Gang in die Großstadt

Primus-Heinz Kuchers Sammelband auf den Spuren von Avantgarde und Moderne in Literatur, Theater, Kunst und Musik in Österreich 1918-1938

Von Silke SchwaigerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Silke Schwaiger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Forschung und Literaturgeschichtsschreibung verorten experimentell-avantgardistische Bewegungen in der Zwischenkriegszeit traditionell in der Weimarer Republik. Allen voran steht dabei Berlin als pulsierendes Zentrum und Sinnbild für Modernität und Fortschritt. Wien befindet sich bei diesen Diskussionen eher in einer peripheren Position, obwohl Hubert van den Berg (2011) in einem Beitrag zur Topographie der europäischen Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts und ihrer Vernetzung auch die österreichische Metropole zu den „avantgardefähigen“ zählt.

Das verdränge und vergessene Potential von Avantgarde und Moderne im österreichischen Kontext beleuchtet die vorliegende Publikation. Der von Primus-Heinz Kucher herausgegebene Sammelband setzt neue Akzente zum Epochenprofil der Zwischenkriegszeit und fasst wesentliche Ergebnisse einer 2012 an der Universität Klagenfurt stattgefundenen, internationalen Arbeitstagung zu transdisziplinären Projekten in Kunst, Kultur und Literatur zusammen. Der Band, so sein Herausgeber programmatisch in den einleitenden Bemerkungen, möchte zur „Neubewertung des vergessenen wie verdrängten, jedenfalls hochproduktiven literarisch-kulturell-künstlerischen Feldes der 1920er und 1930er Jahre in Österreich einen Beitrag leisten“. Dieser Programmatik – so viel vorweg – werden die Aufsätze, die sich in drei größeren Themenblöcken mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung versammeln, auch mehr als gerecht.

Eingeleitet wird der Band von Zoltan Peter, der den Versuch einer Vermessung des Wiener Avantgardefelds unternimmt. Er verdeutlicht, wie auch nachfolgende Beiträge illustrieren, dass sich die europäische avantgardistische Kunst im Spannungsfeld und Einflussbereich des russischen Konstruktivismus und der amerikanischen Kultur, hier vor allem dem Film, des Jazz und der Architektur, bewegt. Peter arbeitet nach seiner Skizzierung des Wiener Avantgardefelds unterschiedliche Positionen einzelner künstlerischer Akteure heraus und verweist dabei ausführlicher auf (auch für andere KünstlerInnen programmatische) Positionierungen des Wiener Schriftstellers Hans Suschny und des Architekten Josef Frank, die konträre, aber gleichzeitig auch sich überschneidende Standpunkte vertreten.

Hans Suschny ist ein Vertreter konstruktivistischer Kreise, und sein bislang nur in ungarischer Übersetzung vorliegendes Theaterstück (das erfreulicherweise auszugsweise in deutscher Übersetzung im Beitrag abgedruckt wurde) könne, laut Peter, „als ein Musterbeispiel für jene konstruktivistischen Werke gelten, die um 1920-25 für Aufsehen wie Kontroversen sorgten“. Josef Frank hingegen gelte im Bereich der Architektur, ähnlich wie Karl Kraus im literarischen Betrieb, als „milde[r] Reformer der klassischen Moderne“. Beide waren kurzzeitig durchaus aktive Mitglieder der internationalen Avantgarde, von der sie sich jedoch schließlich abwendeten. Doch obwohl Frank konstruktivistisch-funktionalistische Bewegungen strikt ablehnte, plante und realisierte er dennoch Projekte wie beispielsweise die Wiener Werkbundsiedlung, die als Beispiel funktionalistischer Architektur gilt und avantgardistische Akzente setzt.

Dennoch beschreitet die Wiener Avantgarde einen anderen, sogenannten „dritten Weg“, wie ihn Peter bezeichnet. Dieser versucht eine Synthese zwischen Neubeginn und Festhalten bzw. Aufrechterhalten von Traditionen. In Bezug auf Frank meint dies eine Synthese aus dem Stil der Wiener Gemeindebauarchitektur und avantgardistisch-funktionalistischer Architektur.

Mit Ausnahme des ersten, einleitenden Beitrags, der wichtige Grundlagen für nachfolgende Ausführungen legt, widmen sich die Arbeiten im ersten Abschnitt des Sammelbands vor allem neuen, innovativen Theaterkonzepten und zeitbezogenen Aspekten der Theaterpraxis. Dabei finden exemplarisch KünstlerInnen Erwähnung wie etwa Friedrich Kiesler oder Erika Giovanna Klien, die lange ‚vergessen‘ und erst spät wiederentdeckt wurden, dennoch aber über Österreichs Grenzen hinaus internationale Anerkennung fanden. Klien wird im Band mehrfach erwähnt – als eine der führenden VertreterInnen des Wiener Kinetismus entwickelte sie etwa die Idee zum Kinetischen Marionettentheater, „eine Kulmination aller Stilversuche mit abstrakten Formen“. Ein Ausschnitt ihrer Malerei mit dem Titel Gang in die Großstadt wurde auch als Titelbild für das Buchcover des Sammelbands gewählt.

Der zweite Themenblock fokussiert Entwicklungen in Architektur und Musik, wobei sich auch hier – ähnlich wie im ersten Abschnitt – vielfältige Überschneidungen zu anderen künstlerischen und ästhetischen Bereichen auftun. So etwa im Beitrag von Rebecca Unterberger, der sich mit Aspekten der Avantgarde-Debatte anhand der musikalischen Produktion Ernst Kreneks auseinandersetzt, dabei unterschiedlichen Diskurskonstellationen nachspürt und Querverbindungen und Überschneidungen künstlerischer wie ästhetischer Diskurse sichtbar werden lässt. Diese zeigen sich nicht zuletzt deutlich in den beiden fallstudienartigen Zeitschriftenanalysen – den in Wien erschienenen Musikblätter[n] des Anbruch und der Berliner Zeitschrift Der Querschnitt – die Namen sind dabei Programm. So treffen etwa in Der Querschnitt Avantgarde, Neue Sachlichkeit und ‚Habsburgischer Mythos‘ in „bewusst widersprüchlicher Montage einer janusköpfigen Moderne“ aufeinander.

Der dritte und schließlich letzte Themenblock widmet sich der Literatur im engeren Sinn und diskutiert literarische Arbeiten – so etwa Mela Hartwigs Erzählung Das Verbrechen im Kontext des Freud’schen psychoanalytischen Diskurses.

Der Sammelband legt ein beeindruckendes Spektrum an künstlerischen Produktionen im Kontext von Avantgarde und Moderne im Österreich der Zwischenkriegszeit offen und illustriert deutliche Querverbindungen zwischen den ästhetischen und künstlerischen Diskursen. Darüber hinaus lädt er durchaus zu weiteren Forschungsarbeiten ein – so etwa zu ausführlicheren Auseinandersetzungen mit dem Film- und Tanzbereich, die im Band eher am Rande Berücksichtigung finden.

Titelbild

Primus-Heinz Kucher (Hg.): Verdrängte Moderne – vergessene Avantgarde. Diskurskonstellationen zwischen Literatur, Theater, Kunst und Musik in Österreich 1918 – 1938.
V&R unipress, Göttingen 2015.
296 Seiten, 50,00 EUR.
ISBN-13: 9783847104940

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