Wolf Biermann und Marcel Reich-Ranicki

Über eine Freundschaft und Zerfreundung

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Scherenschnitt von Simone FrielingWolf Biermanns kürzlich erschienene Autobiographie erzählt viel über zerbrochene Freundschaften, über eigene und Freundschaften anderer. So auch über Marcel Reich-Ranickis Freundschaften mit Joachim Fest oder mit Walter Jens – und nicht zuletzt über dessen Freundschaft mit ihm selbst.

Mit Dankbarkeit erinnert Biermann sich an den ersten Artikel, die der Literaturkritiker über ihn schrieb – 1966, nachdem ihm in der DDR weitere Auftritte und Publikationen verboten worden waren: „Im Westen meldeten sich Jean Améry, Heinrich Böll, Siegfried Unseld, Klaus Wagenbach und Peter Weiss zu Wort und kritisierten die Maßnahmen gegen mich. Die Westmedien reagierten, Marcel Reich-Ranicki feierte meine Gedichte unter der Überschrift ,Der Dichter ist kein Zuckersack’ in der Zeit.“

Im November 1976 erschien ein weiterer Artikel Reich-Ranickis über Biermann – mit dem Titel „Biermanns Vertreibung. Anmerkungen zu einem aktuellen Fall“. Der „Fall“, um den es hier ging, war eine Verschärfung der Sanktionen, die von den DDR-Behörden zehn Jahre zuvor gegen ihn angeordnet worden waren. Sie gestatten ihm die Ausreise zu einem Konzertauftritt in Köln, verweigerten ihm dann aber das Recht zur Rückreise und entzogen ihm die Staatsbürgerschaft. Reich-Ranicki kommentierte das exemplarische Geschehen mit den Worten:

Dies ist der entscheidende Punkt auch im Fall Biermann: Er beansprucht für sich als Kommunist das Recht, seine kommunistische Heimat mit literarischen Mitteln zu kritisieren.

Ein anderer Kommunist, Peter Weiss, verteidigte Biermann 1965 und schrieb damals: „Die sozialistische Gesellschaft müßte stark genug sein, abweichende und kritische Stimmen zu ertragen.“ Doch die DDR ist nach wie vor zu schwach, um derartige Stimmen zu ertragen. Die hinterlistige und zugleich gewaltsame Vertreibung Biermanns ist eine geistige Bankrotterklärung dieses Staates.

Wolf Biermann, der ziemlich genau 20 Jahre ältere Peter Weiss und Marcel Reich-Ranicki haben Lebensgeschichten mit einigen Gemeinsamkeiten. Deutsche Nationalsozialisten ermordeten 1943 Biermanns jüdischen und kommunistischen Vater im KZ Auschwitz, ein Jahr davor die Eltern Reich-Ranickis in Treblinka. Mit Peter Weiss verbanden ihn die jüdische Herkunft und die Vertreibung aus dem nationalsozialistischen Deutschland, mit Biermann und Weiss die (zeitweilige) Nähe zum Kommunismus und die kritische Auseinandersetzung mit dem real existierenden Sozialismus in der DDR.

Der Kommunismus hatte ihn als Idee schon früher interessiert, das „Kommunistische Manifest“ regelrecht begeistert, nicht zuletzt als ein Stück rhetorisch brillanter deutscher Literatur. Reich-Ranickis Autobiographie „Mein Leben“ geht auf die Inhalte des Marxismus und Kommunismus nicht ein, wohl aber auf die Attraktivität kommunistischer Ideen auch in Westeuropa nach 1945 und auf die psychische Bedeutung, die sie für ihn hatten. Der Kommunismus schien ihm das zu bieten, was ihm fehlte und wonach er ständig suchte: Heimat und Geborgenheit. Für „Aufmärsche, Kundgebungen und Demonstrationen war ich nicht zu haben. Aber mich hat die Möglichkeit fasziniert, an einer weltweiten, einer universalen Bewegung teilzunehmen, einer Bewegung, von der sich unzählige Menschen die Lösung der großen Probleme der Menschheit versprachen. Ich glaubte, endlich gefunden zu haben, was ich schon lange benötigte: eine Zuflucht, wenn nicht gar, das Wort läßt sich schwer vermeiden, Geborgenheit.“

