Jüdische Erinnerung bei Peter Weiss?

Eine Untersuchung über die Stellung der „Ermittlung“ in der Erinnerungsgeschichte des Holocausts

Von Melanie RaemyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Melanie Raemy

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Peter Weiss‘ Drama „Die Ermittlung“ spielt in der Erinnerungsgeschichte des Holocausts eine bedeutende Rolle, trotz der Tatsache, dass darin nicht der Judeozid im Zentrum steht, sondern die Darstellung eines „universalen menschlichen Problems“, nämlich die (kapitalistische) Ausbeutung des Menschen durch den Menschen.

Midori Takata beschäftigt sich in ihrer an der Freien Universität Berlin entstandenen Dissertation mit der Frage nach der Rolle, welche „Die Ermittlung“ in der Erinnerungsgeschichte des Holocausts spielt. Laut Takata unterscheidet sich „Die Ermittlung“ von den anderen in den 1960er Jahren entstandenen literarischen Werken über den Holocaust darin, dass sich Weiss auf der Basis von historischen Dokumenten mit Ursachen und Verlauf des Holocausts auseinandersetzte. Um die wichtige Rolle der „Ermittlung“ in der Erinnerungsgeschichte des Holocausts offenzulegen, führt Takata anhand von Beispielen vor, wie das Stück besonders in den Jahren nach der Uraufführung 1965 und dann noch einmal nach der sogenannten Wiedervereinigung 1989 rezipiert, diskutiert und inszeniert wurde. In diesem Zusammenhang unterstreicht sie, dass die universalistischen Deutungen des Holocaust in den 1990er Jahren mehr und mehr an Bedeutung gewannen – parallel zum transnationalen Interesse an der Inszenierung von Weiss‘ Werken 21. Jahrhundert.

In einem weiteren Teil ihrer Dissertation widmet sich Takata dem Spannungsfeld zwischen Weiss‘ Einstellung zum Judentum und seiner politischen Einstellung. „Die Ermittlung“ wurde aufgrund ihrer Kapitalismus-Kritik und Weiss‘ Bekenntnisses zu den „Richtlinien des Sozialismus“ in den „10 Arbeitspunkte eines Autors in der geteilten Welt“ (1965) häufig als prosozialistische Propaganda wahrgenommen.

In diesem Zusammenhang wurde in den 1980er Jahren vor allem der Verzicht auf das Wort „Jude“ in der „Ermittlung“ zum Teil sehr scharf kritisiert. Weiss wurde aber schon vorher vorgeworfen, dass er Auschwitz nicht als jüdisches Thema definiere, wie aus der folgenden Kritik in der Hannoveraner Zeitung „Deutsche Nachrichten“, die auch Takata zitiert, hervorgeht: „Die Ehrfurcht vor den toten Opfern sollte davor bewahren, die Auschwitz-Opfer dadurch zu schmähen, daß man ihr Leid und ihr Elend für die SED-Propaganda missbraucht. Wer das tut, treibt literarische Leichenfledderei.“

Aufgrund ihrer Analyse von Weiss‘ Notizbüchern untergliedert Takata Weiss‘ Beschäftigung mit dem Judentum in vier Phasen: erstens in die des „Divina-Commedia-Projekts“, zweitens in die der Beschäftigung mit der sogenannten Dritten Welt, drittens in die der Erarbeitung von „Trotzki im Exil“ und viertens in die der Ausarbeitung der „Ästhetik des Widerstands“. Das jüdische Erbe und die jüdischen Wurzeln spielten in allen Phasen außer in der ‚Kolonialismus-Phase‘ (als der „Lusitanische Popanz“ und der „Viet Nam Diskurs“ entstanden) eine nicht unwichtige Rolle.

Damit widerlegt Takata den Vorwurf, Weiss habe kein Interesse am Opfergang der Juden gezeigt. Takata zitiert aus dem handschriftlichen Notizbuch 7 (seit 2006 digital zugänglich, 2012 in zweiter, verbesserter und erweiterter Ausgabe erschienen) wichtige Belege dafür, dass Weiss schon „Die Ermittlung“ auch im Andenken an seine ermordeten jüdischen Freunde und unter dem Eindruck seines Schuldgefühls als Überlebender entworfen habe. Mit dieser Analyse liefert sie einen besonders wertvollen Beitrag zur Weiss-Forschung.

