Terror 2.0

Der ‚neue‘ islamistische Terrorismus ist eine Herausforderung für die westliche Gesellschaft – Annäherungsversuche an den „Dshihad 2.0“ kommen unter anderem aus der Soziologie und Medienpsychologie

Von Jonas NesselhaufRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jonas Nesselhauf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Anschläge vom 13. November 2015, als islamistische Terroristen am Stade de France, dem Bataclan-Theater und verschiedenen Cafés und Restaurants in Paris zuschlugen und 130 Zivilisten töteten, wurden (vor-)schnell als ‚französischer 9/11’ bezeichnet.[1] Dieser Referenz ist natürlich trotz der Grausamkeit der terroristischen Attacken vom vergangenen Jahr zu widersprechen, schließlich sind weder die Zahl der Opfer noch die historische Dimension mit den weitreichenden politischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Auswirkungen des 11. Septembers 2001 vergleichbar. Dennoch lassen sich zwei Gemeinsamkeiten finden – einerseits die schmerzhafte Erkenntnis der Verwundbarkeit einer traditionell weltoffenen und multikulturellen Stadt, andererseits eine überraschend ähnliche Deutung. Denn das Schlagwort der Stunde, um die skrupellose Radikalität der fundamentalistischen Angreifer zu umschreiben, die an einem Freitagabend Jagd auf Feiernde machten, war der mantraartig wiederholte „Todeskult“ – eine Bezeichnung, die vom Philosophen und Kulturtheoretiker Jean Baudrillard in seinem Essay L’esprit du terrorisme (2001) geprägt wurde. Für ihn ist der Terrorismus eine Form der ‚asymmetrischen’ Kriegsführung[2], der mit der wohl symbolischsten Waffe überhaupt geführt wird – dem eigenen Tod.[3]

Nun, gut 14 Jahre später, äußerten sich sowohl der britische Schriftsteller Ian McEwan („The death cult chose ist city well“[4]) als auch der damalige Londoner Bürgermeister und derzeitige Außenminister, Boris Johnson, in einem Gastbeitrag für die Daily Mail („They belong to a sick, pathetic and very often narcissistic death cult.“[5]), bereits einen Tag nach den Anschlägen mit Verweis auf Baudrillard, und auch der französische Staatspräsident François Hollande („Ils ont le culte de mort.“[6]) oder der US-amerikanische Präsident Barack Obama („cult of death“[7]) griffen auf diese Rhetorik zurück.

Diese metaphorische Referenz zeigt allerdings auch, wie hilflos die westliche Gesellschaft dem islamistischen Dschihad gegenübersteht; schließlich greift der Versuch, die jüngsten Anschläge und Anschlagsversuche radikaler Terroristen[8] lediglich über den ideologischen Fundamentalismus alleine erklären zu wollen, sicherlich zu kurz. Und so legte der französische Soziologe und renommierte Islamwissenschaftler Gilles Kepel im Dezember vergangenen Jahres in Frankreich seine Untersuchung Terreur dans l‘Hexagone. Genèse du djihad français vor[9] (erschienen im angesehenen Verlag Gallimard und entstanden gemeinsam mit dem Nachwuchswissenschaftler Antoine Jardin), die nun in der Übersetzung von Werner Damson auch auf Deutsch veröffentlicht ist. Die beiden Soziologen zeichnen als Momentaufnahme das Bild einer zwiegespaltenen französischen Gesellschaft nach. Diese ist einerseits geprägt von der populistischen Front National, der leichte Antworten verspricht, andererseits von einer pauschal in Verruf geratenen und vorverurteilten muslimischen Gesellschaft, die in den vergangenen Jahrzehnten zu einem wichtigen Bestandteil der Zivilgesellschaft wurde, und dazwischen von einem Staat, der handlungsohnmächtig den Ausnahmezustand verlängert und damit die Überstunden der Geheimdienst- und Sicherheitsbehörden vervielfacht, so dass inzwischen selbst Polizisten regelmäßig zu Demonstrationen auf die Straße gehen.

