Ein präpariertes Nilkrokodil und unerhörte Geschichten

Zu einem Sammelband von Alfred Messerli und Michael Schilling über „Die Intermedialität des Flugblatts in der Frühen Neuzeit“

Von Martina WernliRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martina Wernli

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer von Medien, Medialität oder Intermedialität spricht, kommt nicht um eine Begriffsklärung herum: Was in den letzten dreißig Jahren die Kulturwissenschaften beschäftigt hat, ist je nach Zeitraum und Kontext etwas Unterschiedliches. So beginnt Alfred Messerli in seinem einleitenden Text zum Band über Intermedialität im Flugblatt auch gleich mit dem Umreißen des Begriffs und seiner (Forschungs-)Geschichte. Messerli versteht darunter eine Medienmischung, wobei diese Mischung nicht nur aus der Summe der involvierten Medien, sondern vor allem durch eine Prozessualität ihres Zusammenwirkens gekennzeichnet ist. Die Begriffsgeschichte setzt er mit Dick Higgins’ intermedia (1966) an, was dieser anhand der Texte Coleridges entwickelt hatte. Messerli berücksichtigt aber auch die ältere Tradition (Stichwort Horaz: ut pictura poesis oder Lessings Laokoon) und setzt sie in Bezug zu einem Forschungsüberblick. Darin lokalisiert er eine Lücke in der Beschäftigung mit Bild und Musik.

In seiner Ko-Einleitung stellt Michael Schilling das frühneuzeitliche Flugblatt als Paradigma einer historischen Intermedialitätsforschung vor. Dabei unterscheidet er zwischen einem generellen Ausdruck und einer „konzeptionellen Intermedialität“, in der Medien intentional und reflektiert miteinander verknüpft werden – Schilling fasst den Begriff damit enger als etwa Irina O. Rajewsky. Das Flugblatt muss nach Schelling auf zweierlei Ebenen untersucht werden, auf der technischen und auf der Kommunikationsebene. In einem konkreten Beispiel analysiert er ein Liedflugblatt. Als weitere Merkmale der Flugblätter beschreibt Schilling die Verbindung zu Stimme und Körper: Stimmen, die das Flugblatt lesen, mündliche Rede, die auf die Kolporteure ausgerichtet seien sowie Gesten und Mimik, die beim Verkauf der Flugblätter zentral gewesen sein dürften. Schließlich finden sich Flugblätter nach Schilling auch zwischen Handschrift und Druck, weil sie abgeschrieben wurden oder Auslassungen aufwiesen, in die formularartig geschrieben werden konnte.

Das Flugblatt und die Flugschrift sind (so Schilling) im Gegensatz zur Zeitung akzidentielle Drucke, sie erscheinen unregelmäßig und eignen sich für Textsorten wie Satire oder Polemik, weil sie weniger den Restriktionen durch die Zensur ausgesetzt sind. Im Unterschied zur Flugschrift ist das Bild beim Flugblatt von entscheidender Bedeutung. Dies hat zur Folge, dass der Band materialzentriert gehalten ist und sich durch die Präsentation und Analyse von Flugblatt(-bildern) auszeichnet. So werden Bilder und Texte einer schrecklichen Mordtat verglichen, ein Kopf eines angeblich in Grönland gefangenen Einhorns und ein Krokodil gezeigt, dessen Gesamtlänge die Formschneider zu kreativen Lösungen veranlasste (wie in Michael Schillings Beitrag ersichtlich wird). Der Autor zeichnet dort besondere Aspekte etwa unter dem Schlagwort der Polyperspektivität, Augenzeugenschaft oder Verwissenschaftlichung des und im Dargestellten nach.

Der Band versammelt hauptsächlich Beiträge, die für ein Kolloquium 2010 an der Universität Zürich entstanden sind, hinzu kamen Aufsätze von Tina Asmussen und Flemming Schock. Einige der Beitragenden sind für ihre langjährige Flugblattforschung bekannt.

