Märchentherapie

Mit „Lebensgeister“ möchte Banana Yoshimoto Schwächen überwinden helfen und Resilienz fördern

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass es bei Banana Yoshimotos Roman Lebensgeister um eine Katastrophe jenseits der Alltagsdimension geht, bleibt den Lesern der deutschen Übersetzung des japanischen Originals Sweet Hereafter vorenthalten. Die Entscheidung des Verlags, den Text der Autorin als weiteres Werk ihrer bewährten Hausapotheke zur Kur von Kummer und Herzeleid zu handhaben, ist in gewisser Hinsicht verständlich: Die Dreifachkatastrophe von Fukushima liegt immerhin schon fünf Jahre zurück. Eventuell traut man dem Lesepublikum nicht zu, noch Interesse an den tragischen Ereignissen des Jahres 2011 zu besitzen. Yoshimotos Werk nimmt aber im Nachwort der Originalausgabe ausdrücklich darauf Bezug, und die Verfasserin will es so verstanden wissen – als Allegorie auf „Fukushima“. Bei der Lektüre der deutschen Lebensgeister könnte sich ohne diese Rahmensetzung Überdruss einstellen an der ewig tröstenden „Kultautorin“ aus Japan, deren Botschaft in ihrer Wiederholung beinahe aufdringlich wirkt.

Verlust, Schmerz, Akzeptanz und der Anfang neuer Möglichkeiten – Yoshimotos Aufbau der Erzählung über Sayoko, deren Partner bei einem Autounfall stirbt und die, selbst schwer verletzt, erst langsam wieder zu Kräften kommt, entspricht dem klassischen Modell der Trauerphasen, wie es etwa die Schweizer Analytikerin und Jung-Adeptin Verena Kast entwirft. Insofern ist es nur konsequent, wenn die Autorin eine Art von Märchenerzählung dazu nutzt, der Protagonistin lebensfördernde Momente zu offerieren. Unmittelbar nach dem Unfall trifft sie als bewusstlose Patientin im Krankenhaus in ihren Träumen den verstorbenen Großvater wieder, den sie sehr geliebt hat; ebenso den Lieblingshund aus Kindertagen. Im Kontakt mit diesen Präsenzen erfährt sie ein Gefühl der Geborgenheit und entwickelt ein Maß an Resilienz, das ihr hilft, ihren Weg weiter zu gehen.

Märchenhaft mutet es an, wie Sayokos Beziehung zu dem verunglückten Yôichi ausgestaltet wird: Der Künstler, ein Bildhauer, der mit Stahlstäben arbeitet, erscheint als früh Vollendeter. Er ist, wie die junge Frau aus der Ich-Perspektive erzählt, seinem Schicksal entgegengefahren, das es eben wollte, aus der harmlosen Fahrt durch die Hügel der Kaiserstadt Kyôto ein Zusammentreffen mit dem Tod zu machen. Auch Sayoko ist offenbar jederzeit bereit, ins Jenseits hinüberzugleiten, denn sie empfindet nichts als tiefe Dankbarkeit für ihr bisheriges, erfülltes Dasein: „In meiner Zeit auf Erden habe ich so vieles gesehen und erlebt; wunderschöne Landschaften, unvergessliche Momente. Ich hatte stets ein Dach über dem Kopf, war gesegnet mit guten Eltern und guter Gesundheit, habe jeden Tag gelacht und viel gegessen.“ Im Format der Märchenpädagogik rät die Autorin zur Bescheidenheit der Ansprüche, mahnt den Menschen, sich in seiner miniaturhaften Relation zum Großen und Ganzen zu erkennen und fordert dergestalt, stets mit leichtem Gepäck zu reisen.

Nachdem die junge Frau die Phase des ersten Rückzugs und der langsamen inneren Entfernung von Eltern und Schwiegereltern in spe durchschritten hat, muss sie zuletzt die Bande zur Geisterwelt lösen, um ihre „Seele“ wiederzugewinnen. Zu ihren neuen zwischenmenschlichen Kontakten gehört ein übersinnlich begabter Barbesitzer, der ursprünglich aus dem „spirituellen“ Okinawa stammt. Yoshimoto deutet an, dass dennoch eine geerdete Zukunftsperspektive entsteht. Der Barmann, so hat man Sayoko zugetragen, sei in sie verliebt! Er hat, wie sich später herausstellt, einen Sohn. Sayoko könnte die Mutterrolle einnehmen, hat sie doch den Wunsch nach eigenen Kindern mit dem schweren Unfall und dem Tod ihres Partners aufgeben müssen. Vielleicht findet die gereifte Protagonistin nun sogar eine Existenzweise, die besser zu ihr passt als Kunststudium und Mitarbeit am Projekt „Yôichi“.

So weit, so märchenhaft. Die Geschichte bleibt bis zum Ende Ratgeberliteratur im Frauenzeitschriften-Format. Wer nicht weiß, dass Yoshimoto mit Sweet Hereafter nach der Dreifachkatastrophe vom 11. März 2011 der nationalen Aufforderung an die Kunst folgen möchte, eine Verarbeitung der Ereignisse anzubieten und dem japanischen Volk Trost zu spenden, so die offizielle Formulierung, um das Schreckliche zu überwinden, denkt wahrscheinlich, die Autorin leide an Ideenlosigkeit und liefere zusehends dünnere Varianten ihrer bibliotherapeutisch aufbereiteten Prosa. Das ist schade, denn die Tiefendimension des Texts gibt ihm zumindest einige Bedeutsamkeit bezüglich einer Literaturgeschichte der Post-Fukushima-Literatur. Die Fukushima-Referenz erklärt zudem das von Sayoko an sich gerichtete Verbot andauernder Trauer, die „das Himmelreich“ verdunkele, sowie den Hinweis, egoistischen Wünschen wäre zugunsten eines selbstlosen Einsatzes für das Kollektiv abzuschwören. Ohne das Geschehen vom März 2011 wäre Yoshimoto wohl nicht in diesem Maße moralisch und sentimental geworden.

Titelbild

Banana Yoshimoto: Lebensgeister.
Übersetzt aus dem Japanischen von Thomas Eggenberg.
Diogenes Verlag, Zürich 2016.
159 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783257300420

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