Für Wolf Biermann, das „Kommunistenkind“, wie er sich in seiner Autobiographie wiederholt nennt, war der frühe und gewaltsame Tod des Vaters ein lebenslanger Auftrag, ihm und seinem kommunistischen Engagement verbunden zu bleiben. Seine Autobiographie beschreibt den „Weg vom Kommunistenkind bis zum guten Verräter an der Ideologie des Kommunismus“ und endet mit dem Gedicht „Heimweh“, in dem die Verse stehen:

Die heile Heimat Utopie hab ich verloren
Dafür und ganz kaputt die halbe Welt gewonnen
Als Kommunistenketzer ward ich neu geboren
Als Mann erst ist mein Kinderglaube mir zerronnen

Hab manchmal Heimweh noch nach diesem blöden Hoffen
Statt Mensch wär ich viel lieber Marxens Zwergenriese
Die alte Sehnsucht macht mich manchmal noch besoffen
Spür nächtens den Phantomschmerz aus dem Paradiese

Nach seiner Vertreibung aus der DDR intensivierten sich die freundschaftlichen Kontakte mit Reich-Ranicki. Biermanns zum Teil veröffentlichte Briefe an ihn (in der leider vergriffenen, von Jochen Hieber 1995 sorgfältig edierten und hilfreich kommentierten Sammlung „Lieber Marcel“. Briefe an Reich-Ranicki) zeigen, dass diese Freundschaft deutliche politische Differenzen tolerierte. Ein Brief Biermanns vom 21. Juli 1979 beginnt mit dem Satz: „der Abend bei Ihnen hat mir weh getan und war mir auch gut“. Es tue ihm „weh, daß ich mich von Wahrheiten trennen muß, die Lügen geworden sind. Es tut weh, weil in den Lügen noch so verzweifelt viel Wahrheit ist.“ Es war ein Abend mit Gesprächen über „Kommunismus, Revolution, Kapitalismus, Fortschritt, Krieg und Frieden“, die Wahrheiten und Lügen betrafen den Sozialismus. Die erzwungene Umsiedlung von der DDR in die Bundesrepublik hatte Biermann als einen Weg „vom Regen in die Jauche“ besungen. In dem Brief schrieb er:

Mein Lieber, mein sehr Lieber, ich fürchte, Sie haben recht, ich muss dieses Wort korrigieren […]. Als Sie mir, assistiert von ihrem Freund Fest, auf den faulen Zahn fühlten, taten mir alle meine Zähne weh. Meine Argumente konnten mich nicht überzeugen, und es ist gut, daß Sie die höhere Freundlichkeit hatten, nicht zu freundlich mit mir in diesem heiklen Punkte zu sein.

Trotz solcher Selbstkorrekturen hält der Brief fest:

Kurz: meine Hoffnung auf die Fähigkeit der kommunistischen Arbeiterbewegung, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen, mag so übertrieben sein wie Ihr Wohlgefallen, lieber Marcel-Reich-Ranicki, an der Bundesrepublik Deutschland.

Während Reich-Ranicki 1958 von einer Reise in die Bundesrepublik nicht nach Polen zurückkehren wollte, war Biermann 1976 nach einem Konzert in Köln schockiert über die Nachricht, dass ihm die DDR die Rückkehr untersagte. Er hielt trotz aller Enttäuschungen und bei aller Kritik an der politischen Realität im Osten Europas an den sozialistischen Ideen fest, während Reich-Ranicki sich bei allem Verständnis für deren Anziehungskraft desillusioniert von ihnen verabschiedet hatte.

Die Freundschaft beider blieb über derart differierende Einstellungen hinweg bestehen, auch im Literaturstreit um Christa Wolf im Jahr 1990, in dem Biermann die Schriftstellerin mitten im Prozess der deutschen Einheit sehr viel wohlwollender einschätzte als sein Freund. In seiner Autobiographie erzählt Biermann, wie ihm von Reich-Ranicki 1991 die Ehrung mit dem Büchner-Preis angekündigt wurde:

Im April 1991 rief mich Marcel Reich-Ranicki an: „Nach menschlichem Ermessen“ müsse ich den Büchner-Preis kriegen. Obwohl er nicht in der Jury sitze, habe er alles vorgearbeitet. Er habe schon einmal den Lessing-Preis für Walter Jens erwirkt, auch das, obwohl er nicht in der Jury gesessen habe. Das sei keine Kleinigkeit, und eigentlich müsse er zwanzig Prozent Provision verlangen. „Sie kriegen keinen Pfennig, aber Ihrer Frau gebe ich freiwillig dreißig Prozent“, flapste ich zurück.

