Der Wolf und die acht Jahrzehnte deutscher Geschichte

Wolf Biermann erzählt den Roman seines Lebens auf die Art, die man von ihm kennt – unterhaltsam, ironisch und nicht ganz ohne Eitelkeit

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wolf Biermann verrät den heimlichen Antrieb seines Lebens gleich mit dem ersten Satz seiner Autobiographie: „Weggerissen wurde der Vater mir, als ich vier Monate alt war […]. Dieser eine Grundkummer ist mein Schreien, mein Quasseln, mein Stottern, all mein Singen, mein Mut, mein Übermut, mein Gelächter, mein Schweigen.“ Einmal in seinen frühen Jahren ist der Junge, von der Mutter nach einem von den Nazis hingerichteten Hamburger Schuhmacher Karl-Wolf benannt, seinem Vater, Dagobert Biermann, noch begegnet. Glühender Kommunist und Widerstandskämpfer, war der im März 1937 verhaftet und zwei Jahre später wegen „Vorbereitung zum Hochverrat und Landesverrat“ zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Im Winter 1940/41 besucht ihn seine Frau zusammen mit dem vierjährigen Sohn im Arbeitslager Teufelsmoor, wohin er nach zweijähriger Einzelhaft aus Bremen verlegt worden war. Hier stehen sich Vater und Sohn zum letzten Mal gegenüber. Und ausgerechnet ein Lied aus der berüchtigten „Goebbelsschnauze“, dem „Volksempfänger“, ist es, das der Vierjährige seinem zwei Jahre später in Auschwitz ermordeten Vater vorsingt. Eine wahrhaft katastrophale Premiere als Liedersänger, wie Biermann mehr als siebzig Jahre später schreibt. Doch Unbeugsamkeit, Mut und der feste Glaube daran, für das Richtige einzustehen – es sind alles Eigenschaften, die das Kind seinem Vater verdankt.

Warte nicht auf bessre Zeiten! hat Biermann die kurz vor dem 80. Geburtstag erschienene Autobiographie mit einer Zeile aus einem seiner Gedichte überschrieben., Er erzählt darin auf unterhaltsame und humorvolle, manchmal das Melancholische streifende und häufig von einem ironischen Grundton geprägte Weise von seinem Leben zwischen Ost und West, Hoffnung und Verzweiflung, Solidarität und Verrat, künstlerischem Erfolg und menschlicher Enttäuschung. Er, den es von Hamburg aus, wo er am 15. November 1936 geboren wurde, in den Osten Deutschlands verschlug und – nach seiner Ausbürgerung 1976 – wieder zurück in den Westen, besitzt eine jener exemplarischen Biographien, anhand derer man ein ganzes Jahrhundert besser zu verstehen vermag.

Von seinem kommunistischen Elternhaus tief geprägt, erliegt er der Anziehung einer Weltanschauung, die den Vielen zugänglich machen will, was immer das Privileg einiger Weniger war. Heine und Brecht im Gepäck, muss er freilich schnell mit ansehen, wie eine Utopie an der Wirklichkeit scheitert und die für sie Eintretenden binnen Kurzem zu Verrätern an den eigenen Überzeugungen werden.

Wolf Biermanns Leben im geteilten Deutschland war immer ein öffentliches. Im Westen wurde er verlegt, im Osten hörte man ihn hinter verschlossenen Türen im kleinen Kreis, stets besorgt, einer könnte nicht dichthalten oder mit seinem nächsten IM-Bericht den Zirkel auffliegen lassen. Man schrieb Biermanns Lieder ab, hektographierte sie und verteilte sie anschließend unter Freunden. Als die ARD einen Tag nach Biermanns Rausschmiss aus der DDR – im offiziellen Jargon „Ausbürgerung“ genannt – spät am Abend den Mitschnitt des Kölner Konzertes vom 13. November 1976, das die DDR-Oberen als Vorwand für ihre lange geplante Aktion gegen den unbequemen Sänger nutzten, ausstrahlte, war das Land bis auf jene Winkel, in die das Westfernsehen nicht hineinreichte, illuminiert. In vielen Wohnungen brannte das Licht bis tief in die Nacht, denn man misstraute den offiziellen Verlautbarungen der Parteipresse und wollte mit eigenen Augen sehen, womit sich der Dichter sein unfreiwilliges Exil als ein, wie es Heinrich Böll so klug formulierte, „In-die-Heimat-Vertriebener“ verdient hatte.

