Kaufrausch im Kaufhaus

Margarete Böhmes groß angelegter Warenhaus-Roman W.A.G.M.U.S. führt die Lesenden in Berliner Milieus der vorletzten Jahrhundertwende

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es sollte mehr als ein ganzes Jahrhundert verstreichen, bis Margarete Böhmes erstmals 1911 erschienener Roman mit dem sperrigen Titel W.A.G.M.U.S. wieder aufgelegt wurde. Dabei erkannte die sozialdemokratische Zeitschrift „Vorwärts“ in ihm damals den „besten Handelsroman der letzten Jahrzehnte“, wie man im von Arno Bammé verfassten Nachwort der vorliegenden Neuausgabe nachlesen kann. Ein beachtliches Lob, erschien Thomas Manns Buddenbrooks doch exakt ein Jahrzehnt vor Böhmes Warenhaus-Roman. Wenn der „Vorwärts“ Böhmes Werk höher einschätzte als Manns später Nobelpreis gekrönten Roman, mag dies auch darin begründet gewesen sein, dass es anders als dieser nicht über ein ganzes Leben hinweg den Niedergang einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie erzählt und sich damit fast ausschließlich im Kreis der vermeintlich besseren Gesellschaft bewegt, sondern – wenn auch nur über einen Zeitraum von zwei Jahrzehnten, nicht nur die Geschicke des Inhabers respektive des späteren Geschäftsführer der W.A.G.M.U.S. (Warenhaus-Aktiengesellschaft Müllenmeister und Sohn) und seiner weit verzweigten Familie, sondern ebenso diejenigen seiner leitenden Angestellten, von einfachen Verkäuferinnen, die als junge Mädchen ihre Stellen antreten und schnell verbraucht wieder entlassen werden, von Not leidenden Handwerkern und kleinen Geschäftsleuten, die durch die Industrialisierung oder den Konkurrenzdruck großer Kaufhäuser ihren Broterwerb verlieren sowie von Heimwerkerinnen und Proletarierfamilien in ärmlichsten Unterkünften.

Erzählt werden diese Schicksale eines vielköpfigen Figurengeflechts von einer allwissenden Erzählinstanz, die ihrem Personal – im Allgemeinen und abgesehen von dem einen oder anderen hinterhältigen Bösewicht – durchaus wohlgesonnen ist. Dabei verzichtet sie allerdings nicht darauf, öfter einmal ein amüsiert-verständnisvolles, aber auch leicht ironisches Schmunzeln um die Lippen der Lesenden zu zaubern. Dies erreicht sie nicht etwa, indem sie von außen auf die Figuren blickt, sondern indem sie uns an deren Gedanken, Beweggründe und ihrer nicht selten beschönigenden Selbstwahrnehmung teilhaben lässt.

Zudem gelingt es Böhme, erklärende Darstellungen wirtschaftlicher Verflechtungen, Überlegungen, Taktiken sowie werbepsychologischer und anderer Maßnahmen, die zur erfolgreichen Führung eines großen Warenhauses der Zeit gehörten, einzuflechten, ohne dass sie den Erzählfluss als störende Fremdkörper unterbrechen würden. Ebenso gut versteht sie es, die Lesenden im tosenden Tohuwabohu der angesichts von Sonderangeboten dem Konsumrausch verfallenen Kundinnen des Kaufhauses herumzuwirbeln. So entwirft Böhme ein groß angelegtes Panorama der Berliner Gesellschaft insbesondere des Handwerks und der Kaufleute in der „schnelllebigen, wechselsüchtigen Zeit“ um 1900.

Dabei handelt es sich bei all den zahllosen Charakteren aus dem schier unüberschaubaren Figurenkabinett niemals um bloße Ideen- oder FunktionsträgerInnen. Vielmehr hat die Autorin ausnahmslos lebendige Gestalten aus Fleisch und Blut geschaffen, deren Geschicke berühren. Einige der Figuren gewinnen im Laufe der Jahre überraschende Einsichten oder durchlaufen unerwartete Entwicklungen.

Im Zentrum des Geschehens stehen zwar der Kaufhausgründer Josua Müllenmeister und seine Familie mit den beiden so unterschiedlichen Söhnen, doch wird etwa das Dasein der Verkäuferinnen nicht weniger eindringlich geschildert. So stellt sich die zu Beginn der eigentlichen Handlungszeit 14-jährigen Waise und spätere Kaufhausangestellte Karen Nickels neben Josua als die zweite wichtige Sympathie- und Handlungsträgerin des Romans heraus.

Nicht nur die Boshaften, Selbstsüchtigen und Rachgierigen bewirken Übles in der von Böhme geschilderten Welt des erstarkenden Kapitalismus, sondern kaum weniger diejenigen die schlichten oder auch wohlwollenden Gemütes von den besten Absichten angetrieben werden.

