Krieg auf dem Smartphone

Abdel Bari Atwan legt eine umfangreiche Analyse des digitalen Terrorismus vor

Von Michael KurzmeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Kurzmeier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Passend zu den aktuellen Bemühungen der Anti-IS-Koalition, die Stadt Mossul im Nordirak zu erobern, stellte der Bilderdienst Snapchat seinen Nutzern eine Foto-und Videostrecke zur Verfügung, welche die Kämpfe aus Sicht des Westens darstellten. So sehr diese etwas unbeholfene Form der Kriegsberichterstattung auf einer Plattform, die bis dato eher für Popstars und Selfies bekannt war auf Kritik stieß, so sehr zeigt dieses Beispiel doch auch, wie der IS seine Gegner auf dem digitalen Schlachtfeld unter Druck setzt. Anscheinend wollte man den Islamisten, denen im Internet inzwischen zugetraut wird, auf jeder erdenklichen Plattform Jugendliche zu radikalisieren, außerhalb der üblichen Überwachungs- und Zensurmaßnamen etwas entgegensetzen.

Das es, ob in den Parlamenten oder bei Snapchat, solche Überlegungen überhaupt gibt, zeigt auch, dass der digitale Raum längst als ein eigenständiges Schlachtfeld erkannt wurde, auf dem es ähnlich wie in den entgrenzten Kämpfen der asymmetrischen Kriegsführung gilt, den Gegner bloßzustellen, zum Einsatz immer kostspieligerer Mittel zu zwingen und zur Erodierung seiner selbstgewählten Grundwerte zu bewegen. Dabei zeigen sich auf der Seite des Terrorismus drei wesentliche Merkmale, die auch ihren Weg in den digitalen Raum gefunden haben:

Erstens ist der internationale „Kampf gegen den Terror“ eskaliert und wird in seiner Intensität noch weiter eskalieren. Auch wenn der Westen sich derzeit tunlichst zurückhält, Bodentruppen zu entsenden, steht der IS doch unter massivem militärischem Druck. Seine Strukturen müssen sich also diesem Druck anpassen können. Dies geschieht durch dezentrale Strukturen ohne prominente Führungspersönlichkeiten, so dass sogenannte „gezielte Tötungen“ nicht ganze Kommandostrukturen zerstören können. Seit dem Tod von Abu Bakr al-Hussein al-Quraishi al-Baghdadi wird das Aufkommen eines Personenkults vermieden, um seine eigene Angriffsfläche zu reduzieren. Die Evolutionsrate organisatorischer Strukturen ist immer dann am höchsten, wenn der evolutionäre Druck am höchsten ist. Die derzeitige dezentrale Struktur des IS ist also eine Anpassung an einen mit immer höherer Intensität geführten Krieg.

Zweitens ist der asymmetrische Krieg des modernen Terrorismus ein totaler Krieg, der keinen Unterschied zwischen Zivilisten, Produktionsmitteln und Militär mehr kennt. Das ist keine neue Erkenntnis; viele Kriege der jüngeren Vergangenheit waren von dieser neuen Qualität der Grausamkeit geprägt, aber es ist wichtig in Bezug auf das Wirken des IS im digitalen Raum. So wie Anschläge auf Zivilisten die Zivilgesellschaft zerstören sollen, so erodiert Propaganda im „zivilen“ digitalen Raum freie Debatten. Es geht bei beiden nicht um die mittelbare (also zum Beispiel die militärische Schwächung des Gegners), sondern um die unmittelbare Wirkung (also ein Klima der Angst, der Fremdenfeindlichkeit und der Militarisierung des Alltags).

Drittens sind Kriege mit dem Aufkommen der Massenmedien Kriege der Symbole und Bilder geworden. Auf das Bild der brennenden Zwillingstürme in New York antwortete der Westen mit einer Flut von Drohnenvideos, auf die Folterbilder aus Abu Graib folgten Videos grausamer Hinrichtungen amerikanischer Bürger. Diese Entwicklung wurde durch das Internet potenziert. So wie die Eroberung Mossuls auf jedem Smartphone verfolgbar ist, so veröffentlicht der IS seine Hinrichtungen in hochauflösenden Videos, die wie in einem Hollywoodfilm aus mehreren Perspektiven gefilmt und dramaturgisch geschickt geschnitten sind. So verstärkt sich die Wirkung der Tat durch ihre Verbreitung. Eine Hinrichtung, ein Bombenattentat, ein Drohnenangriff sind nur dann effektiv, wenn sie medial verbreitet werden und sich in das kollektive Gedächtnis des Gegners einbrennen.

