publikation (der literaturwissenschaftliche Beitrag im Booklet aus der Feder von Arnd Beise entfiel ebenso wie viele Porträts der Mitwirkenden, ein Bild zum historischen Hintergrund und die Zeittafel zu Leben und Werk von Peter Weiss). Statt in einer Box für 12 CDs finden wir die 2 mp3-CDs in einem schmalen Klappcover. Die „Biographien der Mitwirkenden“ wurden aktualisiert.

Titelbild

Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands.
Der Hörverlag, München 2016.
2 CDs (10h 30 min), 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783844523379

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