Denn die gesellschaftlichen Konflikte und menschlichen Tragödien werden durch die industrialisierte Warenproduktion und die großen Warenhäuser selbst heraufbeschworen, ohne dass deren InitiatorInnen darum schlechten Willens oder auch nur üblen Charakters sein müssten. Im Gegenteil: Wenn es überhaupt einen Schuldigen gibt, dann „die brutale Souveränität des Kapitals“. Doch wird dieser Charakterzug des Kapitals keineswegs als ihm notwendig innewohnend gezeichnet oder die zerstörerische Wirkung seiner Entfaltung als naturwüchsig unabwendbar. Denn wie Josua sinniert, ist

der Kapitalismus an sich […] ein Ding, eine Sache, eine Objektivität, die weder als gut noch als schlecht bezeichnet werden kann. Nicht der Kapitalismus ist das Wesentliche, sondern der Geist, von dem er geleitet und getragen wird […] streng genommen baut sich selbst der kühnste Zukunftstraum auf dem Prinzip des Kapitalismus auf. Denn auch dort will man das Kapital nicht in den Händen der einzelnen, als nicht verzettelt wissen sondern es im Reservoir des Staatsbesitzes lassen […] Der Kapitalismus, von dem Geist der modernen Toleranz und Philanthropie durchsetzt, kann genauso sozial segensreich als zerstörend wirken, wenn die giftigen Stoffe einseitiger Gewinnsucht in ihm gären.

Daher hat der Inhaber des Kaufhauses zunächst ein Prämiensystem eingeführt, wonach die Verkäuferinnen Gratifikationen erhalten, wenn es ihnen gelingt, in den Regalen verstaubende Ladenhüter zu verkaufen. Dies zeitigt allerdings die unbeabsichtigte Wirkung, dass sie schon bald nur noch diese anpreisen. Daher ersetzt Josua nach dem Bezug eines neuen, noch größeren Kaufhauses das bisherige System der individuellen Prämien durch allgemeine Provisionen, die monatlich berechnet werden. Wichtiger aber noch ist, dass er zugleich ein wohldurchdachtes Betriebsrentensystem entwickelt. Denn von den Provisionen wird ein Teil für eine individuell auszuzahlende „Altersversorgungskasse zurückbehalten“. So erweist sich der Kaufhausbesitzer und Großkapitalist als praktischer Sozialreformer.

Dies ändert allerdings wenig an der Geschlechterhierarchie, die wie in der Gesellschaft so auch in seinem Kaufhaus herrscht. So weiß der Roman etwa von männlichen Figuren zu berichten, die „einer Art zynischer Sportpassion“ frönen, indem sie „ausproben, wie viel Belastung die moralischen Qualitäten [einer] reizenden Frau vertrugen“, oder von einem Prokuristen, der junge Verkäuferinnen sexuell zu belästigen pflegt. Sexuell proaktive Frauen schrecken die Herren hingegen eher ab, in deren Augen ein solches Verhalten „unweiblich“ erscheint.

Eine besonders kritische Haltung nimmt der Roman zur Institution der Ehe ein. Zwar lästert ein gutsituierter Bankdirektor über das „veraltete Zwangssystem der Ehe“ als „philisterhafter Erscheinung der staatlich konzessionierten Zusammenkuppelung mit einem zweiten Lebewesen“ einzig und allein, um eine verheiratete Frau zu verführen. Doch wissen auch die Verkäuferinnen ebenso wie die armen, jungen Mädchen aus proletarischen Familien, dass die Ehe in ihrem Stand „nur für die Dummen“ ist. Allerdings sind sich die Verkäuferinnen bewusst, dass „hinter ihnen allen die Zukunft wie eine schwarze Wand“ steht, „wenn ihnen nicht das Glück zu heiraten zuteilwurde“. Denn „an die Verkaufsstände gehören junge, hübsche Gesichter; spätestens alle fünf Jahre muss das Personal wechseln“, und „wer sich mit vierzig Jahren nicht in Sicherheit gebracht hat, kann sich gleich aufhängen“. Geheiratet wird daher meist nicht aus Liebe, sondern aus Kalkül und um des Geldes willen. Das gilt für alle Stände und sowohl für Frauen als auch für Männer. So ist denn auch keines der Ehepaare glücklich, und natürlich lässt auch ein Ehebruch nicht lange auf sich warten. Denn die Männer „betrügen alle ihre Frauen, alle“, wie eine der erfahrenen Frauenfiguren weiß.

Dabei ist der Roman durchaus nicht frei von Geschlechterklischees, deren negative Varianten auch das weibliche Geschlecht nicht verschonen. So fabuliert die Erzählinstanz von einem „Instinkt [des] Weiberempfindens für das Illegitime, Unerlaubte und deshalb Romantische“ von „Liebesverhältnisses“ oder vom „Weiberspürsinn“, einem „gewissen Talent zum Schnüffeln und Aushorchen, einer angeborene Detektivqualität“, sowie von einer „spezifisch weiblichen, […] fast überstarken, sinnlichen Empfindungsfähigkeit“.