In dem für ihn auch sonst typischen flapsigen Stil erinnert Biermanns Autobiographie an etliche andere Gesprächsdetails:

„Das haben wir gemeinsam“, sagte er, „Freunde und Feinde. Wir polarisieren. Man ist für uns oder gegen uns – aber keinem sind wir egal.“ So? Reich-Ranicki kam ins Plaudern. Er habe schon 1980 versucht, mir den Büchner-Preis zuzuschanzen, aber damals habe der inzwischen verstorbene Bürgermeister von Darmstadt, Herr Sabais, abgeblockt mit dem schönen Satz: „Den Büchner-Preis für einen Gitarrenspieler?“

Als die umstrittene Entscheidung für den Literaturnobelpreis an Bob Dylan bekannt wurde, hat man sie mit der damaligen für den Büchner-Preis an Biermann verglichen und dabei auch an Reich-Ranickis Laudatio erinnert, in der es heißt: „In Biermanns Werk bilden sie eine Einheit – die Musik und die Literatur“. Biermann selbst hat die Entscheidung der Schwedischen Akademie vorbehaltlos begrüßt und sah sich von ihr bestätigt. Wie 1991 von der Deutschen Akademie:

Im Oktober 1991 verlieh mir die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt den Büchner-Literaturpreis. Reich-Ranicki beglückwünschte mich mit einem giftigen Bonmot: „Mein Liiieberr – das ist jedes Jahr wieder unser Problem in Deutschland. Wir haben mehr große Literaturpreise als große Dichter.“ Mich meinte er, das bilde ich mir ein, damals nicht, denn wir waren 1991 noch nicht zerfreundet, und er lieferte eine saftige Laudatio.

„Zerfreundet“? Biermann verwendet den Neologismus zunächst im Blick auf das Zerbrechen anderer Freundschaften, so auch der zwischen Reich-Ranicki und Joachim Fest und später Walter Jens. Hier positioniert er sich ganz auf Reich-Ranickis Seite. Als nach der Wiedervereinigung durch immer neue Enthüllungen die Stasi-Verstrickungen etlicher DDR-Autoren bekannt wurden und Reich-Ranicki ein weiteres Mal gegen Christa Wolf polemisierte, kündigten sich allerdings Streitigkeiten an, die wenig später aus anderen Gründen eskalierten. Biermann erinnert an die erneute Debatte über Christa Wolf im Jahr 1993, als publik wurde, dass der Staatssicherheitsdienst der DDR die damals noch junge Autorin von 1959 bis 1962 in seinen Akten als „Informelle Mitarbeiterin“ (IM) geführt hatte. Das war Anlass für neue Streitgespräche mit Reich-Ranicki:

In ihren jungen Jahren zwischen 1959 und 1962 hatte Christa Wolf der Stasi zugearbeitet. Das kam nun, dreißig Jahre später, raus. Ich fand es überhaupt nicht so skandalös wie Marcel Reich-Ranicki. Er giftete gegen die Wolf wie ein verschmähter Liebhaber. Ich redete ihm den Geifer aus: „Na und?! Sie ist eben ängstlich und kritisch. Aber die Bücher der Christa Wolf sind echt, und sind tief und sogar tapfer.“ – „Ja“, sagte Reich-Ranicki, „… und langweilig!“ – „Ach was!“ hielt ich gegen, „sie ist eben eine typische Nachgeborene. Sie zerdenkt sich – ‚tatenarm und gedankenvoll‘, wie’s bei Hölderlin heißt. Aber immerhin, sie ist aus der Stasimitarbeit ausgestiegen! Das war mutiger, als gar nicht erst einzusteigen. Und in die Pfanne gehaun hat die bestimmt keinen!“