Genau diese absurde Beziehung zwischen realer Gewalt und virtuellem „Bilderkrieg“, asymmetrischer Kriegsführung und modernsten Mitteln der Informationsgewinnung und -verbreitung untersucht Abdel Bari Atwan in Das digitale Kalifat. Der Autor ist dabei sehr darauf bedacht, die derzeitigen Zustände als das Resultat geschichtlicher Entwicklungen darzustellen. So befasst er sich teils sehr umfangreich mit den geographischen Ursprüngen des politischen Islams, einflussreichen Theoretikern und Praktikern des Dschihad sowie mit politischen Einflüssen, Förderungen und Interventionen der Supermächte. Atwan erklärt diese Zusammenhänge schlüssig und mit großem Sachverständnis.

Dabei ist er trotz Detailreichtums nie auf Personen fixiert, sondern versteht Ereignisse immer als strukturbedingt. So werden etwa die Anschläge des vergangenen Jahres in Frankreich, Kanada und Deutschland als Resultat einer Medienkampagne erklärt, die sich direkt an den „typischen“ Internetbenutzer richtete. Auch wenn die Täter je nach Sichtweise als psychisch kranke Einzeltäter oder als Islamisten bezeichnet werden, gemeinsam haben sie eine verhältnismäßig schnelle Radikalisierung durch digitale Inhalte, die auf gängigen Kommunikationsplattformen verbreitet werden. Auch mahnt Atwan diejenigen zur Vorsicht, die in der kommenden Rückeroberung Mossuls einen entscheidenden Sieg über den IS sehen wollen. Eine so flexibel agierende Struktur, so sein Argument, sei viel weniger auf Territorium und Personen angewiesen als die Vorgängerorganisation Al-Quaida. Gegen einen solchen schwarmartig organisierten Gegner nützen aus westlicher Sicht symbolisch wirksame Schläge wenig, insbesondere da die angekündigte Befriedung des Iraks die Öffentlichkeit zu sehr an den Feldzug von 2003 erinnern könnte.

Bei aller kluger Analyse tut sich Atwan schwer, eine probate Lösung zu skizzieren. Zwar schlägt er einen integrativen Prozess vor, der Super- und Regionalmächte mit einschließt, führt dies wohl in Anbetracht der Unwahrscheinlichkeit dieses Vorschlags aber nicht weiter aus. Das Buch behandelt sehr aktuelle Ereignisse und es spricht für das Vertrauen des Autors in seine Recherche, zeitnah bereits eine Analyse zu liefern. Nur eine etwas umfassendere Beschreibung über den digitalen Aufbau des IS fehlt etwas. Angesichts der Ausführlichkeit, die den Ursprüngen gewidmet wird, kommt der digitale Teil bisweilen etwas zu kurz. Dazu gibt es einige Ungenauigkeiten, die wohl teils der Übersetzung anzulasten sind. So wird „anonym“ gelegentlich im Sinne von „ohne Klarnamen“ verwendet, dann wieder im Sinne von „sicher verschlüsselt“. Auch die Behauptung, Skype sei abhörsicher, ist seit den Enthüllungen Snowdens in 2013 widerlegt.

Dennoch ist dieses Buch eine fundierte und sachliche Analyse der einflussreichsten gegenwärtigen Terrororganisation. Atwan erläutert viele Zusammenhänge und vor allem auch Unterschiede zu vergangenen Terrorgruppen. Dabei hilft seine strukturelle Herangehensweise, Terrorismus als Konflikt von Strukturen und nicht etwa Religionen zu sehen. Durch seine kluge Analyse und ein Netzwerk an Kontakten hat er wohl die umfangreichste Darstellung der digitalen Strategie des IS dargelegt, die bis dato existiert.

Titelbild

Abdel Bari Atwan: Das digitale Kalifat. Die geheime Macht des Islamischen Staates.
Übersetzt aus dem Englischen von Laura Su Bischoff.
Verlag C.H.Beck, München 2016.
299 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783406697272

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