Der rote Rühmkorf, wie er singt und spinnt

Über die von Bernd Rauschenbach herausgegebenen „Sämtlichen Gedichte“

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Lyrikanthologie Der große Conrady (2008) räumt dem Hamburger Poeten Peter Rühmkorf (1929 – 2008) den Platz für neun seiner Gedichte ein, ebenso viele wie für Friedrich Klopstock, den Rühmkorf zeitlebens bewunderte, während der gleichaltrige Erzpoet Hans Magnus Enzensberger lediglich mit sieben und der geistesverwandte, wenngleich etwas jüngere Robert Gernhardt nur mit fünf Gedichten vertreten ist.

Im Rowohlt Verlag ist nun eine Ausgabe von Rühmkorfs sämtlichen Gedichten (1956 – 2008) erschienen, nebst einer Auswahl der Gedichte von 1947 bis 1955. Als Herausgeber fungiert Bernd Rauschenbach, der bereits 2000 im ersten Band der Werkausgabe die bis dahin erschienenen Gedichte Rühmkorfs vorstellte. Demgegenüber ist der neue Band um Frühe Gedichte und den letzten Lyrikband Paradiesvogelschiß (2008) erweitert.

Es besteht also nunmehr die Möglichkeit, die Wertschätzung Karl Otto Conradys für den Dichter am lyrischen Gesamtwerk zu überprüfen.

Bernd Rauschenbach verzichtet gegenüber der Werkausgabe auf die Kommentierung der Gedichte, ergänzt aber im Anhang die einzelnen Veröffentlichungen durch die Wiedergabe der jeweiligen Klappentexte, wenn sie denn vorhanden sind, ein – wie er selbst schreibt – etwas befremdliches Verfahren. Allerdings sind diese Klappentexte in der Mehrheit von Rühmkorf selber verfasst worden, stellen also eine Selbstaussage dar, und dies von einem Dichter, der sich in zahlreichen Essays über sein Werk und das Schreiben von Gedichten geäußert hat und dabei zu dem Ergebnis kommt: „Ich sage: wer Lyrik schreibt, ist verrückt, / wer sie für wahr nimmt, wird es.“ Die Klappentexte enthalten allerdings nicht nur Werbendes, sondern auch Wahres, wie etwa das Statement des Kollegen Hans Magnus Enzensberger aus dem Jahr 1964, das eigentlich alles besagt und das hier trotz seiner Ausführlichkeit oder gerade deshalb komplett zitiert werden soll:

Seine Themen sind groß. Auch wenn er sich darüber ärgern dürfte, behaupte ich, daß er ein metaphysischer Dichter ist. Seine Ironie in allen Ehren: doch wovon er immer spricht, das sind Zeugung und Tod, Freundschaft und Isolation, Vergänglichkeit und Gram. Die allerneuesten Gegenstände unseres Interesses sind das nicht, sondern Brot vom ältesten Brot der Dichtkunst. (…) Von Anfang an ein Virtuos und aufs Beste vertraut mit dem Indischen Seiltrick, hat er doch den platten Boden der Tatsachen, und das heißt, die Ebene der Alltäglichkeit, nie verlassen. Er hielt sich an ein Element, das heute nur noch in  der Schwundstufe des Pop zu überleben scheint; an das plebejische. Formal zeigt sich das in seiner Vorliebe für den Schlager, den Kalauer, den Grafito. Immer wieder tauchen in seinen Kunstliedern und Oden, in seinen Hymnen und Variationen die Spuren des Volkstons auf, der keinen Feinsinn kennt. Weder vor dem Klo-Verschen noch vor dem Schnaderhüpfl schreckt er zurück und es gibt kaum ein Gedicht von ihm, darin nicht irgendein Gassenhauer herumgeisterte.