Kepel geht detailliert der Frage nach, wie es überhaupt so weit kommen konnte; durch das soziologische Mikroskop blickend gelingt es ihm, die Entwicklungen der vergangenen Jahre nachzuzeichnen und einzelne Ereignisse konzise zu verbinden. Dabei nimmt für ihn gerade das „Schlüsseljahr“ 2005 eine zentrale Rolle ein: Gut vier Jahre nach den Terroranschlägen des 11. Septembers 2001 spitzten sich inzwischen weltweit dschihadistische wie auch antiislamische Tendenzen zu.[10] So wurde im gleichen Jahr auch der wirkmächtige und über 1600 Seiten starke Aufruf zum islamischen Widerstand[11] über das Internet verbreitet, während es in Frankreich selbst zu gewalttätigen Ausschreitungen und landesweiten Unruhen kam. Höhe- und Brennpunkt waren die Herbstmonate 2005 und die Banlieues um Paris – eine geographische wie gesellschaftliche Randzone mit Großwohnsiedlungen, in denen vorwiegend Immigrantenfamilien aus dem Maghreb leben und von wo der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy die dauerhafte Kriminalität und Radikalität regelrecht ‚wegspülen‘ („nettoyer les cités au Kärcher“) wollte. Und tatsächlich blieb es bis zur Anschlagsserie in der Region Midi-Pyrénées im Jahre 2012[12] relativ ruhig in Frankreich – eine trügerische Ruhe, wie Kepel aufzeigt. Zwar wurden die sozialen Probleme der Einwanderer (Perspektiv- und Arbeitslosigkeit, Armut, Kriminalität, Gewalt usw.) tatsächlich aus dem französischen Bewusstsein ‚gespült‘, doch eben auf Kosten der Immigranten, die von der Politik vergessen, von der restlichen Gesellschaft ignoriert und vom Front National stigmatisiert wurden. Somit bildete sich in diesen sieben Jahren zwischen 2005 und 2012 ein „Nährboden“, der „zu dem plötzlichen Ausbruch des französischen Dschihadismus“ führte.

Zwar setzt die kundige Untersuchung von Gilles Kepel ein starkes Interesse an der sozialen und politischen Struktur Frankreichs voraus, doch ist dank der gut lesbaren und schlüssigen Argumentationsstruktur kein Vorwissen notwendig. Vielmehr ist sein Blick auf die vergangenen Jahre nachvollziehbar wie verständlich zugleich, und seine teils unbequeme soziologische Analyse zeigt ebenso innenpolitische Fehler auf, die letztlich mit zu den verheerenden Anschläge vom Januar und November 2015 führten, wie binnenstrukturelle Veränderungen vom radikalen Fundamentalismus zum Cyberdschihad. Während die Terroranschläge des 11. Septembers 2001 mit der bis dahin wohl stärkste medialen Inszenierung eines terroristischen Angriffs einherging, treibt der sogenannte und selbsternannte „Islamische Staat“ (IS) die Medialisierung seiner Ideologie dauerhaft voran: Das Internet und die (wohlgemerkt: ‚westlichen‘) sozialen Netzwerke werden gezielt eingesetzt und die Propaganda wird über Twitter oder angeschlossene ‚Nachrichtenkanäle‘ verbreitet. Dieser „Dschihad 2.0“ wirft somit neue medienethische Fragen auf und stellt Journalisten vor das Dilemma, möglichst objektiv über den „IS“ und dessen Anschläge oder Verlautbarungen zu berichten, ohne dadurch selbst zur Plattform einseitiger Propaganda zu werden.

