Zu schnell und zu billig produziert, verkauft sich massenhaft, wird schnell fadenscheinig und zerfällt bei schärferem Hinsehen

Harald Welzer produziert mit „Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit“ das Billighemd auf dem Markt der gesellschaftskritischen Sachbücher

Von Gunnar KaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gunnar Kaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Kritiker von Medienkritik hat es leicht. Heutzutage, wo der intellektuelle Anspruch in diesem Sujet so drastisch gesunken ist (im Vergleich zu Adorno, Postman, Chomsky etwa), hat er es um so leichter. Einem Byung-Chul Han kann man leicht Oberflächlichkeit und Hang zur Polemik, einem Frank Schirrmacher altersbedingte Überforderung, einem Harald Welzer Salonmarxismus und ein allzu starres Freund-Feind-Schema vorwerfen. Leicht hat es der Medienkritikkritiker natürlich seit Jahrzehnten dann, wenn er die Probe aufs Exempel macht und die jeweils ins Visier genommenen Medien, deren Innovation in einem neuen Zeitungsartikel oder einer Buchpublikation so kritisch beäugt wird, einfach durch das gedruckte Buch ersetzt. Wenn man statt „Fernsehen“ „Buchdruck“ sagt, wenn man statt „Internet“ „Zeitung“ sagt, dann sieht man schnell, wie lächerlich der Großteil aller sich kritisch gebender Auseinandersetzung mit den „Neuen Medien“ ist – der alten Wein der immerselben Vorbehalte nur in neuen Schläuchen aus Buch- und Zeitungspapier, serviert von denen, die sich Intellektuelle schimpfen, ausgeschenkt denen, deren Unbehagen zu füttern offenbar ein erkleckliches Einkommen und einen Platz auf den oberen Rängen der Sachbuchbestsellerliste garantiert. Die üblich-verdächtigen Argumente lauten: Das Internet produziere eine „zweite Welt“, in die das neue Medium seine Nutzer hineinzieht, sie absorbiert und isoliert; diese Welt ist ein Surrogat, primäre Erfahrungen gehen dabei verloren; dem Analogen und „wirklich Wirklichen“ gegenüber wird weniger Wertschätzung entgegengebracht (gegenüber einer als „echt“ angesehen „natürlichen Natur“ etwa, die zugunsten eines künstlichen Paradieses aus Ersatzbefriedigungen an die hintere Stelle rückt) – das waren bereits bei Platon Argumente gegen die Schrift und die Kunst, sie waren es nach Gutenberg, bei Cervantes und Joachim Heinrich Campe, und sie waren es bei Neil Postman.

So auch bei Harald Welzers neuem Buch „Die smarte Diktatur“, das im Untertitel beredterweise „Ein Angriff auf unsere Freiheit“ lautet. Nein, nicht „Über den Angriff auf unsere Freiheit“. Denn es geht in ihm, so viel sei hier schon gesagt, weniger über einen Angriff, den die neuen Medien, die Vernetzung, die Internetkultur darstellen würden, sondern das Buch stellt diesen Angriff selber dar. Das Buch und die in ihm formulierten Thesen, so freiheitsliebend sie sich gerieren mögen, sind selber eine Breitseite gegen jegliches liberale Denken – was brandgefährlich ist, da es wie gesagt einen recht großen Erfolg auf dem Buchmarkt und in der intellektuellen Diskussion über das Thema hat.

Doch einige Merkmale des hier behandelten neuen Mediums sind ja dem Internet tatsächlich ganz eigen: die Instantaneität, die enge Vernetzung, die Anhäufung von Daten, die Algorithmen. Und die Gefahren, auf die Welzer – nicht als erster und nicht als letzter – aufmerksam macht, sind reale Gefahren, die mit dem Internet, den sozialen Medien und der Erfindung mobiler Endgeräte virulent geworden sind.

Mehr noch als um die Veränderung unserer Lebenswelt geht es dem Autor nämlich um die Art und Weise, wie wir die Angebote der Medienindustrie wahrnehmen. Eigentlich, so die Pointe, sind es auch keine rechten Angebote, weil die Masse der Menschen einfach zu unmündig ist, als dass sie gegen die konstatierten Gefahren gefeit und in der Lage wäre, Internet und Smartphone angesichts der allzu großen, aber allzu versteckten Nachteile abzulehnen.

Welzers Thesen sind dabei ebenso schnell referiert wie unoriginell: Die Industrie raubt uns durch die Erfindungen der neuen Medien die vor Jahrhunderten hart erkämpfte Freiheit und wir merken es nicht nur nicht, wir opfern sie sogar bereitwillig selber. Während früher totalitäre Systeme ihre Macht auf der Basis von äußerem Zwang oder psychologischem Druck errichten mussten, laufen wir Heutigen Gefahr, aus Bequemlichkeitsgründen den Unternehmen eine Macht über uns zu geben, die uns nach Belieben steuern, manipulieren, ausbeuten kann – eine „freiwillige Kapitulation vor den Feinden der Freiheit“. Welzer kritisiert unseren Umgang mit Datenkraken wie Facebook und Google als naiv, befürchtet eine Diktatur der Cyber-Korporationen, die mit den allzu bereitwillig zur Verfügung gestellten Daten anfangen werden und sie zu einer Installierung der Weltherrschaft nutzen werden.

Der Diskussion um die Macht der neuen Medien selber (für Welzer sind das größtenteils das Internet mit seinen Versionen bis 4.0 und das Smartphone) fügt sein Buch nichts hinzu, was nicht etwa von Frank Schirrmacher oder Miriam Meckel im deutschsprachigen Raum bereits geleistet wurde. Was diese dreihundert Seiten allerdings hinzufügen, ist eine beinahe unerträgliche Überdosis Arroganz und Herablassung, vermischt mit Plakativität, Tendenziosität, Vorurteilen und Selbstwidersprüchen.