Am 4. April 1994 erschien im „Spiegel“ unter dem Titel „Tante Christa, Mutter Wolfen“ ein Verriss Marcel Reich-Ranickis zu Christa Wolfs Buch „Auf dem Wege nach Tabou“. Die zwischen 1990 und 1994 geschriebenen Texte, die in dem Buch publiziert waren, und die literaturkritischen Reaktionen darauf standen im Zusammenhang mit den damaligen Debatten um Christa Wolfs Position in der ehemaligen DDR. Eine neue Debatte über Christa Wolf initiierte Reich-Ranickis umstrittene Rezension nicht, wohl aber eine Debatte über ihn selbst und eine Episode seiner Lebensgeschichte, die mit der IM-Vergangenheit der von ihm attackierten Autorin verglichen wurde. Unverhüllt als Racheakt für seine Angriffe auf Christa Wolf gab der Journalist Tilman Jens, Sohn von Reich-Ranickis langjährigem Freund Walter Jens, in der Fernsehsendung „Kulturweltspiegel“ vom 29. Mai 1994 sich später erhärtende Hinweise auf Reich-Ranickis Arbeit für den polnischen Geheimdienst, die er bislang verschwiegen hatte. Dem Medieninteresse am Fall Christa Wolf folgte so als Nachspiel unversehens das am Fall Reich-Ranicki.

Diese Episode seiner Lebensgeschichte wurde über Monate hinweg zum Gegenstand öffentlicher Enthüllungen, Anschuldigungen, Verdächtigungen und Debatten, die ihn bedrängten und verletzten. Er selbst trug insofern zur Eskalation bei, als er zunächst gar nicht und dann mit Entstellungen das Faktum seiner Arbeit für den Geheimdienst bestätigte. Er verlor Freunde, die sich von ihm hintergangen fühlten, so auch Wolf Biermann, der ihn in einem „Spiegel“-Artikel zunächst vehement verteidigte und dort seine Apologie drei Wochen später widerrief: Er sei „in eine Freundschaftsfalle getappt. Marcel Reich-Ranicki hat mich gefoppt.“

In seiner Autobiographie erinnert sich Biermann an ein Telefongespräch mit Reich-Ranicki nach den ersten Enthüllungen. „Das Ganze sei eine verleumderische Fernsehdokumentation“, habe ihm Reich-Ranicki erklärt, „als Rache wegen dieser und jener Streitpunkte! Der alte Streit um Christa Wolf! Niemals, beteuerte Ranicki, sei er beim polnischen Geheimdienst gewesen!“ Weil er Reich-Ranicki das glaubte, sei er in eine Falle getappt, erzählt Biermann im Rückblick:

Ich setzte mich hin und verfasste einen gepfefferten Artikel für den Spiegel, ich verteidigte Ranicki und griff Tilman Jens an. […] Meine Polemik erschien am 13. Juni 1994. Ranicki und ich telefonierten auch noch in den folgenden Tagen, tauschten Reaktionen und Informationen aus. Am Ende des Artikels hatte ich geschrieben: „Er ist unter all den mediokren Langweilern ein Literat mit Leidenschaft. Ich liebe ihn, anders ist er auch nicht auszuhalten.“

Sieben Tage nach Biermanns Artikel erschien ebenfalls im „Spiegel“ ein Gespräch mit Reich-Ranicki, in dem dieser gefragt wurde: „Herr Reich-Ranicki, waren Sie Ende der vierziger Jahre hauptamtlicher Mitarbeiter des polnischen Geheimdienstes?“ Seine Antwort lautete: „Jawohl, ich war in den Jahren 1948/49 Konsul der Republik Polen in London und gleichzeitig ständiger Mitarbeiter des polnischen Geheimdienstes.“ In Biermanns Autobiographie leben seine Enttäuschung und Empörung wieder auf, die er bei der Lektüre dieser Sätze empfunden hatte. Doch am Ende steht eine versöhnliche Geste – in Form eines Zitats, mit dem er seinen Bericht über die „Zerfreundung“ mit Reich-Ranicki ohne einen weiteren Kommentar abschließt. Sein Freund Jurek Becker habe ihm damals erklärt: „Weißt du, was ich dazu denke? Ich finde: Was geht es eigentlich diese Deutschen an, ob ein Jude, der grade die Nazizeit überlebt hat, nach dem Krieg beim polnischen Geheimdienst war?“

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag ist eine etwas gekürzte Fasssung der Einführung zu Marcel Reich-Ranicki: Wolf Biermann. Der leidende Liedermacher. Hg. von Thomas Anz. Marburg 2016. Diese Sonderausgabe von literaturkritik.de wurde zum 80. Geburtstag Wolf Biermanns veröffentlicht und enthält eine kommentierte Sammlung von Reich-Ranickis Artikeln über ihn.

Titelbild

Wolf Biermann: Warte nicht auf bessre Zeiten! Die Autobiographie.
Propyläen Verlag, Berlin 2016.
544 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783549074732

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