Daran anknüpfend untersucht ein gerade erschienener Sammelband die „mediale Inszenierung von Amok und Terrorismus“aus medienpsychologischer Sicht. Herausgegeben von Robert Kahr und Frank J. Robertz, beide Forscher und Lehrende an Hochschulen der Polizei, widmen sich internationale Soziologen, Kriminologen und Kommunikationswissenschaftler in zwölf Beiträgen und abschließenden „Empfehlungen“ der „medienpsychologischen Wirkung des Journalismus bei exzessiver Gewalt“ (so der Untertitel). Bereits in den einleitenden Aufsätzen der beiden Herausgeber wird dabei die regelrechte „Ausnahmesituation der Berichterstattung“ skizziert, die sich zwischen einem begründeten Recht auf Informationen und dem Schutz der Privatsphäre von Opfer und Täter gleichermaßen bewegt. Da Informationen über soziale Medien nahezu in Echtzeit verbreitet werden können – denke man etwa an die wackligen Handyvideos des Amokläufers von München im Juli 2016 –, verbreiten sich Gerüchte schneller als offizielle Mittelungen der Behörden.[13] Und schließlich besteht eine weitere Gefahr der massenmedialen Berichterstattung auch in der Nachahmung, wenn in den Medien allzu ausführlich über Tat und Täter berichtet wird; sogenannte „Copycat-Taten“ finden sich vor allem bei Amokläufen in Schulen (school shootings), zu denen die in der Regel jugendlichen Täter durch vorherige Taten ‚ermutigt‘ worden waren. Zwar wurden bereits verschiedene Richtlinien entwickelt, die unter anderem empfehlen, den Tathergang und Hintergrundinformationen zum Amokläufer/Terroristen in der Pressearbeit möglichst nicht öffentlich auszubreiten und vielmehr über die Folgen der Tat zu berichten, doch schlagen die Herausgeber abschließend (einleuchtend wie umsichtig zugleich) eine deutliche Erweiterung dieser Grundsätze vor. So solle gezielter auf die Wortwahl geachtet und beispielsweise auf Begriffe wie „Killerspiele“ verzichtet werden, Quellen müssten stärker geprüft und Opfer, Hinterbliebene und nicht zuletzt die Journalisten selbst besser geschützt werden. Ähnlich normative und mit der journalistischen Berufsethik verbundene Grundsätze formuliert auch der Beitrag von Frank Nipkau, der gezielte Regeln im Umgang mit traumatisierten Menschen vorschlägt, sowie der Aufsatz von Hans Mathias Kepplinger, der ein ‚zweckrationales und verantwortungsethisches‘ Verhalten fordert.

Neben dem Fokus auf Amokläufen und school shootings (unter anderem am Beispiel finnischer oder US-amerikanischer Massenmedien) widmet sich der dritte Teil des Sammelbandes dezidiert dem „Terrorismus als Kommunikationsstrategie“: So geht Jens Hoffmann in seinem Beitrag vom Beispiel der Pariser Anschläge im Januar 2015 aus, in deren Folge die Täter in radikalen Kreisen zu ‚Märtyrern’ stilisiert und damit wiederum Vorbilder für andere Attentäter wurden, gibt aber auch Hinweise für die Berichterstattung, um einen solchen Nachahmungseffekt möglichst vermeiden zu können. Francesca Bosco versucht in ihrem Aufsatz, an mehreren Fallbeispielen Formen der (Online-)Berichterstattung aufzuzeigen; schließlich können über das Internet nicht nur Nachrichten quasi live und ungefiltert verbreitet werden, sondern sowohl Hasspropaganda und Gewaltdarstellungen als auch Botschaften der Anteilnahme (wie etwa „Je Suis Charlie“).

Der von Kahr und Robertz herausgegebene Sammelband überzeugt dabei vor allem durch seine thematische Bandbreite, die neben einer generellen kulturwissenschaftliche Dimension des Terrorismus dezidiert kommunikationswissenschaftliche, (medien-)psychologische und kriminologische Perspektiven bietet. So ist es eine Herausforderung für den Journalismus und die Verantwortung der Massenmedien, auf diese Entwicklungen zu reagieren und verantwortungsvoll über Terrorismus zu berichten.

Anmerkungen

[1] Vgl. etwa Berthold Kohler: „Weltkrieg“. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 15. November 2015, S. 1.

