Umstritten und vergessen

Volker Bühns umfangreiche Werkbiografie würdigt den Wiener Literaten Alfred Grünewald

Von Michael EschmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Eschmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alfred Grünewald (geboren am 17.3.1884 in Wien, gestorben am 9.9.1942 in Auschwitz) war ein produktiver, dabei kreativer Schriftsteller, der selbst unter schwierigen Lebensbedingungen (Armut, Gefangenschaft, Krankheit) fleißig weiterschrieb. Die eigene künstlerische Identität fasste er treffend in einem Aphorismus zusammen: „Wer ein Zentrum hat, der findet schon hin.“

Zu Lebzeiten veröffentlichte Grünewald 20 Titel (Theatermanuskripte nicht mitgerechnet): Dramenwerke, Balladenbücher, Lyrikbände und eine Aphorismen-Sammlung. Sein Schwerpunkt blieb zeitlebens die Lyrik. Aber gerade bei seinen Gedichten spaltet sich die Leserschaft bis heute in zwei unversöhnliche Lager. Für die einen sind die teilweise stark expressiven Werke genial ausgefeilt und im Versmaß meisterhaft vollendet. Andere hingegen empfinden manche Ausdrucksweisen als antiquiert und/oder gekünstelt. Erstaunlicherweise wurde der homo-erotische Gedichte-Zyklus Sonette für einen Knaben, der 1920 im Ed. Strache Verlag in Wien erschien, vom damaligen Feuilleton begeistert gefeiert. Von der gerade sich emanzipierenden Homosexuellenbewegung hingegen wurde er fast durchgehend abgelehnt.

Aufgewachsen in einem bürgerlichen Haushalt, studierte er zunächst Architektur. Danach fand er für einige Zeit eine Anstellung in einem Architekturbüro. Interesse für das Schreiben entstand aber bereits in den Studentenjahren. Die ersten Bücher waren ein Gedichtband Vom Lachen und vom Müdesein sowie das Drama Sonnenpeter. Beide erschienen 1906 im Verlag für Literatur, Kunst und Musik in Leipzig.

Anlass für die Verfolgung durch die Nationalsozialisten waren Grünewalds jüdische Wurzeln (er konvertierte allerdings bereits 1909 zum Katholizismus) und seine bekennende Homosexualität. Am 11. März 1938, dem Vorabend des Einmarschs der Nationalsozialisten in Österreich, unternahm er einen Suizidversuch. Gerettet wurde er von einer aufmerksamen Nachbarin. Eine Internierung in das Konzentrationslager Dachau folgte. Nach einem Jahr wurde er entlassen. Eine Flucht über die Schweiz, Italien nach Südfrankreich begann. Dann, 1940, geschah eine erneute Internierung in Fort Antibes, später wurde er nach Nizza entlassen. Im Herbst 1942 Festnahme durch die Gestapo mit Auslieferung in das Vernichtungslager Auschwitz.

Wer sich intensiver mit diesem fast vergessenen Dichter beschäftigen möchte, dem gibt Volker Bühn mit seinem Buch nun eine umfassende gute Grundlage in die Hand. Der Untertitel lautet: „Werk und Leben“, nicht „Leben und Werk“. Im Vordergrund stehen die Texte Grünewalds und die daraus gewonnenen Textanalysen. „Aufgrund der stark lückenhaften biographischen Daten wird damit dem Werk ein Vorrang eingeräumt.“ Eigentlich ist dies ein sehr gewagter Versuch, denn die Gefahr bei derartigen Unternehmen ist eine Überinterpretation literarischer Texte (in diesem Fall: Essays und Aphorismen), was der Autor aber umgeht.

Durchdacht und kritisch geht Bühn als Textinterpret vor. Schwierige und manchmal auch diskussionswürdige Thesen (z. B. Einsamkeits- und Geniebegriff) werden von ihm mit Akribie und Fakten überzeugend belegt. Dazu ist der Band sehr schön gestaltet. Das Layout und der harmonische Satzspiegel inspirieren, das Buch mehr als nur einmal in die Hand zu nehmen. Vollständig wurden Verzeichnisse der gedruckten und nicht gedruckten Werke erstellt. Ferner erfolgte eine präzise Auflistung der zahlreichen und weit zerstreuten Zeitschriftenbeiträge. So ist ein gut recherchiertes Handbuch von bleibendem Wert entstanden. 

Titelbild

Volker Bühn: Alfred Grünewald. Werk und Leben.
Böhlau Verlag, Wien 2016.
470 Seiten, 55,00 EUR.
ISBN-13: 9783205203056

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch