Vom Anbeten zum Tun

Andreas Maier ist in seinem Lebensprojekt „Ortsumgehung“ bei Band 5 angelangt – Zeit, seinen Ich-Erzähler mit Literatur und Kunst zu konfrontieren

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach Das Zimmer (2010), Das Haus (2011), Die Straße (2013) und Der Ort (2015) ist nun mit Der Kreis der fünfte Band von Andreas Maiers auf insgesamt elf Bände konzipiertem Schreibprojekt „Ortsumgehung“ erschienen. Damit hält der Autor fast auf der Hälfte eines Unternehmens, das er vor einem Jahrfünft, als es gerade begonnen hatte, in einem Interview als sein letztes bezeichnete: „Ich denke einfach, dass ich daran bis zu meinem Lebensende schreiben werde. Erst lebt man vierzig Jahre, dann braucht man vierzig Jahre, um all das aufzuschreiben. Dann bin ich achtzig und darf sterben.“ Geplant war von Anfang an etwas ganz Großes: „[… ] eine Sprache für mich selbst, für meine Geschichten, meine Verwandten und meine Heimat zu finden.“ Weg also von der Art des Erzählens, wie er sie in seinen ersten Werken zwischen Wäldchestag (2000) und Sanssouci (2009) noch praktiziert hatte. Weg von erfundenen Figuren, Spannungsbögen und vor allem weg von Handlung: „Ich erinnere mich genau daran, wie ich das letzte Wort für ‚Sanssouci‘ geschrieben habe. Ich bin durchs Zimmer gelaufen und habe gejubelt. Und dann habe ich geschworen: Nie wieder Handlung! Nie wieder Handlung!“

Wer sich allein die Titel der bisher vorliegenden fünf Bände anschaut, dem erschließt sich schnell das Konstruktionsprinzip von Maiers „Ortsumgehung“. Es besteht gerade nicht darin, den Ort, der hier der eines Menschen in der Welt ist, durch Umgehen zu schonen, wie das bei jenen Ortsumgehungen der Fall ist, die seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts die kleinen Städtchen der Wetterau, in denen Maier groß wurde, vor dem anbrandenden Verkehr schützen sollten, sie damit aber gewissermaßen auch aus der Welt nahmen. Stattdessen wird um das Leben dieses Individuums – in den ersten vier Bänden taucht es gelegentlich als „der Andi“ auf – in konzentrischen, sich erweiternden Kreisen herumgegangen. Die orientierten sich bislang noch an räumlichen Strukturen, welche aber irgendwann ihre äußerste Ausdehnungsgrenze erreicht haben dürften. Dann sollte das Projekt ins Metaphysische kippen – Maier hat bereits verschiedentlich verlauten lassen, dass ganz am Ende der Reihe „der Teufel und als Abschluss der liebe Gott“ an die Reihe kämen.  

Aber soweit sind wir noch nicht. Der Kreis nähert sich seiner zentralen Figur in vier Lebensaltern – 6,13, 15 und 17 Jahre – und benutzt als äußeres Gliederungsprinzip die Schuletappen, die das sich punktuell erinnernde Ich einst durchlief: Grundschule, Unterstufe, Mittelstufe und Oberstufe. Dabei fällt auf, dass die beiden ersten Teile nicht nur wesentlich umfänglicher sind als die Abschnitte drei und vier, sondern dass in ihnen auch – mit teils außerordentlicher Detailversessenheit und Präzision – erzählt wird, während Teil drei lediglich den Bericht über eine Schultheateraufführung enthält und das knapp neunseitige abschließende Kapitel mit der im Mittelpunkt stehenden Schilderung der Beziehung des Erzählers zu der etwa 38-jährigen Mutter eines Mitschülers nicht mehr als ein Appendix ist, der auch gut – bis auf die letzten anderthalb Seiten, in denen man die Geburt des Schriftstellers miterlebt – dem (Ver-) Schweigen hätte anheimfallen können. Zentrales Thema aller vier Teile ist die Begegnung mit Kunst – Musik und Literatur vor allem – und die sich schließlich durchsetzende Erkenntnis, dass „das Eigentliche“ in diesem Verhältnis nicht „aus Verklärung oder Anbetung, Mythisieren und bloßem Grübeln über die Dinge“ bestehen sollte, sondern im Tun. „Daß man selbst dorthin kommen kann, auf die andere Seite“, dieser Gedanke gibt dem Erzähler schließlich den Anstoß, mit kleinen Skizzen – „Briefe an den lieben Gott“ nennt er die ersten zu Papier gebrachten Texte, in denen er alltägliche Dinge wie eine Parkbank, auf der er stundenlang gesessen hat, beschreibt – seine Karriere als Schriftsteller zu beginnen.

