Japanische Alltagsexperimente

Tanikawa Shuntarô und Jürg Halter nutzen die lyrische Gunst der Stunde

Von Christian ChappelowRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Chappelow

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die großen Zeiten des Gedichts scheinen längst vergangen – zuletzt im Jahr 2011 hat noch die Ernennung eines Lyrikers wie Tomas Tranströmer (1931 – 2015) zum Literaturnobelpreisträger internationale Schlagzeilen gemacht. Die einst hoch geschätzte, edle Form des Dichtens kann allenfalls noch beim Poetry-Slam mit lebhafter Performance tosenden Applaus hervorlocken, und eigentlich ist sich ja auch niemand mehr so sicher, was nach dem Wegfall traditioneller Formen und Versmaße noch vom Gedicht übrig bleibt. Die baldige Archivierung dieser Literaturform scheint unausweichlich. Haben sich aber die lange Lyriktradition des deutschen Sprachraums und die vermutlich noch ausgeprägtere japanische Liebesaffäre mit dem kunstvollen Medium gänzlich verflüchtigt?

Tanikawa Shuntarô und Jürg Halter sind zwei große Namen der zeitgenössischen Lyrik, die mit transkulturellen Experimenten die Literaturform Gedicht weiterhin relevant halten. Ein Ergebnis der Kooperation findet sich nun seit August 2016 im vom Göttinger Wallstein Verlag veröffentlichten Band Das 48-Stunden-Gedicht. Ein Kettengedicht; ein lyrischer Dialog, der lyrische Alltagsausschnitte präsentiert und den Leser auf eine Reise nach Tôkyô einlädt.

 Ketten. Grenzen. Barrieren. Oder was davon übrig bleibt…

07:00

 Im Flugzeug über dem Pazifischen Ozean
Tickt ihm seine Uhr zu:
„Bist ein Morgen- oder Abendgesicht?

太平洋上を飛ぶ飛行機の中
腕時計がチクタク 男に問いかける
[君は朝の顔?それとも夜の顔?]

Tanikawa Shuntarô, der im Dezember dieses Jahres seinen 85. Geburtstag feiert, darf man wohl ohne Zweifel als den bekanntesten japanischen Dichter der Nachkriegszeit bezeichnen. Seit seinem Debüt im Jahr 1952 begleitet und gestaltet er die japanische Gegenwartslyrik wie kaum ein anderer – bis heute beläuft sich sein lyrisches Gesamtwerk auf über 60 Bände, sein Name ist vielen vertraut, sogar japanischen Schuldkindern, wie es heißt. Die andauernde künstlerische Freundschaft mit dem Schweizer Dichter Jürg Halter (*1980), Performance-Künstler, Rapper und seinerseits einer der erfolgreichsten Newcomer der 2000er-Wende, könnte man als ungewöhnlich oder gar ungleich bezeichnen. Ein Meister also und sein Schüler, im besten japanischen Stereotyp?

Tanikawa und Halter begegneten sich das erste Mal anlässlich des Internationalen Poesie-Festivals Poetry Africa 2002 in Durban (Südafrika) und haben dort ihre lyrische „Geistesverwandtschaft“ erkannt, wie uns das von den Herausgeberinnen des Bandes, Kakinum Marie und Susann Schenzle, verfasste Nachwort informiert. Seitdem haben beide Künstler mehrfach miteinander kooperiert, wobei der 2012 erschienene Band Sprechendes Wasser: Gedicht (Secession Verlag) den vorläufigen Höhepunkt darstellt.

