Wider die „besseren Wörter“

Zum Tod Ilse Aichingers

Von Iris HermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Iris Hermann

Kaum eine Zuschreibung hat sich hartnäckiger halten können als die, im Schreiben Ilse Aichingers nehme das Schweigen einen besonderen Platz ein, ja, es sei vor allem ein Warnen vor dem allzu leichtfüßig sich Äußernden. Das ganze Werk sei ein Aufruf, die Sprache, bevor sie sich artikuliere, noch einmal zu überdenken. Es sei aber auch ein Schweigen deshalb, weil Ilse Aichinger nicht kontinuierlich veröffentlicht habe – immer wieder gab es tatsächlich lange Phasen vor allem in den 1980er und 1990er Jahren, in denen kein Buch von ihr erschien.

Angesichts des Werkes der Wiener Schriftstellerin, die nun wenige Tage nach ihrem 95. Geburtstag gestorben ist, verbietet sich bei näherer Beschäftigung das immer wieder beschworene Schweigen als Kennzeichnung eines Schreibens, das aber – dies ist eher kein Paradox – so radikal sein konnte, dass es dem Verstummen nahekam. Denn immer wieder hat sich Ilse Aichinger mehr als deutlich und vor allem vernehmbar geäußert, gerade auch politisch Stellung bezogen und zu vielem nicht geschwiegen. Noch klingt ihre Weigerung 1995 im Ohr, als Österreich Gastland der Frankfurter Buchmesse war, dort zu erscheinen und sich feiern zu lassen: „Meine mir von dem Schicksal meiner Angehörigen notwendigen Texte sind in der Gesamtausgabe bei S. Fischer in Deutschland erschienen und in Österreich totgeschwiegen worden. Ich bin nicht verträumt, keine Poetin, ich schaue genau hin, auch auf die Lüge dieses für jedes Leiden blinden Staates.“

1948 erscheint (noch in Amsterdam) ihr einziger Roman Die größere Hoffnung, der den Nationalsozialismus aus der Sicht eines Kindes imaginiert und in dieser Fokussierung in der Lage ist, der „Bericht zu sein, wie es wirklich war“. Der Titel ist dabei durchaus wörtlich zu nehmen: Über der staatlich angeordneten Vernichtung alles Jüdischen ist eine Hoffnung nicht zu ersticken, die denen, die dennoch, trotz der präzise arbeitenden Vernichtungsmaschinerie, entrinnen, eigen sein kann. Hoffnung hat Ilse Aichinger tatsächlich immer wieder beschworen und sie war es wohl, die es ihr ermöglichte, auch nach langen Phasen angeblichen Verstummens, sich immer wieder zu Wort zu melden.

Ilse Aichinger ist schon in den 1950er Jahren eine vielbeachtete Schriftstellerin gewesen, wie nicht zuletzt der Preis der Gruppe 47 zeigt, den sie 1952 für ihre Spiegelgeschichte erhält, die ein Leben vom Sterben her erzählt und mit der hoffnungsvoll begrüßten Geburt der Hauptfigur endet. Noch immer viel zu wenig beachtet sind jedoch gerade ihre (frühen) Gedichte, von denen noch viele im Nachlass in Marbach schlummern. Nicht nur in Aichingers Gedichten der 1950er Jahre (Verschenkter Rat) geht es zum einen um das Erinnern an den Holocaust, zum anderen um poetologische Fragen, und – in den Prosagedichten (später Kurzschlüsse genannt), verstreut erschienen in Zeitungen der 1950er Jahre – um Verortungen, das heißt topografisch angelegte Erinnerungsspuren. Nicht selten sind diese Themen so eng miteinander verknüpft, dass es gerechtfertigt erscheint, von einer Poetologie und Topografie des Erinnerns zu sprechen: Es ist ein Gewebe aus Erinnerung (und deren Verortung) und Eingedenken sowie poetischer Selbstreflexivität und Sprachreflexion, das Ilse Aichingers Gedichte konstituiert.

Wenn es im Gedicht Tagsüber in den ersten vier Versen heißt: „Ein ruhiger Junitag / bricht mir die Knochen, / verkehrt mich, / schleudert mich ans Tor, / und mit den Worten endet: „Bleib, lieber Tag.“ wird exemplarisch deutlich, dass diese Gedichte wie alle Texte Aichingers eine Radikalität für sich beanspruchen, die, mit Adorno zu sprechen, „nichts Harmloses mehr dulden.“ Diese Perspektive zeichnet auch die meisten der Erzählungen aus, vor allem aber die, die an Kafka erinnern, wie Der Gefesselte, ein Bruder des Hungerkünstlers: Welche Schönheit gibt es in der auferlegten Beschränktheit des Daseins und wie weist diese wiederum kritisch zurück auf die, die den zu engen Spielraum erzwungen haben? Das ist ein Thema, das sich durch viele Texte zieht und auch solche generiert, die dann deutlicher und allegorisch offener Gesellschaftskritik üben und für die Aichinger die Gattung des Hörspiels wählte, so etwa im berühmt gewordenen Die Knöpfe (1953). Ilse Aichinger verzichtet darauf, noch einen großen Zusammenhang stiftenden Text zu schreiben, sie wird immer skeptischer, welche Worte zu wählen sind, um dem Klischee zu entgehen, das lediglich raunt und zudeckt. Sie will, so macht sie auch in den späteren Essays deutlich, „schlechte Wörter“, eine kleine, sich auf sich selbst zurückziehende Sprache, die nicht infiziert sein will vom Meinen und Dafürhalten, sondern sich selbst meint, eine kristalline, durchsichtige Sprache, die den Blick freigibt auf ihre ästhetische Präzision.

Nach der Jahrtausendwende meldet sich Ilse Aichinger mit einem bemerkenswerten Spätwerk zu Wort: Film und Verhängnis (2001), Unglaubwürdige Reisen (2005) und Subtexte (2006). In ihnen erprobt sie ein flüchtigeres Schreiben, die Notiz, das imaginäre Reisen eines assoziativen Sichfortbewegens, das Aufmerken auf Irritationen, nicht zuletzt aber ist es ihre Kinoleidenschaft, von der sie uns Kunde gibt.

Aufmerksam gemacht hat sie uns immer wieder auf Cioran, dessen pessimistische Konstatierungen sie immer bei sich trug. Gewürzt hat sie ihre Texte damit in kleiner Dosierung, immer wieder die Skepsis hervorbringend, die sich festen Gegenständen verweigert. Ihr Schreiben war zuletzt die reflektierte Suche nicht nach dem, was erscheint und bleibt, sondern nach dem, was verschwindet. Ein Schweigen aber ist dies nicht.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen