„Soll ich schreiben, daß ich Dich brauche?“

Hubert Fichtes Briefe an Leonore Mau

Von Björn BertramsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Björn Bertrams

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jäcki fragte Irma, ob sie ihn verließe, wenn sie die Kraft dazu hätte.
– Wieso?
– Weggehen hat ja auch etwas mit Koffertragen zu tun.
– Deine Frage ist falsch gestellt.
– Sie setzt voraus, daß das Bleiben weniger Kraft erfordert.
Jäcki schreibt es in sein Tagebuch.
Er findet Irmas Antwort sehr hart und sehr liebevoll.  (aus: Hubert Fichte: Explosion. Roman der Ethnologie)

„Sehr hart und sehr liebevoll“ – damit ist die Beziehung von Irma und Jäcki in ihrer harschen Ambivalenz treffend beschrieben. Leser Hubert Fichtes kennen diese ‚wilde Ehe‘ aus seinen Romanen. Und sie lesen das Paar Jäcki–Irma als literarisches Kondensat des Künstlerpaars Hubert Fichte–Leonore Mau. Im 1968 erschienen Roman Die Palette über die gleichnamige Schwulenbar in Hamburg erscheint Irma erstmals an der Textoberfläche. In den ethnografischen Bänden Xango (1976) und Petersilie (1980) über die afroamerikanischen Religionen treten Fichte und Mau als Dokumentaristen unter ihren authentischen Namen auf. Mau stellt ihre Fotografien in Form zweier großformatiger Bildbände den Texten Fichtes zur Seite. Im groß angelegten, posthum in 17 Bänden erschienen Werkkomplex Die Geschichte der Empfindlichkeit (1987–1994/2006) wird Irma schließlich zur zweiten Hauptfigur neben Jäcki. Die Hauptfigur in Fichtes Leben ist Leonore Mau allerdings schon seit 1961.

Von Anfang an ist das gemeinsame Leben von Konflikten geprägt. Fichtes Romane zeigen die Beziehung zunächst einmal als eine einzige Zumutung – für die Frau. Aus einer bürgerlichen Ehe mit zwei Kindern kommend lässt sie sich auf die waghalsige Beziehung zu einem rund zwanzig Jahre jüngeren Mann ein, einem bekennenden Homosexuellen, der jeden „kuhäugigen“ Männerblick zielstrebig zur Befriedigung führt und damit unverhohlen prahlt. Die Briefe Fichtes an Leonore Mau, die Peter Braun nun herausgegeben hat, bestätigen dieses Bild des sexuell Umtriebigen – einerseits. Andererseits wird hier deutlich, auf welch einfühlsame Zärtlichkeit die Beziehung gründet. Nicht zuletzt aber, und dies erklärt vermutlich die Beständigkeit des Verhältnisses, sind beide stets zur Ironisierung ihrer Befindlichkeiten fähig.

Auf welch prekärer Basis sich die Beziehung anfangs einrichtet, wird gleich im ersten Brief ersichtlich. Fichte schreibt Mau aus Montjustin, einem Dorf in der Provence, wo er Anfang der 1960er Jahre als Schafhirte arbeitet, daneben schreibt und ein Liebesverhältnis zum dort ansässigen Maler Serge Fiorio eingeht. Als die Möglichkeit einer Schwangerschaft Leonore Maus für eine Zeit lang wahrscheinlich wird, macht er ihr sofort seinen Standpunkt klar: „Entweder mit Dir einen Hausstand gründen – ohne zu schreiben – oder schreiben und alles geht weiter wie zuvor – ohne Kind.“ Seine Entscheidung fällt er für das Schreiben. Und er scheut sich nicht, die Entscheidung in eine Schicksalsfügung zu verkehren: „die Würfel sind also gefallen“. Zwar dämpft er im Folgenden diesen Fatalismus; klar ist dennoch: die Kunst verträgt keine Kompromisse.

In Kompromissen wollte sich das Künstlerpaar nicht einrichten. Und dennoch war die Loslösung aus Abhängigkeitsverhältnissen alles andere als einfach. Mit journalistischen Aufträgen finanzierten sie ihre langen Reisen (die erste 1964), deren künstlerischer Ertrag erst ab 1976 allmählich sichtbar wird. Die geplante Geschichte der Empfindlichkeit wollte Fichte zurückhalten, solange sie nicht abgeschlossen war. Ökonomische Zwänge, aber auch der soziale Zeitgeist forderten das Paar immer wieder heraus. Fichte konnte sich als Teil einer mit Jean Genet aufkeimenden, in den 1970er Jahren erstarkenden schwulen Gegenkultur ansehen. Die literarische Zurschaustellung seines Begehrens steht der literarischen Sublimierung oder Camouflage von Homosexualität einer älteren Generation, zu der etwa Thomas Mann oder Marcel Proust gehören, diametral entgegen. Die Präsenz des Sexuellen bei Fichte entstammt durchaus einem leicht zu verkennenden sozialpolitischen Emanzipationsdrang. In der Rückschau von heute aus scheint Fichte nur das Klischee der homosexuellen Promiskuität zu bedienen, welche die emanzipatorische Bewegung hedonistisch überformte. Die an Mau adressierte Äußerung „Ich ficke viel und hoffe von Dir das gleiche“ ist vielleicht schon jetzt der in den Feuilletons meist zitierte Fichte-Satz.