Es ist in einer Rezension nicht Platz genug, um all die Stellen, an denen sich eine Autorin oder ein Autor der Einseitigkeit, der Uninformiertheit oder logischer Fehler schuldig macht, aufzuzeigen, geschweige denn zu erläutern. Schon gar nicht in einer Besprechung dieses Buches. Ein Gegenbuch müsste her, sechshundert Seiten stark, sogar dringend – eine Erwiderung, die sich der Richtigstellung all der Verquertheiten zur Aufgabe macht. Hier seien, als Lektürewarnung, einige exemplarisch angeführt.

Der Hauptgrund für meine Ablehnung dieses Buches, das ja an sich berechtigte Zweifel erhebt an der Allgutheit der schönen neuen Internetwelt, ist die Tatsache, dass es an keiner Stelle die eigentliche Gefahr beim Namen nennt. Als wäre das nicht genug der Fehlleitung, baut es hingegen ein Feindbild auf, das ebenso konventionell-wohlfeil wie in dieser Einseitigkeit falsch ist: das Feindbild der bösen Unternehmen, die uns mit Hilfe ihrer Technologie versklaven werden.

Dabei – und das ist die eigentliche Frechheit des Buches – behauptet Welzer für sich persönlich eine Fähigkeit und Weisheit, die er den meisten anderen Menschen kategorisch abspricht. Nämlich die, freiwillig auf die von Google, Facebook, Apple und Amazon angebotenen Produkte zu verzichten. Welzer selber hat kein Smartphone, wie er (seit Jahren) nicht müde wird zu betonen, er benutzt das Internet nur für hehre Zwecke, er braucht kein Facebook-Profil und keinen Twitter-Account. Alle anderen aber haben nur nicht verstanden, wie viel besser ein solches Leben ist und das ihre Bedürfnisse nicht zählen – weil sie eben nicht die gleichen sind wie die Welzers.

Es ist schon seltsam. Unternehmen, die man einfach ignorieren kann – indem man ihre Produkte nicht kauft (ich habe noch keinen Menschen getroffen, der gezwungen wurde, ein Apple-Produkt zu kaufen), verkörpern die dunkle Seite der Macht, während Regierungen, deren Produkte man nur unter Einsatz des eigenen Lebens ablehnen kann (zahlen Sie mal ihre Steuern oder ihren „BeitragsService“ nicht, gehen Sie direkt ins Gefängnis und nicht über Los – dann wird vielleicht deutlich, was mit „Service“ eigentlich gemeint war; Orwell lässt grüßen), und deren ganze Machtkonstruktion eine unwiderstehliche Versuchung für die Psychopathen aller Länder darstellt und noch die Heiligsten unter den Menschen dazu einlädt, sich im Handumdrehen von absoluter Macht absolut korrumpieren zu lassen … – während ebendiese Regierungen die Hoffnungsträger dafür sind, die Menschheit vor den machthungrigen und unterdrückerischen Unternehmen zu retten. Übrigens kann man auf Facebook und Twitter noch mit Pseudonym auftreten und sein wahres Leben geheimhalten, wenn man das möchte. Erste Bestrebungen zur Klarnamenpflicht allerdings stammen von staatlichen Institutionen, die es natürlich nicht gerne sehen, wenn die Untertanen im Schutz der Anonymität einander zum Königsmord aufhetzen. Und wenn es einem Unternehmen einfallen sollte, die freie Rede auf seiner Plattform einzuschränken (was allerdings, um Toleranz und Respekt im Netz zu fördern, bislang eher auf staatliches „Anraten“ hin geschieht), kann der Markt Alternativen bereitstellen, zu denen die Konsumenten dann abwandern können. Dass sie das bislang nicht in Massen tun, ist ihrer Trägheit geschuldet und sollte alarmieren. Hierin hat Welzer recht, dass Menschen eine langsam vor sich gehende Einschränkung ihrer Freiheit oft nicht als solche wahrnehmen, sondern sich von shifting baselines täuschen und einlullen lassen, bis sie in der Diktatur wieder aufwachen.

Bisweilen findet Welzer auch die richtige Formulierung, etwa wenn er von einer „staatlich-privatwirtschaftlichen Formation zur Erzeugung von informationeller Macht über Menschen“ spricht. Man hat dann, in wenigen Momenten der Lektüre, die Hoffnung, der Autor würde von seiner bisher so vehement zur Schau gestellten Pose der Einseitigkeit abrücken und das eigentliche Problem in ebendieser Verquickung von Staat und Wirtschaft analysieren. Doch vergeblich gehofft. Dabei ist es doch mehr als deutlich, dass genau in der Verquickung der Hase im Pfeffer liegt – in dieser der gesamten westlichen Wirtschaftsgeschichte seit über hundert Jahren eigentümlichen Mischform, für den die liberale Tradition aufgrund der Unpassendheit des Kampfbegriffs „Kapitalismus“ den Begriff „Korporatismus“ geprägt hat, der dem wahrhaft lösungsorientierten Denken ein Mittel an die Hand gäbe, mit dem es Ursache und Wirkung, Verantwortliche, Nutznießer und Opfer systemisch erkennen könnte.

Wie gesagt – die Hoffnung wird enttäuscht. Sonst hätte Welzer auch gesehen, dass, wenn man das „Staatliche“ aus der Gleichung herausnehmen würde, den privatwirtschaftlichen Unternehmen kein noch so kleiner Krümel an informationeller Macht über Menschen bliebe – keiner zumindest, den die Menschen selber nicht durch einen Mausklick vom Tisch wischen könnten. Der Autor hätte dann seinen Furor nicht gegen die Nutznießer des staatlichen Gewaltmonopols richten können, sondern gegen die Regierungen, die selbiges zugleich vertreten und missbrauchen.