Soweit Enzensberger 1964, was nicht bedeutet, dass Rühmkorf in den folgenden rund 40 Jahren seines lyrischen Schaffens nichts Neues mehr zu sagen gewusst hätte. Neben Klopstock entdeckt er Walther von der Vogelweide und den frühmittelalterlichen Stabreim für das eigene Dichten („Mit facts und figures rückt der Tag ins Tal“) und immer wieder wagt er den hohen Ton und die tiefen Gefühle, nicht, ohne selbstkritisch zu fragen: „rede ich Blödsinn oder dichte ich schon, / oder lieg ich, unhaltbar, dazwischen?“ (Meine Stelle am Himmel). Wenn „er singt und spinnt“, wirkt der Dichter, darin seinem Bruder im Geiste Heinrich Heine gleichend, oft recht heimatlos, etwa, wenn der „rote Rühmkorf“ linke Dogmengläubigkeit kritisiert, beispielsweise in dem Gedicht Mailied für junge Genossin, wo es heißt:

Reine Wahrheit, ewig und unsäglich,
irrt im Kreise, weil sie nie bewirkt.
Komm! so links wie nötig und so hoch wie möglich,
Harmonie ist Kunst
und die schon halb getürkt.

Skeptisch stand er auch dem hermetischen oder experimentellen Gedicht gegenüber:

Kunst als Experiment?
Innerhalb des Gedichts?
Aber immer zu Diensten Mijnheer.
Theoretisch trennt uns da nämlich nichts,
nur, wer die Praxis kennt,
unheimlich schwer. (Formal nicht zu fassen)

Viel eher liebt der Wortmagier von der Waterkant das Spielerische, das den Einfluss von Kinderliedern und Volksreimen verrrät, pflegt er die spöttische Grundhaltung, die ihn mit Ringelnatz verbindet und die ihre Herkunft aus der Subkultur nicht verleugnen kann und allem, was damit verbunden ist, wie Alkohol und Außenseitertum. Leicht abgewandelte Zitate von Dichterkollegen zeigen seine brillante parodistische Ader. Immer wieder dient seine Lyrik auch der Selbstvergewisserung. Gleichwohl sucht er den Dialog, reflektiert sein lyrisches Ich sowie Alltags- und Zeitprobleme. Im Ringen um die Welt setzt Rühmkorf unverdrossen auf das Gedicht. Er versteht sich als Sisyphos der Lyrik; das macht diese so stark:

Und wenn man im Frühjahr ernsthaft glaubt.
da gäb es nichts mehr zum Bedichten,
gleich schüttelt die Linde ihr volles Haupt
über deinem zunehmend lichten. (Aufsteigerlied)

Um die Jahrtausendwende wird Rühmkorfs Lyrik nachdenklicher, fast möchte man mit Enzensberger sagen, „metaphysischer“. Beinahe wie ein Grabspruch wirkt die sarkastische Feststellung: „Auf Erden nichts geworden, / im Himmel nicht zuhaus“ (So müde, matt, kapude). Beibehalten wird allemal das beschwingte Abwinken, der halb nonchalante  benn‘sche Unerheblichkeitston.

Seien wir ehrlich; in den Sämtlichen Gedichten steckt viel Artifizielles. Die Wortkaskaden und Klang-Ekstasen vor allem der mittleren Periode verraten den Liebhaber des Reims, und manches ist auch bloß einer Tagesstimmung geschuldet. Aber zwischen den lyrischen Fingerübungen funkelt es immer wieder, gelingen im ästhetischen Raum gültige existentielle Äußerungen, wie in dem Widmungsgedicht für Heinrich Maria Ledig-Rowohlt:

Auf was nur einmal ist

Manchmal fragt man sich: ist das das Leben?
Manchmal weiß man nicht: ist dies das Wesen?
Wenn du aufwachst, ist die Klappe zu.
Nichts eratmet, alles angelesen,
siehe, das bist du.

Und du denkst vielleicht: ich gehe unter,
bodenlos und fürchterlich
Einer aus dem großen Graupelhaufen,
nur um einen kleinen Flicken bunter,
siehe, das bin ich.

Aber dann, aufeinmalso, beim Schlendern,
lockert sich die Dichtung, bricht die Schale,
fliegen Funken zwischen Hut und Schuh:
Dieser ganz bestimmte Schlenker aus der Richtung,
dieser Stich ins Unnormale,
was nur einmal ist und auch nicht umzuändern:
siehe, das bist du.

Titelbild

Peter Rühmkorf: Sämtliche Gedichte. 1956-2008.
Mit einer Auswahl der Gedichte von 1947-1955.
Herausgegeben von Bernd Rauschenbach.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2016.
624 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783498058029

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