Fichte verfolgte aber auch ein lebenskünstlerisches Programm der Androgynität und Bisexualität, das er mit Leonore Mau lebte und das der homosexuellen Heterotopie widerstand. Der gemeinsame Lebensentwurf des Paars Fichte–Mau trotzte dem ‚sittlichen Empfinden‘ bürgerlicher Ehevorstellungen ebenso wie der Einrichtung einer homosexuellen Parallelgesellschaft. Gelebte Utopie, könnte man sagen, wäre da nicht der hartnäckige Eindruck, dass die Freiheit, die sich das Paar nahm, irgendwie ungleich auf die beiden verteilt war. Ein einziger Brief Leonore Maus an Fichte ist als Entwurf erhalten; darin notiert sie: „Freiheit und vermagst sie doch nur an der Unfreiheit zu messen.“ Tatsächlich wirkt Fichtes Freiheitsdrang nicht selten allzu selbstisch, als ein ungestümes Abschütteln sozialer Pflichten.

Im April 1970 fürchtet Fichte für eine Weile, seine Frau verloren zu haben; das Linienflugzeug, das sie von Marokko nach Paris bringen sollte, stürzt ab. Im Brief an Leonore Mau äußert Fichte den grauenhaften Schock, den er in Sorge um sie erlitt. Im Roman Der Platz der Gehenkten (1989) schreibt er: „Irma war abgestürzt. / – Ich bin frei.“ Der Schockmoment, den Fichte in der Fiktion als Gefühl von Freiheit benennt, macht ihm de facto seine emotionale Abhängigkeit bewusst: „Soll ich schreiben, daß ich Dich brauche? Es ist so, aber ich schreibe es nicht gern. Es ist nichts Gutes, wenn man jemanden nur braucht.“ Leonore Mau saß glücklicherweise nicht im verunglückten Flugzeug. Ihr Leben überdauerte schließlich dasjenige Hubert Fichtes. Er wird ihr Begleiter gewesen sein für etwa ein Drittel ihres Lebens.

Über diese gemeinsame Lebensphase und die Gestalt der Beziehung wissen wir nun etwas mehr dank der sorgfältigen Briefedition Peter Brauns. Dennoch bleibt Leonore Mau in gewisser Weise eine Schattenfigur. Was man über Irma weiß aus Fichtes Texten, ergibt ein paar Umrisse dieser Figur. Abgesehen von der literarisierten Lebensgeschichte, die Fichte in Hotel Garni (1987) wiedergibt und die vom Ende her gesehen nur einen kleinen Ausschnitt darstellt, bleibt recht wenig, das die Persönlichkeit Leonore Maus rekonstruieren ließe. Ihre Antwortbriefe an Fichte sind verloren. Als biografisches Dokument verfügbar ist immerhin ein Film über die Fotografin, den die Regisseurin Natalie David 2005 gedreht hat. Peter Braun spricht in Bezug auf Fichtes Briefe von einer „Reliefwirkung“, in welcher die Figur Irma im fiktionalen Raum „Tiefenschärfe und Möglichkeitssinn“ erhielte. Um diese Dimensionierung zu fördern, schlägt Braun von den Briefen ausgehend immer wieder Schneisen in das literarische Werk Fichtes und erleichtert damit eine Einsicht in die Verschränkung von Leben und Werk. Doch wie die erhaltenen Briefe verläuft auch dieses Verständnis lediglich in eine Richtung. Irma ist nun einmal eine Figur Hubert Fichtes. Dieser Figur mögen die Briefe neue Aufmerksamkeit verleihen. – Leonore Mau bleibt weiter im Hintergrund. Die persönliche Abwesenheit war ihr künstlerischer Daseinsmodus, nicht zuletzt in der Fotografie.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Hubert Fichte: Ich beiße Dich zum Abschied ganz zart. Briefe an Leonore Mau.
Herausgegeben von Peter Braun.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
256 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783100025159

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