Denn was wären Google, Amazon und die von ihnen gesammelten Daten ohne die Geheimdienste, die sie ihnen abzwingen, abkaufen oder stehlen? Was wären Facebook und Twitter ohne die Zensurmaßnahmen, die Staaten ihnen auferlegen? Wie weit wäre es mit der Gefahr von Google, wenn – wie kürzlich aufgedeckt – ein Eric Schmidt (der ehemalige CEO) nicht mit Politikern der Demokratischen Partei der USA zusammenarbeiten könnte, um durch die Analyse des Internetverhaltens von Wählern deren Vorlieben und Abneigungen aufzudecken und zugleich deren Strom an Informationen und somit ihr Wahlverhalten zu beeinflussen? Wie gefährlich wird ein Mensch wie Schmidt, der Zugang zu einer unvorstellbaren Datenmenge hatte oder hat, dadurch, dass er – wie im März 2016 bekannt wurde – mit dem Pentagon zusammenarbeitet? Was wäre ein Smartphone, das man orten kann, ohne die Drohne, die vom Verteidigungsministerium gesteuert wird? Ein zahnloser Drache, ein Tiger ohne Krallen – sicher, auch ein krallenloser Tiger kann gefährlich sein, auch dann noch ist es angeraten, vorsichtig zu sein und genau zu überlegen, wem man wie viele seiner Daten gibt und ob es den Preis bequemeren Arbeitens, Konsumierens und Kommunizierens wert ist.

Doch das anlasslose Ausspionieren ist ohne einen dahinterstehenden politischen Apparat, der das Postgeheimnis und die Unverletzbarkeit der Wohnung aufheben und die gesammelten Daten zur Festigung und Erweiterung eines Zwangsapparats nutzen kann und wird, in etwa so gefährlich wie ein Stalker, der im gegenüberliegenden Haus am Fenster sitzt und dir manchmal Werbung für seine Produkte in den Briefkasten steckt, die er vor dem Hintergrund seines erstalkten Wissens über deinen Alltag designt hat – unangenehm, aber mit einer Handbewegung aus seinem Leben zu verbannen. Vergleiche mal deinen Versuch, dich gegen die Zudringlichkeit von Amazon zu wehren, mit deinem Versuch, gerichtlich gegen einen Geheimdienst vorzugehen.

Wenn Harald Welzer in seinem Buch zum Beispiel die NSA erwähnt, vermischt er bisweilen so ungeschickt-geschickt die Ebenen der Beispiele, dass man nicht weiß, ob er hier absichtlich ein Spielchen mit dem Leser treibt. Im ersten Absatz geht es um die NSA, im zweiten dann um Google und Youtube, im dritten wieder um die NSA und so weiter. Dies alles, ohne deren Wechselwirkung als solche zu beschreiben oder gar zu analysieren! NSA und Google stehen Welzer unterschiedslos als Überwachungsinstrumente da, ungeachtet ihres Wesens und ihrer Fähigkeiten. Auf die Idee, dass das eine Instrument vom Steuerzahler zwangsfinanziert und kaum kontrollierbar, noch viel weniger abwehrbar ist und ungefragt in Leben und Besitz der Menschen eingreift, während das andere (zumindest in den Anfängen, vor seiner korporatistischen Karriere) selbstfinanziert und kontrollierbar ist (in gewissem Ausmaß sogar von jedem einzelnen User selbst!) und sich für seine Datensammelei sogar in den AGBs vom User eine Einwilligung einholt – darauf kommt Welzer nicht. Er nennt beispielsweise „Industrie 4.0, das vernetzte Auto, die Abschaffung des Bargelds, Überwachungsskandale“ in einem Atemzug – alle erkenntnisschaffende Differenz zwischen privatwirtschaftlichem Angebot und staatlichem Zwang mit dem Polemik-Bulldozer seiner maßlosen und grellen Wortwahl einebnend.

Für den Autor ist Facebook die „Machterzeugungsmaschine“ – nicht aber der Staat, durch den Facebook ja erst zu der gefährlichen Waffe werden kann, die es jetzt ist. Welzer spricht zwar durchaus – und durchaus zu Recht – von „staatlich-privaten Asssoziationen im Fall der Überwachungsindustrie“, verfehlt es aber, die Waffen des Staates deutlich als das gefährliche Ross zu benennen, dessen sich der privatwirtschaftliche Reiter bedienen kann – und nach allen Gesetzen der Macht auch muss, um zu überleben oder zumindest Marktführer zu bleiben. Welche Gefahr aber ginge von dem Reiter aus, wäre er seines Rosses einmal verlustig gegangen?

Auf jeder Seite will man dem Verfasser entgegen rufen: Ja, aber wenn ich nicht von Google überwacht werden will – dann nutze ich seine Dienste einfach nicht. Das ist nicht unmöglich und es gibt Alternativen (Welzer selbst nennt sogar einige); und wenn die letzte der vollständige Ausstieg aus dem Digitalen ist. Es geht, andere haben es auch getan – während der Ausstieg aus der Überwachung durch den Staat beinahe unmöglich, eventuell strafbar und bisweilen lebensgefährlich sein kann. Auch die Kritik an den Internetriesen bedeutet für keinen Intellektuellen auf der ganzen Welt auch nur eine schlaflose Nacht – während die Kritik am Staat, an seiner Allmacht und seiner Datensammelwut schon mal zur Voraussetzung hat, dass man zuvor seine Familie in Sicherheit gebracht, sich selbst mit einem falschen Pass und Bart versehen hat und seine Spuren zu verwischen in der Lage ist. Dafür reicht dann aber nicht mehr nur ein einfacher Mausklick.

Für die emanzipierende Kraft, die den neuen Technologien inne wohnt – was die Befreiung des Untertans von Staatspropaganda und Medienmanipulation angeht – hat Welzer keinen müden Blick übrig. Dass Smartphones und soziale Netzwerke in den letzten Jahren auf eklatante Weise dafür gesorgt haben, die Deutungshoheit von Staatssendern und Medienhäusern so eindeutig zu zerstören, wie es einmalig in der Geschichte der Menschheit ist – Welzer ist es keine Fußnote wert. Dass sie ganze Revolutionen ermöglicht und angetrieben haben (freilich nicht immer zum Nutzen der Menschen), möchte Welzer ihnen nicht zugestehen. Dass eine mit Smartphones „bewaffnete“ Gesellschaft den offiziellen Bildern ihre ganz eigene und vielschichtigere Version der Ereignisse entgegenhalten kann – Welzer vertraut offenbar immer noch lieber auf die Güte und Weisheit der Gatekeeper über Information und Deutung.

Wie der amerikanische Aktivist Adam Kokesh feststellt, hat die neue Technologie die Macht, eine Verbindung, Harmonie und Kooperation unter den Menschen herzustellen, wie sie bis dato nur dem Staat als Aufgabe zukam. Dass der mündige Bürger seine kritische Sicht nun unabhängig dieser etablierten Gatekeeper kundtun, sich informieren und austauschen kann – dieser unschätzbare Vorteil der neuen Kommunikationsmittel ist für Welzer nicht einmal nebensächlich. Das Üble daran: In seiner Kritik an den neuen Medien verschweigt er diese emanzipierende, aufklärerische Kraft. Eine Kraft, die nicht nur den Unrechtsstaaten und Diktaturen auf der Welt solche Sorgen bereitet, dass ihre Zensurbestrebungen immer eifriger werden. Diesen Zensoren, die genau wissen, dass dezentrale Information und Aufklärung die Basis der Mächtigen immer gefährdet hat, redet Welzer hier das Wort.

Der amerikanische Schrifsteller Robert P. Heinlein hat einmal geschrieben: „Geheimhaltung ist der Schlüssel zu jeder Tyrannei. Nicht Gewalt, sondern Geheimhaltung und Zensur. Wenn eine Regierung oder Kirche etwa zu ihren Untertanen sagt: ,Dies darst du nicht lesen, dies darfst du nicht wissen!’, dann ist das Ergebnis immer Tyrannei und Unterdrückung – egal wie heilig die Gründe sein mögen. Sehr wenig Gewalt ist vonnöten, einen Menschen zu kontrollieren, der einmal auf diese Weise betrogen worden ist. Auf der anderen Seite kann keine Macht der Welt einen freien Menschen kontrollieren, dessen Geist frei ist.“

Regime, aber auch solche Staaten, die wir als Rechtsstaaten anerkennen mögen, lieben es aus diesem Grund, sich der Methode der Geheimhaltung zu bedienen. Wie ein Rowdy, der davon lebt, wenn sein Opfer über seine Misshandlung schweigt, wollen Staaten ein solches Aufmucken ihrer Untertanen um jeden Preis verhindern. Und wie wir gesehen haben, gilt das in wachsendem Maße auch für die parlamentarischen Demokratien des Westens.

Welzers Ablehnung der Verteilung von Informationsmacht auf den einzelnen Bürger gleicht nun der Ablehnung, die der kleine Helfer dieses Rowdys den Bestrebungen seiner Mobbingopfer gegenüber empfindet, aufzustehen, ihre Stimme zu erheben, sich zusammenzuschließen und endlich zurückzuschlagen. Wer solche Intellektuellen hat, braucht keine Propagandisten mehr.

Interessant ist es auch, die von Welzer beschworene Gefahr der Filter Bubble mit seinem eigenen Buch zu vergleichen. Das Web 2.0, so die bekannte Kritik, erzeuge durch die Algorithmen der sozialen Netzwerke und der neuen Suchmaschinen eine informationelle Blase, in der wir unwissentlich gefangen sind: mit den immer gleichen Fakten, Argumenten, Meinungen und Meinungsführern. Ein Austausch mit gegnerischen Positionen findet nicht nur nicht statt – sie können gar nicht mehr wahrgenommen werden, weil die Suchergebnisse nicht mehr auf sie verlinken. (Ganz im Gegenteil natürlich zu den herrlich pluralistischen Verhältnissen in Zeiten, als die Menschen sich mit den unterschiedlichsten Diskussionsgegnern an Stammtischen und in Bierkellern trafen, als sie eine Vielzahl von Meinungen in dem einen Staatssender serviert bekamen und noch dazu ein hohes Mitbestimmungsrecht bei der Gestaltung seines Programms hatten, und als sie sich jeden Tag mehrere Presseerzeugnisse ins Haus kommen ließen, um sich nicht von ein und demselben Medienkonzern manipulieren zu lassen …)

Und dann sieht man sich Welzers Bibliografie an und stellt fest, dass auf vier Seiten Literaturangaben ganze sieben Titel seine eigenen Bücher anführen (die Filter Blase ist auf die Spitze getrieben, wenn sie nur noch die Informationen anzeigt, die man selbst in die Welt gebracht hat) und unzählige von den üblichen Verdächtigen der modernen Kapitalismuskritik stammen (zum Beispiel Naomi Klein, Stephan Lessenich, Wolfgang Streeck, Michael J. Sandel) – sozialismuskritische, libertäre oder anarchokapitalistische Schriften sucht man (Ausnahme: Peter Thiel) vergebens. Die österreichische Schule der Nationalökonomie? Von Mises? Hayek? Fehlanzeige. Dann: Von den achtzehn sich auf Zeitungsartikel beziehenden Angaben nennen fünfzehn (!) die FAS/FAZ und drei die Süddeutsche Zeitung. Für einen Sachbuchautor, der vor dem Mechanismus der Filter Bubble warnen möchte, ist das ein Armutszeugnis. Aber wir hatten schon gesehen, dass Ausgewogenheit Welzers Sache nicht ist. Ironischerweise ist dann auch die Seite mit den Internetquellen bei Weitem diejenige mit den vielfältigsten Angaben, was ihre Herkunft betrifft.

Dann ist da also die Verteufelung des Marktes, die Welzers Buch in ganz und gar anbiedernder Manier an den etatistischen Zeitgeist durchzieht. Für den Autor sind Unternehmen, die Menschen Produkte anbieten, von Grund auf böse, während Staaten, die Menschen zwingen, ihre Produkte zu kaufen, die strahlenden Retter und Helden sind. Seiner Ansicht nach „herrscht“ der Markt, während die Gesetzgeber anscheinend im Dienste der Menschheit stehen und nur wohlgemeinte Ratschläge erteilen. Unternehmer wie Rockefeller oder Vanderbilt, die als Philanthropen noch in einer Zeit Millionen von Dollar für gute Zwecke gespendet haben, in der eine Millionen Dollar noch viel Geld war, sind für ihn selbstsüchtige Ausbeuter, denen es nur um die Demonstration von Macht und Reichtum ging. Der Markt verlangt nach Welzers Meinung, dass man an ihn glaube (eine „gestrige, antimoderne, gegenaufklärerische Forderung“ – als wären Adam Smith und David Ricardo die Köpfe der Inquisition und Mitglieder einer irrationalen Sekte gewesen, die durch Verschwörung und Magie ihre Theorien in die Köpfe der heutigen „marktgläubigen“ „Neoliberalen“ gezaubert hätten.)