Klischees, die Menschen jüdischen Glaubens diffamieren, werden hingegen oft unterlaufen. Etwa in der positiven Figur Josuas, der wegen des grassierenden Antisemitismus mit der Hochzeit seinen Geburtsnamen Manasse ablegte und denjenigen seiner Ehefrau annahm. Auch wird das antijüdische Ressentiment des vom Bankrott bedrohten Schusters Ribbeck negativ gegen die Großzügigkeit des Juden Josua Müllenmeister kontrastiert, der aus „instinktiver reiner Herzensgüte“ zu allen Menschen „gleichviel welchen Gesellschaftskreisen sie angehörten und in welcher Beziehung sie zu ihm standen, höflich und liebenswürdig“ ist. Josua will das Los seines alten Schulfreundes Ribbeck mildern und bietet ihm die Führung der Schuhabteilung seines Hauses bei bester Bezahlung an, doch lehnt der mit antisemitischen Ressentiment ab und ärgert sich im Stillen: „Jud bleibt Jud […] Ein Christ bringt das nicht zuwege  […] Jerusalem bleibt Trumpf. Schritt für Schritt gewinnt Jerusalem mehr und mehr Terrain in der Welt…“.

Einer der Angestellter des Warenhauses wiederum phantasiert einzig vom antisemitischen Ressentiment getrieben und erkennbar kontrafaktisch etwa zum sozialen Engagement, das Josua für seinen Angestellten an den Tag legt,

oft von den Ungerechtigkeiten der bestehenden Gesellschaftsordnung; wie das jüdische Vermögen, einmal angesammelt und ins Rollen gekommen, wie eine Lawine riesenhaft anwächst, ganze Stände vernichtend, Existenzen überrennend, alles, was sich ihm in den Weg stelzt, demolierend, nivellierend … Wo eine solche jüdische Geldlawine des Weges kommt, da wächst keine Blume, da gedeiht kein Grashalm, da wird alles zu Schnee, Schnee, eiskaltem, leblosem Schnee, der alles organische Leben erstickt und ihm den intellektuellen Tod bringt.

Die dem Roman insgesamt eigene Ablehnung des Antisemitismus wird allerdings dadurch relativiert, dass zumindest einer der wenigen negativ gezeichneten Juden mit den als jüdisch geltenden Merkmalen seiner „väterlichen Rasse“ geschlagen wird:

Aus dem länglichen, blassen Gesicht sprang die Nase wie ein Renaissanceerker hervor. In den kurzen verkniffenen Augen war ein unruhiges, verschlagenes Glitzern, und unter dem dünnen, dunklen Schnurrbart spielte ein eigenartiges Gemisch von Brutalität und süßlicher devoter Freundlichkeit.

Der philanthropische Josua hingegen hat nur „wenig Jüdisches in seinem Äußeren“. Sollte mit der negativ gezeichneten jüdischen Figur gezeigt werden, dass es überall, in jeder Religion und in jeder ‚Rasse’ gute wie schlechte Menschen gibt, so ist das mit einer derartigen Verknüpfen zwischen ‚jüdischem’ Äußerem und ‚jüdischem’ Charakter gründlich misslungen.

Kritisch anzumerken ist auch, dass das Ende des insgesamt noch immer unterhaltsamen und nicht nur darum lesenswerten Romans – zumindest für die symphatietragenden Identifikationsfiguren – allzu harmonisch, fast ohne jeden Missklang ausfällt. So geht es im wirklichen Leben leider nicht zu: Das Milieu, die Sozialstrukturen, die wirtschaftliche Funktionsweise von Kaufhäusern der Zeit, deren Konkurrenzkampf untereinander und den Niedergang kleiner Häuser aber lässt Böhme noch für uns Heutige wieder aufleben. Dabei sind die Figuren keineswegs bloße Staffagen eines Thesenromans, sondern besitzen vielmehr Tiefe, Eigenleben und Charakter.

Böhme selbst sah in dem vorliegenden „Warenhausroman“ ihr „wohl bestes reichstes Werk“. So verkehrt ist das sicher nicht. Und was Manns Buddenbrooks betrifft, so mag Böhmes Roman literarisch wohl nicht an die Sprachmagie des ‚Zauberers‘ heranreichen, dafür aber spannt sich sein erzählerischer Bogen über alle Schichten der Gesellschaft, von den einfachsten Handwerkern und Verkäuferinnen bis hin zum Großmagnaten des Kaufhauses und zeigt sich zumindest in dieser Hinsicht als weitaus reicher als Manns nicht zu Unrecht der Weltliteratur zugerechnete Familiengeschichte der Buddenbrooks.

Titelbild

Margarete Böhme: W.A.G.M.U.S. Roman.
Husum Druck- und Verlagsgesellschaft, Husum 2016.
619 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783898768177

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