Eine weitere Leistung von Takatas Dissertation ist die Entwicklung des Begriffs der Antithetik, mit dem sie die häufig missverstandene Problematik der Austauschbarkeit von Tätern und Opfern in Weiss‘ Werken klärt. Diese Austauschbarkeit wurde oft im Zusammenhang mit Weiss‘ Behauptung betrachtet, dass er selber auf beiden Seiten – auf der Seite der Täter wie auch der Opfer – hätte stehen können. Takatas Analyse der Notizbücher legt jedoch offen, dass Weiss nicht etwa eine generelle Austauschbarkeit zwischen Täter und Opfer im Auge hatte – wie anlässlich einiger späteren Inszenierungen behauptet wird – sondern vielmehr eine „Antithetik“ von Tätern und Opfern: Damit ist gemeint, dass unter Umständen auch Juden auf der Seite der Täter stehen konnten; aber nicht, dass Jede oder Jeder auf beiden Seiten hätte stehen können. Damit würde man nämlich übersehen, dass die tatsächlichen Opfer keine Wahl hatten.

Der letzte Teil der Dissertation schließlich nimmt das Verhältnis von Sprache und Bildern ins Visier. Anhand der folgenden Text-Passage aus dem Roman „Die Ästhetik des Widerstands“ meint Takata zeigen zu können, wie Weiss durch die Beschreibung von Géricaults „Floß der Medusa“ sowie der Erwähnung von Dantes Ugolino dabei historische Katastrophen wie den Spanischen Bürgerkrieg oder die Verfolgung durch die Nationalsozialisten darstelle:

In dem Herausgerißensein aus allen Zusammenhängen erkannte der Maler seine eigene Situation wieder. Er versuchte, sich vorzustellen, wie dies war, das Hineinschlagen der Zähne in den Hals, den Schenkel eines verendeten Menschen, und während er den Biß des Ugolinos in das Fleisch seiner Söhne zeichnete, lernte er, sich damit abzufinden, so wie sie es auf dem Floß, nach einem Stoßgebet, getan hatten.

Weiss machte in dieser Textstelle weniger auf die Verfolgung Anderer durch die Nationalsozialisten aufmerksam, sondern vor allem auf das „Sich-Abfinden mit dem Grauen“; eine wichtige Thematik, die auch in der „Ermittlung“ behandelt wird.

Die Aussage der Zeugin 5 im „Gesang vom Lager“ verdeutlicht in der „Ermittlung“, wie es überhaupt möglich war, dass sich ganz normale Menschen Schritt für Schritt abstumpfend und an den Zivilisationsbruch und die völlige Verkehrung aller Werte gewöhnten.

Die Dissertation führt die Bedeutung der „Ermittlung“ in der Erinnerungsgeschichte des Holocausts den Leserinnen und Lesern sehr klar vor Augen führt und liefert einen aufschlussreichen Beitrag zu Weiss‘ Beschäftigung mit dem Judentum. Einzig eine Behauptung aus dem dritten Kapitel bedarf meines Erachtens einer Korrektur: Takata bezeichnet hier einige Unterschiede zwischen der „Ermittlung“ und den Auschwitzprozess-Berichten von Bernd Naumann, auf denen das Drama hauptsächlich basiert. In Anlehnung an Rolf D. Krause behauptet sie, dass in der „Ermittlung“ Informationen entfallen, die den Sadismus der Täter betreffen. In dem einen angeführten Beispiel mag das stimmen, doch muss unterstrichen werden, dass die „Ermittlung“ den sadistischen Einzelfall neben der Darstellung des Lager-Systems im Allgemeinen und der Betonung der Normalität der Täter eben nicht vernachlässigte: Sie ist eine umfassende Bestandsaufnahme, oder eben: eine „Ermittlung“.

Titelbild

Midori Takata: Peter Weiss‘ Stück „Die Ermittlung“ in der Erinnerungsgeschichte an den Holocaust.
Tectum Verlag, Marburg 2016.
208 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783828837676

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