Harald Welzer ist also zugleich für mehr Regierung und für mehr Freiheit. Die Regierung soll uns unsere Freiheit geben, indem sie mehr Gesetze verabschiedet – nämlich gegen das, was die Menschen freiwillig anbieten und nachfragen. Er bezeichnet sich als Kämpfer für Gerechtigkeit, kämpft aber nur dafür, dass andere gezwungen werden, für „gerechtere“ Verhältnisse zu bezahlen.

Diese Umdrehung der Verhältnisse – Freiwilligkeit und Angebote böse, Zwang und Verpflichtung gut – macht auch Welzers Medienkritik so unerträglich. Tatsächlich existierender Zwang, der beispielsweise hinter einem Verbot oder einem Steuergesetz wirksam wird und, sollte man nicht „kooperieren“, seine drohende Faust nicht nur schüttelt, sondern tatsächlich schlagkräftig einsetzt, ist für Welzer nicht kritikwürdig. Die Wahlfreiheit aber, die uns die kapitalistischen Anbieter von Produkten lassen, ist es, die man verachten muss. Das dahinterstehende Menschenbild ist klar, wenn auch vom Autor selber nicht expliziert: der unmündige, willenlose, leicht manipulierbare und eigentlich immer schon manipulierte Mensch, der Fremdzwang schnurstracks zu Selbstzwang macht und zu dumm und ignorant ist, seine eigene Unfreiheit überhaupt zu bemerken. Die Lösung, schon seit Platon Mittel der Wahl aller Totalitaristen: Die Philosophen sollten die Menschen zu ihrem eigenen Glück zw… äh bringen. Die Masse selber ist zu blind, um zu verstehen, was in ihrem eigenen Interesse liegt.

IKEA-Kunden zum Beispiel sind nach dem Urteil von Welzers emanzipierter Vernunft einfach zu dumm, als dass sie je verstehen könnten, dass sie für den geringeren Preis pro Möbel dieses Möbel ja selber transportieren und aufbauen müssen! Und Facebook-User sind zu dumm, als dass sie je verstehen könnten, dass ihrem Vergnügen, sich mit Freunden bequemer und globaler und umfassender und unabhängiger auszutauschen als je zuvor, riesige Nachteile entgegenstehen: dass ihre Daten nämlich Dritten verkauft werden, von denen die User dann – ruchloseste und übergriffigste Manifestation der kapitalistischen Selbstherrlichkeit – mit Werbung traktiert werden!

Selbst Platons Philosophenkönige hatten ihn ihrer Menschheitsbeglückungsfantasie ja noch eine höhere Meinung von ihren Untertanen als Welzer vom Ottonormalverbraucher.

A propos Werbung: Dass Welzer nicht sieht, dass der nervigen personalisierten Internetwerbung (die möglich wird, weil wir unsere Daten und unser Kaufverhalten mehr oder weniger bereitwillig preisgeben) eine große Entlastung bezüglich Ressourcen und Energie gegenübersteht, ist so ein Beispiel für die geistige Kurzatmigkeit, der man in diesem Buch ausgesetzt ist. Dann verstopft eben weniger Papiermüll unserer Hauseingänge und Briefkästen und auch das Straßenbild muss tendenziell nicht mehr durch riesige Plakate verschandelt werden (weil diese ja im Vergleich zu personalisierter Internet-Werbung ineffektiv sind).

Harald Welzer hängt dem schon so oft totgehofften Mythos vom sich selbst vermehrenden Kapital an, das durch Monopolisierung alle Marktteilnehmer verdrängt und unterdrücken kann. Nicht einmal die neuen Medien, mit denen er sich – ohne große Kenntnis ihrer eigentlichen Fähigkeiten und Entwicklungen – hier ja auseinandersetzt, kann ihn von seiner „kritischen Theorie“ abbringen. Nicht die Tatsache, dass mit einem billigen Laptop und einem Internetzugang auf einmal jeder in einer Weise Kapitalbesitzer sein kann, von dem die Räuberbarone des 19. Jahrhunderts nur hätten träumen können – Globalisierung inklusive. Nicht die Reduzierung der Kosten, die es heute noch dem mittellosesten Arbeiter ermöglichen, allein durch Fantasie und Geisteskraft zum Internet-Millionär oder zum Selfpublishing-Bestseller-Autor zu werden. Und auch nicht die Technik von 3D-Druckern, deren Entwicklung den Prozess beschleunigt, Kapital (und damit Unabhängigkeit von den alten Kapitalisten) in die eigenen Hände zu bekommen. Dass durch die vermehrte Arbeitsteilung in der spätkapitalistischen Moderne und erst recht durch die Internetrevolution die Rohstoffe und die Maschinen von einer viel wertvolleren Ressource in ihrer Freiheit und Wohlstand schaffenden Bedeutung abgelöst wurden: nämlich vom menschlichen Geist, von seiner Erfindungskraft und seiner Intelligenz, bringt Welzer nicht vom einmal erlernten Jargon ab.

Die Unternehmer sind in seinem Wortschatz alle selbsterklärte Weltverbesserer, die Befürworter von Wahlfreiheit sind Propagandisten, Apologeten, Jünger. Den Libertarismus „erklärt“ (= verteufelt) er an Figuren wie Peter Thiel oder Oliver Samwer; Theoretiker wie Murray Rothbard, Hans-Hermann Hoppe oder Roland Baader sucht man auf den dreihundert Seiten vergebens. Nicht einmal der Name Ron Paul scheint Welzer ein Begriff zu sein. In der intellektuellen Auseinandersetzung mit einer Theorie ist das entweder peinliche Ignoranz oder bewusste Missrepräsentation.