Die Mutter ist es, die im ersten Buchteil die Neugier des Sohnes für die Welt des geschriebenen Wortes weckt. Während ihres Klavierspiels ergreift das Kind zum ersten Mal jenes mit dem Begriff  „Durchwehen“ beschriebene Gefühl, das den Heranwachsenden später immer wieder – bei einem Rockkonzert in der Frankfurter Festhalle genauso wie im Elternhaus des späteren Schauspielers Matthias Herrmann bei Lesungen von dessen Vater – ergreifen wird. Ihr Bücherzimmer im ersten Stock des Friedberger Hauses der Familie wird für den Sohn zu dessen „Urbibliothek“, einem Ort, an dem „das Geistige“ noch von einer geheimnisvoll-irrealen Aura umgeben ist.

Zugleich registriert das Kind bereits die Außenseiterrolle, in die sich jene begeben, die Lesen und das Nachdenken über Geschriebenes zu einem wichtigen Teil ihres Lebens machen. Wenn man gemeinsam zu Tisch sitzt, hat der Vater – er ist als Anwalt bei der Frankfurter Henninger Bräu AG der Versorger der fünfköpfigen Familie – Mühe, sich auf die ihm fremden Gesprächsthemen um allerlei „-ismen“ und „-logien“ ernstlich einzulassen: „Mein Vater machte dann ein Gesicht, wie man es im Städel auf einem Gemälde von Rembrandt sieht, das König Saul zeigt, wie er David beim Harfespielen zuhört.“ Gespräche dieser Art enden denn auch gewöhnlich in einem Streit zwischen den Eltern.

Doch nicht nur die rezeptive Haltung gegenüber Literatur und Kunst bekommt der die sakrale Stimmung zwischen all den Bänden der mütterlichen Bibliothek begierig in sich aufnehmende Junge vermittelt. Noch geheimnisvoller und die Fantasie stimulierender ist die Tatsache, dass die Mutter auch schreibt. Mit ihrer kleinen, gleichförmigen, wellenartigen Schrift auf kariertem Papier füllt sie Seite um Seite. Anschließend werden die Blätter säuberlich in Ordnern abgeheftet, die mit der Zeit zwei ganze Regalfächer einnehmen. Schickt sich hier gar jemand aus der eigenen Familie an, sich zu jenen zu gesellen, deren Romane, Gedichtbände, Traktate und Abhandlungen die Wände des Bücherzimmers bevölkern. Ist die Mutter wunderbarerweise dabei, eine Grenze zu überschreiten? Und worüber wird gesprochen, wenn sie von Zeit zu Zeit Mut fasst und den Dichter Fritz Usinger (1895 – 1982), Georg-Büchner-Preisträger des Jahres 1946, mit dem sie auch über Jahre hinweg korrespondiert, in der Friedberger Burg, seinem Alterswohnsitz, besucht?

Maier ist äußerst taktvoll im Umgang mit der Mutterfigur seines Erzählers. Die Enttäuschung darüber, dass deren Ordner nur voller Exzerpte sind und keinen einzigen eigenen Satz enthalten, spürt man nur zwischen den Zeilen. Das Kind, in dessen Perspektive sich der Autor Jahrzehnte später zurückversetzt, wird sie als solche nicht empfunden haben. Bezeichnend ist es aber schon, wenn die Mutter, nachdem sie die zentrale Figur im ersten, umfangreichsten und erzählerisch gelungensten Buchteil war, in den folgenden drei Kapiteln kaum eine Rolle mehr spielt.

Stattdessen rücken andere in den Fokus der Aufmerksamkeit des Heranwachsenden. In den Friedberger Gymnasiasten Thomas Heinze – dem erfolgreichen Schauspieler ist der dritte Teil des Buchs gewidmet – , Matthias Herrmann und René Pollesch begegnen ihm zum ersten Mal Menschen mit dem klar artikulierten Ziel, Künstler zu werden: „Ich beneidete die drei. Ihr Wille war absolut auf das Erreichen von Künstlertum ausgerichtet.“ Und schließlich bringt ihn die Begegnung mit einem unkonventionellen Deutschlehrer, von dem sich Gedichte in einer Anthologie finden, die unter anderen auch Texte von Erich Fried, Günter Grass, Karl Krolow und Günter Eich enthält, zu der Erkenntnis, dass es Menschen von Fleisch und Blut sind, die hinter den Autorennamen auf den Buchrücken der Bibliotheken stehen. Der Weg auf die „andere Seite“, der sich für die Mutter als noch verschlossen erwies, liegt plötzlich offen vor ihm. Der Kreis hat sich geschlossen.

Titelbild

Andreas Maier: Der Kreis. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
149 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783518425473

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