Intermedialität wird in diesem Band als wichtiges Surplus beschrieben – in Carsten-Peter Warnckes Beitrag etwa sind die Bilder ein „visueller Mehrwert“. Die Illustrationen auf den analysierten Flugblättern können nicht weggelassen werden, sie machen eine eigene Bedeutung aus und sind nicht als bloße Doppelung des gedruckten Textes zu verstehen.

Herfried Vögel untersucht religiös-moralisierende Blätter, in Anlehnung an Gérard Genette postuliert er „peritextuelle Strukturen“ auf gewissen Blättern und beschreibt ihre Schwellenfunktion. Auch Vögel sieht Bild und Text nicht als zwei Teile einer Summe, sondern Bestandteile einer dynamischen Beziehung, die es zwar für eine Analyse heuristisch zu trennen gilt, die jedoch innerhalb des moralischen Konzepts der Beispielblätter untrennbar sind.

Tina Asmussen präsentiert einen Ausschnitt aus ihrer Lizentiatsarbeit über Gewalt in Flugblättern der Wickiana. Gewalt erweist sich ihren Ausführungen zufolge um 1550 als besonders oft medialisiertes Thema. Dabei analysiert Asmussen exemplarisch zwei Flugblätter aus der Sammlung von Johann Jacob Wick (1522-1588), die einen zeitgenössischen Mehrfachmord in Bild und Text darstellen. Die Mordinszenierungen zeigen einerseits die Aufmachung, die eine Leserschaft zum Kauf des Flugblatts überreden will, und andererseits zeigen die unterschiedlichen Varianten davon auch, dass Flugblätter schon damals Sammelobjekte waren.

Auf ein zentrales Paradoxon der Flugblätter in Bezug auf Ereignisse verweist Michael Waltenberger in seinem Beitrag: Wenn angenommen wird, dass Flugblätter ein Geschehen abbilden, ist ihre Position in einem Raum des ‚Danach’ verortet. Betrachtet man ein Ereignis aber verstärkt konstruktivistisch, dann trägt das Flugblatt maßgeblich dazu bei, was ein Ereignis überhaupt ist. Da ein Flugblatt immer auch Aufmerksamkeit generieren muss, kann es nicht nur eine Darstellung eines Abgeschlossenen sein und verbleibt deshalb in seiner paradoxen Ausgangslage, auf etwas in der Vergangenheit zu blicken, das gleichzeitig für die Aufmerksamkeit potentieller Interessenten aktuell gehalten werden soll.

Flemming Schocks Beitrag widmet sich der sogenannten Buntschriftstellerei, die Kuriositäten aus allerlei Quellen versammelt. Schock analysiert den Wissensbestand der Blätter, wenn sie Elemente aus der Populärkultur wie etwa Zwerge oder Einhörner präsentieren.

Eine nicht für die Öffentlichkeit konzipierte Handschrift als Emblemata secreta untersucht Cornelia Rèmi. Diese Embleme stehen in einem Bezug zur historischen Gegenwart ihrer Autoren. Rèmi sieht in ihnen den Versuch, mit Feder und Tinte eine Ordnung herzustellen respektive zu erhalten, die so in der Welt nicht (mehr) wahrgenommen wird.

Im Weiteren sind im Band auch noch Beiträge zu Flugblättern und Handspielen sowie zur Musik auf den Flugblättern vorhanden. Abschließend widmet sich Alfred Messerli den Entwicklungen des Holzschnitts. Der Sammelband präsentiert damit einen Überblick sowohl über die bestehende Flugblattforschung zur Frühen Neuzeit sowie neuere Aspekte, die mit besonderer Berücksichtigung des Schlagworts „Intermedialität“ zugänglich wurden.

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Alfred Messerli / Michael Schilling (Hg.): Die Intermedialität des Flugblatts in der Frühen Neuzeit.
Hirzel Verlag, Stuttgart 2015.
273 Seiten, 52,00 EUR.
ISBN-13: 9783777625201

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