Hier nur noch ein paar Beispiele für die Schwachbrüstigkeit der von Welzer gefällten Urteile: Er ist gegen Updates („Machen Sie mit bei einer kollektiven update-Verweigerung!“) – und spricht damit die niederen Instinkte derer an, die sich auch immer schon genervt fühlten von der dauernden Erneuerung einmal gekaufter Produkte. Man habe ja nach der upgedateten Version nie ein Bedürfnis gehabt, so Welzer, also diene sie auch nur dazu, uns auszunutzen. „Zu nichts anderem“. Dass aber eine (nie gewollte, weil nie für möglich gehaltene) Verbesserung etwa zu größerer Gesundheit (wer hatte vor 40 Jahren schon ein Bedürfnis nach einer elektrischen Zahnbürste? Heute hat sich die Zahnhygiene auch durch diese „unnütze“ und „ausbeuterische“ Erfindung deutlich verbessert) oder etwa zu Energieersparnis führen kann, passt einfach nicht in sein Weltbild und wird konsequent ausgeblendet.

Auch alle Apps sind schlecht. Kategorisch. Selbst wenn man in Israel per App mit einem Frühwarnsystem vor Terrorangriffen geschützt wird – Apps sind schlecht. Auch wenn eine Kamera-App Sehbehinderten Texte vorliest und sie damit unabhängiger und ihr Leben zu einem sehr geringen Preis lebenswerter macht – Welzer braucht sie nicht, also ist sie unnütz und nichts als ein modernes Mittel zur Ausbeutung des Pöbels.

Lifelogging- und Quantified-Self-Apps sind überhaupt directement aus dem App Store des Teufels – sie verführen nur zu erhöhter, ja krankhafter Beachtung der eigenen körperlichen Verfassung, zu einer „übersteigerten Form von Selbstaufmerksamkeit“, somit zu Stress und Depression. Damit nicht genug, sie erzeugen sogar ein „permanentes Grundgefühl des Nicht-Genügens“; man kann mit ihnen „niemals einen Zustand der Zufriedenheit erreichen.“ (Hervorhebung im Original) Als wäre das jemals bei überhaupt einem Produkt oder einer Tätigkeit der Fall – erzeugen nicht auch Romane ein Grundgefühl des Nicht-Genügens? Kann man bei Auslandsreisen irgendwann einen permanenten Zustand der Zufriedenheit erreichen? Sollen wir deswegen keine Romane mehr lesen und zuhause bleiben? Wovon träumt Welzer hier? Wenn eine App nicht ins absolute Nirvana der Glüchseligkeit führt, ist sie nutz- und sinnlos und böse?

Auch Luxus und Neuerungen sind in Welzers Weltsicht schlecht, wenn man sie nicht braucht. Die planwirtschaftliche Forderung des Social Engineering, dem Welzer hier anhängt, hat Ludwig von Mises schon 1922 als Illusion desavouiert: „Im Sozialismus wird nicht der einzelne darüber zu entscheiden haben, welche Bedürfnisse die wichtigsten sind und daher zunächst befriedigt werden sollen, sondern die Regierung.“

Was Welzer befürwortet, ist – anstelle der akkumulierten Wünsche der Menschen, die über das Angebot und den Anreiz, Neues zu erfinden, entscheiden – eine Stelle, ein Amt, eine Expertenkommission, die über Güte und Nützlichkeit einer Ware befindet und dann ihre Produktion befiehlt. Gleichzeitig sollte sie dann aber auch Entwicklung und Produktion aller „unnützen“ Waren, die nur künstliche Bedürfnisse befriedigen, verbieten. George Orwell hätte sicher einen schönen neusprechenden Namen für ein solches Ministerium gefunden.

Welzer sieht auch nicht, dass die von ihm so verachteten Neuerungen für andere Menschen lebenswichtig oder stark lebenserleichternd sein können. Sicherlich ist es einfach, sich über gesunde, starke Menschen lustig zu machen, die zu faul sind, für die Einstellung der Heizung aufzustehen und die Temperatur in der Wohnung stattdessen per Smartphone-App vom Sofa aus verstellen wollen. Das hat man früher nicht gebraucht, also ist es auch heute vollkommen unnütz. Früher ist man schließlich auch aufgestanden für solche Zwecke!

Was ist aber mit den Gehbehinderten, den Gebrechlichen, den Bettlägerigen? Was ist mit denen aus der vorbenannten Gruppe, die sich keine Pflegekraft leisten können – die müssen nach Welzers Wunsch jetzt in der Kälte sitzen. Durch die Entwicklung dieser „Luxusware“ einer mit dem WLAN verbundenen Heizung, die sich appgesteuert bedienen lässt, wird aber tendenziell ein solches Produkt, das eben hilfsbedürftigen Menschen nützlich sein kann, billiger. Welzer ist zu sehr in seiner eigenen Welt befangen, als dass er der Vielfalt, der Freiheit der Wahl, die der Markt bietet, etwas Gutes abgewinnen könnte. Was er nicht braucht, darf auch niemand anders als nützlich empfinden.

Das ist das Niveau, auf dem hier durchgehend „argumentiert“ wird. Wie gesagt: Beispiele für solcherlei Zu-kurz-Denken finden sich auf jeder Seite. Man kann dieses Buch entweder kopfschüttelnd und entnervt nach 100 Seiten weglegen – oder man quält sich bis zum Ende durch und lässt seinem Zorn über so viel Einseitigkeit und Uninformiertheit und über eine Selbstgerechtigkeit, die geradezu kriminelle Energie entwickelt und schließlich zum Zerstören von Privateigentum aufruft (so auf Seite 285f.), in einer Buchbesprechung Luft.

Bei Welzer ist alles immer absolut und vollkommen. Wenn er eine Gelegenheit zur Pauschalisierung findet, lässt er sie nicht ungenutzt. Die heutige Überwachung habe „keine Nischen“ mehr übrig gelassen. „Alle sozialen Felder“ seien ausgeleuchtet. Und – wie all seine Verallgemeinerungen zeugt auch diese von großer Unwissenheit – es gebe „keinen Widerstand“ (bis auf Welzers eigene Existenz als einsamer Rufer gegen die Internetdiktatur freilich, die er mit diesem Buch beweisen will). Dabei wird an vielen Stellen, die deutlich übertrieben sind, auch nicht klar: Ist das bereits so oder wird es erst so kommen, wenn wir den Welzerschen Kassandrarufen kein Gehör schenken? Handelt es sich bei seinen Aussagen um Zustandsbeschreibungen oder Warnungen?

Hier eine kleine, unvollständige Liste von Allgemeinplätzen, beinahe wörtlich zitiert:

- In Glasgow differiert die durchschnittliche Lebenserwartung um dreißig Jahre je nach Stadtteil, in dem man lebt. Und das ist „in allen anderen Sädten nicht anders“! In allen!
- Menschen, die heute leben, leben nur, weil andere sterben, und sind nur gesund, weil andere krank sind.
- „Man“ hält es in den reichsten Gesellschaften der Erde für ein Menschenrecht, alles immer extrem billig bekommen zu können.
- Die Vermehrung von Kapital macht die meisten Menschen ärmer, dümmer, ohnmächtiger und zerstört ihre Lebensbedingungen.
- Vor dem Internet hat man das Verhalten von Bürgern und Mitmenschen „gar nicht“ bewertet.
- Computer sind immer schlecht. [sic!]
- Freiwillig auf Freiheit zu verzichten ist völlig unmöglich. Es liegt in ihr sogar „die größte Gefahr“. Mit dem Augenblick des Verzichts ist es keine Freiheit mehr.

Wie gesagt: man kann hier nicht jede einzelne Stelle nennen und kritisieren, die Kopfschütteln oder Brechreiz verursacht. Einiges mag dem Willen zur Polemik geschuldet sein, die aber einem sich populärwissenschaftlich gebenden Traktat wie diesem schlecht zu Gesicht steht. Zumal die Dosis das Gift macht. Neben den mangelnden Belegen an vielen Stellen, die einfach nur Behauptungen bleiben (Es sei eine „absichtsvolle Wahrnehmungstäuschung“, von ,Flüchlingsschwemme’ zu reden“), neben Selbstwidersprüchen („alle konsumieren bewusst“ vs. „keiner will wissen, was in seinem Produkt ist, keiner will sehen, was es ihn eigentlich kostet“; alle Computer sind immer nutzlos – mein Buch wurde mithilfe von Computern hergestellt und vertrieben; das Internet ist böse – Portale wie abgeordnetenwatch.de, netzpolitik.de und slow-journalism.com sind gut; Amazon ist böse – mein Buch ist über Amazon erhältlich; binäre Urteile sind schlecht – aber meine Einteilung in binär und nicht-binär ist gut, und auch staatliche Gesetze, die Krönung des binären Urteils, sind gut), neben all den bewusst vagen, von ihrem Wesen her schon unfalsifizierbaren Formulierungen, die den Schreiber von der Beweispflicht entbinden, und neben all den Pauschalisierungen ist vor allem die herablassende Haltung enervierend, die Welzer an den Tag legt.

Verharmlosungen (die SA war nur eine frühe Form des Shitstorms), Banalitäten (Rassisten sind oft feige) und an Arroganz schwer zu überbietende Phrasen („Tja, Teenies, da staunt ihr!“; gerne auch in dem beliebten, nur scheinbar sich selbst mit einbeziehenden Wir-Satz formuliert: „Wir sind für menschenunwürdige Herstellungsbedingungen“) offenbaren eine elitäre Haltung, die das stilistische Pendant zur Staatsgläubigkeit des Autors bilden.

Welzer ist gegen Monopole, weil er in ihnen zurecht eine Organisation zur Vernichtung anderer Möglichkeiten sieht – für ihn ist der Monopolist aber freilich das private Unternehmen (ohne dass er belegen würde, wo sich in einer freien Marktwirtschaft tatsächliche Monopole je über mehrere Jahre hinweg erhalten hätten, noch inwiefern Google und Amazon tatsächliche Monopolisten wären – das sind sie nämlich nicht –, oder zu erkennen, wie Wirtschaftsmonopole heutzutage zustande kommen: nämlich durch Staatseingriffe). Der eigentliche Monopolist auf einem Gebiet, der einzige, der über Eigentum, Gesetzgebung, Gewalt und Geld bestimmt und die faktische Macht darüber besitzt, andere einfach per Befehl (nicht durch bessere Leistung) vom Markt zu verdrängen, ist aber der Staat. Welzer kritisiert Unternehmen als totalitär (weil sie alternative Möglichkeiten vernichten würden), den eingreifenden Staat preist er als Heiland. Er spricht sich mehr oder weniger direkt für eine Planwirtschaft aus: Die weisen Herrscher oder die Expertokraten sollen entscheiden, was die Menschen wirklich für Probleme haben und welche Produkte zur Abhilfe geschaffen werden sollen.

An manchen Stellen, verräterisch, setzt er sogar Staat und Bevölkerung gleich! Wenn der Staat an Macht und Einfluss verliert, verliert seiner Meinung nach die Bevölkerung an Einfluss. Diese Argumentation dürfte unmittelbar aus Stalins Handbuch für angehende Tyrannen stammen.

Die Menschen sind für Welzer nur tumbe Toren, deren durch Wohlstand sedierte Emotionen sie dazu verleiten, in Hyperkonsum und Selbstverdummungsprogrammen sich selbst „in Freiheit zu versklaven“. Gefeit davor, aufgrund moralischer Überlegenheit und hart erkämpfter Selbsterkenntnis, sind nur er, Harald Welzer selbst (und vielleicht ein paar seiner Leser, die dann auch nicht mehr anders können, als sich mit einer positiven Besprechung dieses Elaborats selbst als Jünger des Erleuchteten zu feiern). Nachdem er am Anfang ein ganzes Kapitel seiner Klage über die zerstörerische Mode der Shitstorms gewidmet und sie mit dem Vorgehen der SA gleichgesetzt hat, sagt er am Ende seines Buches: „Ich fühle mich von Shitstorms gegen mich in sozialen Netzwerken nicht betroffen, weil ich nicht in sozialen Netzwerken bin.“ Was, so einfach ist das? Man kann einer Gefahr so einfach entgehen und muss sie trotzdem über 300 Seiten lang als den drohenden Untergang des Abendlandes an die Wand malen?