[2] Vgl. zum Begriff einführend Herfried Münkler: Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie. Weilerwist 2006.

[3] Vgl. Jean Baudrillard: L’esprit du terrorisme. Paris 2002, S. 31ff.

[4] <https://www.edge.org/conversation/ian_mcewan-a-message-from-paris> [14. November 2015].

[5] <http://www.dailymail.co.uk/news/article-3318892/ISIS-sick-narcissistic-death-cult-defect-writes-Boris-Johnson.html> [14. November 2015].

[6] In seiner offiziellen Traueransprache in Paris am 27. November 2015.

[7] In seiner „Address to the Nation“ aus dem White House in Washington, D.C. am 6. Dezember 2015.

[8] In Frankreich vor allem die Angriffe auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo und auf einen jüdischen Supermarkt im Januar 2015, die Attacken auf das Bataclan und das Stade de France im November 2015 sowie der Anschlag auf der Strandpromenade von Nizza am französischen Nationalfeiertag 2016. So verheerende terroristische Angriffe gab es zwar in Deutschland bisher noch nicht, doch deutete beispielsweise der Plan des im Oktober 2016 in Chemnitz festgenommenen Syrers Jaber al-Bakr auf Verbindungen zum sogenannten „Islamischen Staat“ hin, der sich darüber hinaus zu Attacken in einer Regionalbahn bei Würzburg und in der Altstadt von Ansbach im Juli des gleichen Jahres bekannte.

[9] Das „Hexagon“ ist natürlich Frankreich, das auf der Landkarte durchaus an ein Sechseck erinnert.

[10] Zu denken ist etwa einerseits an die Serie von Mohammed-Karikaturen der dänischen Zeitung Jyllands-Posten (2004) und den Kurzfilm Submission (2004) des später von einem Islamisten ermordeten niederländischen Regisseurs Theo van Gogh oder andererseits an die verheerenden Terroranschläge auf den Londoner Nahverkehr im Juli 2005.

[11] Dieser Aufruf (Da‘wat al-Muqawama al-Islamiya al-‘Alamiya), verfasst von dem syrischen Ingenieur Abu Musab al-Suri, ist einerseits ein historischer Überblick über die dschihadistische Bewegung, andererseits aber auch die Anleitung für einen ‚neuen‘ und erweiterten Dschihad, der sich zu einem ‚Bürgerkrieg‘ in Europa ausbreiten solle.

[12] Der Algerier Mohammed Merah verübte zwischen dem 11. und 19. März 2012 um Toulouse herum mehrere Anschläge und tötete dabei insgesamt sieben Menschen – das erste Attentat seit dem Jahre 1996 in Frankreich. Bezeichnenderweise konnte davon – kurz vor der Präsidentschaftswahl im Frühsommer 2012 – der sozialistische Kandidat François Hollande profitieren, dessen Wahlerfolg sicherlich auf die überdurchschnittlich rege Beteiligung muslimischer Wähler zurückgeht, dessen Regierung den Anschlägen der Jahre 2015 und 2016 dann allerdings recht hilflos gegenüberstand.

[13] Ebenfalls am Beispiel des Münchner Amoklaufs vom Juli 2016 gut zu sehen; vgl. dazu auch die rekonstruierte Chronologie in: Der Spiegel 38/2016, S. 40ff.

Titelbild

Frank J. Robertz / Robert Kahr (Hg.): Die mediale Inszenierung von Amok und Terrorismus. Zur medienpsychologischen Wirkung des Journalismus bei exzessiver Gewalt.
Springer Fachmedien, Wiesbaden 2016.
203 Seiten, 29,99 EUR.
ISBN-13: 9783658121358

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Titelbild

Gilles Kepel: Terror in Frankreich. Der neue Dschihad in Europa.
Mit Antoine Jardin.
Übersetzt aus dem Französischen von Werner Damson.
Verlag Antje Kunstmann, München 2016.
304 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783956141294

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