Sowohl der Band Sprechendes Wasser wie jetzt auch Das 48-Stunden-Gedicht sind Zeugnisse von Tanikawas vehementem Einsatz zur Förderung der modernen japanischen Kettendichtung (renshi). Diese Form des performativen lyrischen Dialogs wird meist zu einem vorgegebenen Thema oder alternierend im Sinne eines Gesprächs mit gegenseitigen „Antworten“ geführt. Grenzen und Sprachbarrieren überschreitend tritt Tanikawa, der sich gerne mal im japanischen Fernsehen zeigt, auch jenseits von Japan als Veranstalter und Teilnehmer von renshi-Veranstaltungen auf. Einen Schritt weiter noch geht der aktuelle Band, für den Halter eigens nach Japan anreiste. Als eine Art impressionistische Simultanberichterstattung vom Tsuda College in Tôkyô schrieben beide zwischen dem 8. und 12. September 2014 ihre Gedanken nieder. Das Resultat sind insgesamt 48 Gedichte zu 48 Stunden, alternierend im Rhythmus Tanikawa-Halter. Die dabei entstandenen Kurzgedichte zu japanischen Alltagsszenerien und den sich dazu einstellenden Gedanken der beiden Beobachter sind auf drei bis fünf Zeilen angelegt, und damit an die stark atmosphärischen japanischen Kurzgedichtformen Tanka und Haiku angelehnt. Die Gedichte liegen sowohl in deutscher wie auch japanischer Sprache vor – beide Lyriker dichteten in ihrer Muttersprache, der Text wurde dann übersetzt. Für die Übersetzungen ins Deutsche ist der Komparatist Franz Hintereder-Emde (Yamaguchi-Universität) verantwortlich, die Gedichte Halters übersetzte der japanischen Germanist Niimoto Fuminari (Tsuda College Tokyo) ins Japanische.

Intermedial bereichert werden die Gedichte in Buchform durch acht visuelle „Reaktionen“, wobei vier Schwarz-Weiß-Zeichnungen von der japanischen Künstlerin Tabaimo und vier von der Schweizer Gegenwartskünstlerin Yves Netzhammer stammen. Diese bedienen sich ebenfalls bekannter Motive aus dem japanischen Alltag und verdichten sie ihrerseits künstlerisch.

Vager Sinn, menschliche Makrelen, harmlose Exotismen

Das eingehend abgedruckte Gedicht stellt den ersten Beitrag Halters dar, noch im Flugzeug über dem Pazifik, dem Zeitunterschied anheimgefallen, in Erwartung des lyrischen Japanaufenthaltes. Das Motiv der Reise ins Unbekannte kennzeichnet Halters Beiträge, der in seinen Gedichten zumeist die Position des Fremden, des Außenstehenden und des Nicht-Verstehenden der Eindrücke einnimmt. Sogar Menschen geraten dabei zu Attrappen von Halters direkter impressionistischer Wahrnehmung, angereichert mit trockenem Humor oder mit Versuchen in Haiku-ähnlichem, szenisch-atmosphärischem Schreiben. Die im Format des Kettengedichts vor Ort geschriebenen Improvisationsgedichte sind durchaus gelungen, einen Hang zu den gängigen Japanstereotypen und Exotismen kann man dennoch nicht verleugnen. Harmlos und humorvoll spielt Halter mit diesen Bildern; dem Leser japanischer Literatur bleibt bei Gedichten wie dem folgenden Fünfzeiler aber wohl der leicht sprichwörtliche fade „Beigeschmack“ der durch Motive des Essens charakterisierten Szene (21.00 Uhr des ersten Tages):

Die Menschen sind mir transparente Makrelen,
ich sehe ihr Inneres durchschimmern“,
erklärt ein trüber Geschäftsmann an der Sushi Bar
einem Künstler, der zwischen den Stäbchen
nichts als ein wenig gekränkte Wasabi hält.

Den Mensch-Fisch – Vergleich  greift Halter gleich ein weiteres Mal auf, als er im 9.00 Uhr-Gedicht des zweiten Tages (wohl zur Rush-Hour in Tôkyô) von Sardinen berichtet, die plötzlich wie Menschen aussehen. Seine Japanreise führt ihn außerdem vorbei an „Rückenschönheiten“ und einem „Ballett der Betrunkenen am Bahnhof“. Begleitet wird er dabei unter anderem, wenn auch nicht korrekt der japanischen Jahreszeitenästhetik und ihren Motiven folgend, von den omnipräsenten Kirschblüten und Zikaden, Symbole, die im Grunde nur für die ihnen eigene Exotik stehen.

Wenn sie auch nicht viel mehr Sinn bieten kann, glänzt hingegen die lyrisch versiertere Beobachtungsgabe Tanikawas. Ihm gelingt es, die japanischen Alltagsszenen mit schärferem Blick und Sprachverspieltheit festzuhalten. Seine anonyme und für ihn typische, fast kindlich-naive Pose beeindruckt. Tanikawas Gabe ist es, sich gerade nicht in lyrischer Selbstdefinition durch den Lacanschen Spiegel kulturell zu suchen. Seine in den letzten Jahren häufiger auch im Kurzgedicht brillierende Sprache kommt dabei trotz gelungener Übersetzungen nicht an die Eleganz und Melodie des japanischen Originals heran. Verträumt und introvertiert bewegen sich Tanikawas Gedanken so um Mitternacht zwischen den beiden Tagen des 48-Stunden-Gedichts hin zum Universum; ein Ort, an dem er schon in seinem erfolgreichen Debütwerk Zwei Milliarden Lichtjahre Einsamkeit (Nijûoku kônen no kodoku, 1952) Zuflucht sucht – nicht aber ohne Neugier auf die kleinen Dinge des menschlichen Lebens.

Ein Ohr, das Insektenstimmen als Geräusch wahrnimmt,
und ein Ohr, das darin ein zierliches Instrument klingen hört;
mitten im luftleeren Raum des Universums ohne jedes Geräusch,
hören die Ohren verschiedener Kulturen
je ein anderes Schweigen?

Austausch ohne Dialog

Die 48 Gedichte Tanikawas und Halters stehen deshalb ein wenig unbalanciert nebeneinander da. Durch den unterschiedlich gepolten Impressionismus können sie sich dennoch zu einem gelungenen japanisch-schweizerischen Austausch ergänzen. Eine gegenseitige Bezugnahme kommt dabei nur bedingt zustande. Dies wirft die Frage nach der formalen Gestaltung der zahlreichen Einzelgedichte als Kettengedicht auf. Dass Tanikawa dann selbst in einem Gedicht zugibt (20:00 Uhr, Tag 2), dieses weder zur angegebenen Stunde noch in direkter Reaktion geschrieben zu haben, mag den formalen Aufbau des 48 Stunden-Kettengedichts nur noch weiter in Frage stellen. Wieso also dieses Experiment? Wieso 48-Stunden? Wieso Tôkyô? War dieser Rahmen wirklich nötig?

Vielleicht sind diese Fragen aber auch falsch gestellt. Die transkulturelle lyrische Experimentierfreudigkeit von Tanikawa und Halter setzt ein Zeichen nicht nur in deutsch-japanischen Literaturbeziehungen, sondern auch im Hinblick auf das angestaubte Image von Gedichten mit künstlerisch-ästhetischem Anspruch. Zwar laufen im 48-Stunden-Gedicht weder Tanikawa noch Halter zu Höchstform auf, als Anregung für weitere Experimente im Medium der zeitgenössischen Lyrik muss man diesen Versuch dennoch als gelungen bezeichnen. Der japaninteressierte Freund des Gedichts kommt mit dem vorliegenden Band auf jeden Fall auf seine Kosten; gerade dann, wenn die lyrische Reise nach Tôkyô mit ihren kurzweiligen Gedichten den langen Spagat zwischen Exotismus, Trivialität und hoher Kunst stellenweise sehr gelungen inszeniert. Dann mag man auch verzeihen, dass der Name von Großmeister Tanikawa Shuntarô auf dem Cover (!) mit dem „õ“ am Ende seines Vornamens gar noch weitere Sprachgrenzen überschreitet.

Titelbild

Jürg Halter / Takinawa Shuntaro: Das 48-Stunden-Gedicht. Ein Kettengedicht. Deutsch und Japanisch.
Übersetzt aus dem Deutschen von Fuminari Niimoto. Übersetzt aus dem Japanischen von Franz Hintereder-Emde.
Wallstein Verlag, Göttingen 2016.
48 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783835318724

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