Die Existenz von Büchern wie Welzers „Smarte Diktatur“ ist der Grund dafür, dass die Bezeichnung „Intellektueller“ im Sprachgebrauch einen so schlechten Leumund hat. Die Überheblichkeit, mit der sich Welzer geradezu zwanghaft von der Plebs distanzieren will, hat nur den einen, für gesellschaftskritische Schriften wohlbekannten Effekt: Diejenigen, die aufgrund ihres Charakters eine innovationskritische Haltung haben oder sich eine solche im Lauf der Zeit angeeignet haben, nicken beifällig mit dem Kopf und haben Teil am Distinktionsgewinn, den die Lektüre von Postman, Robert Pfaller, Byung-Chul Han oder eben Harald Welzer so zuverlässig anbietet. Effektivität beispielsweise abzulehnen ist im Feuilleton so opportun wie den Kapitalismus zu kritisieren. Der Grund dürfte der gleiche sein: Das Wort hört sich einfach ungemütlich an, wir sind eh alle von den modernen Verhältnissen überfordert und brauchen gegen das Unbehagen in der Kultur ein weiches Kissen aus Buzzwords, mit dem wir uns gegen die kalte, neoliberale, effizienzsüchtige Wirklichkeit schützen können.

Sätze wie die folgenden, die an Banalität und Unschärfe kaum mehr dazugewinnen können, liest man einfach gerne und man kann sich gut dabei fühlen: „Poesie, Musik, Sex, Liebe, alles, was das Leben ausmacht, sind analog und es gibt sie nur offline.“ Hört, hört!

Die anderen Leserinnen und Leser hingegen wenden sich – falls sie überhaupt zur Lektüre gefunden haben – angewidert ob der zur Schau gestellten Arroganz ab. Ein Buch wie „Die smarte Diktatur“ ist geradezu das gefunde Fressen für den confirmation bias alt-linker, früh mit Marcuse und Erich Fromm gefütterter Fortschrittsgegner. Bereits nach der Lektüre des Titels weiß man, was einen erwartet. Und man wird nicht enttäuscht.

Natürlich muss Welzer auch Billigarbeit und geringe Löhne kritisieren, als wären diese der Grund für die Armut in der Welt. Brav globalisierungskritisch rechnet er vor, wie viel von dem Preis eines T-Shirts bei der Arbeiterin in Bangladesh landet und wie viel in den Taschen der Ausbeuter. Dabei würde ja kein Konsument im Westen verarmen, so Welzer, wenn er das Vierfache für das T-Shirt bezahlen müsste … Dieses Buch ist tatsächlich das Billighemd unter den gesellschaftskritischen Sachbüchern: zu schnell produziert und blind auf die Marke „Welzer“ vertrauend auf den Markt (und das auch noch mit Hilfe der Ausbeuter von Amazon, deren Unternehmensstrategie so unmoralisch und menschenverachtend ist, dass Menschen sogar den langen Weg von Rumänien nach Deutschland auf sich nehmen, um sie einmal am eigenen Leibe erfahren zu dürfen!) geworfen – und das für 19,99 € – obwohl kein Käufer verarmt wäre, hätte er das Vierfache bezahlt. Das zu ermöglichen – also nicht Wasser zu predigen und Wein zu trinken – läge nicht nur dank heutiger Internettechnologie voll und ganz in Welzers Hand. Dann hätten vielleicht sogar er selber und die vom Verlag und dem bösen Buchmarkt ausgebeuteten Drucker, Setzer, Lektoren, Auslieferer, Buchhändler etwas davon. Er hätte sogar ganz auf einen Verlag verzichten und das Buch zu einem viel höheren Preis als dem Dumpingpreis des S. Fischer Verlags selbstverlegen können. Aber nein, dazu hätte er ja selber die Drecksarbeit machen müssen, einen Computer zu betätigen – und Computer sind ja allesamt nutzlos. So kann er es andere machen lassen, die nicht einmal merken, wie sinnlos ihre Arbeit ist. Und vielleicht „fordert“ der Buchmarkt ja von den Menschen mit zu bestimmerischer Hand einen „Glauben“ an ihn, als dass solches eigenverantwortliches Handeln für einen einzelnen Autor keine sozialistische Utopie wäre …

Das eigentlich Gefährliche an Welzers „Smarter Diktatur“ ist aber nicht seine mangelnde Qualität, und auch nicht der ausbeuterische Preis, den der böse Markt auf geheimnisvolle Weise oder par ordre du Mufti bestimmt. Es ist die Haltung des vermeintlichen Freiheitskämpfers, die der Autor an den Tag legt. Er will eine „Bewegung für die Freiheit und gegen die freundliche Übernahme durch die smarten Diktatoren“ ins Leben rufen. Was er mit seiner fehlsichtigen Kritik aber tatsächlich tut, ist dem Staat, der uns bereits ungefragt überwacht und die von der Internetindustrie bereitgestellten Mittel ausnutzt und missbraucht, noch mehr Macht zu geben. Insofern ist Harald Welzers Buch tatsächlich, was es im Untertitel zu sein verspricht: Ein Angriff auf unsere Freiheit.

Einer solchen „Kritik“ möchte man das Wort des Thukydides entgegenhalten: „Das Geheimnis der Freiheit ist der Mut.“

Der Mut bestünde hier darin, nicht nach denjenigen zu rufen, die unsere Freiheit tatsächlich bereits einschränken, und sie zu bitten, die Menschheit vor Neuerungen und Unsicherheiten zu bewahren – nur weil es allzu opportun ist, die üblichen Verdächtigen zu verteufeln. Stattdessen würde es der Mutige wagen, über eine echte und ehrliche Kritik an den Verhältnissen nachzudenken – eine, die nicht falsche Götzen und Feindbilder aufbaut, eine, die nicht wohlfeil ist und dem Mainstream nach dem Mund redet.

Titelbild

Harald Welzer: Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
320 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783100024916

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