Basierend auf seinen seit 1954 bis heute ohne Lücke verfassten Tagebüchern und dem ausufernden Aktenberg, den die Stasi in Jahrzehnten über ihn anlegte – zusammengetragen von gut zweihundert Spitzeln auf mehr als fünfzigtausend Seiten, von Biermann im Nachhinein und nicht ohne Bitterkeit als „unglaublicher Service“ des ostdeutschen Überwachungsstaates verspottet – lässt der Sänger und Dichter noch einmal die Stationen seines Lebens Revue passieren. Liebevolle Porträts seiner Großeltern, die Hamburger Kindheit bis hin zu jener Nacht des Bombardements der Hansestadt, die ihm und seiner Mutter fast das Leben gekostet hätte, und immer wieder das Versprechen, dass er seinem toten Vater gegeben hatte: ihn „zu rächen und nebenbei den Kommunismus aufzubauen.“

Doch kaum ist er 1953 dort angekommen, wo der andere deutsche Staat sich die Errichtung eines neuen, besseren Deutschlands auf die Fahnen geschrieben hat, findet er sich unversehens in einer Wirklichkeit wieder, die wenig mit den genauso hehren wie leeren Versprechungen, die den jungen Idealisten anlockten, zu tun hat. Erste Enttäuschungen lassen nicht lange auf sich warten. Statt in der DDR „von den richtigen Leuten das Richtige“ zu lernen, sieht er sich nur allzu bald auf sich selbst zurückgeworfen und reagiert auf empfundenes Unrecht rabiat.

Als von Eleven der Gadebuscher Internatsschule, die er von 1953 an besucht, verlangt wird, der evangelischen Jungen Gemeinde, der sie als Christen angehören, den Rücken zu kehren, weigert sich ein einziges Mädchen und wird daraufhin vor der versammelten Schülerschaft bloßgestellt. Allein Biermann wagt den Widerspruch: „Ich bin Kommunist … Ich bin gegen die Kirche … Ich weiß, Religion ist Opium fürs Volk! … Aber das, was hier gemacht wird, das ist … kein Kommunismus… Dafür ist mein Vater nicht in Auschwitz gestorben“, begehrt der Sechzehnjährige auf. Es ist der erste Schritt auf einem Weg, der bis zu seiner Ausbürgerung 23 Jahre später die Kluft zwischen dem sich unbeirrt an seine eigenen Vorstellungen von Kommunismus klammernden jungen Mann und dem Staat, in den er zu einer Zeit gekommen ist, da Tausende ihn in der umgekehrten Richtung verließen, immer größer werden lässt.

Allein das vierzehnseitige, am Ende des Buches platzierte Personenverzeichnis lässt erahnen, wie tief Biermann auf den knapp fünfhundert Seiten seiner Lebensbeschreibung in die eigene Vergangenheit hinabtaucht. Bekannte, weniger bekannte und dem breiten Publikum unbekannte Namen stehen da nebeneinander. Es gibt die großen literarischen Vorbilder von François Villon über Heinrich Heine, Wolf Biermanns „frechen Cousin“, bis zu Bertolt Brecht. Es gibt die Lebensfreunde vom väterlichen Robert Havemann bis zu Jürgen Fuchs und Manfred Krug. Es gibt die Betonköpfe, die Künstlerkollegen – mal solidarisch, mal vorsichtig taktierend, mal offen feindselig – und ein paar ganz Große, die in einer oder zwei Begegnungen unauslöschbare Eindrücke hinterließen: Joan Baez, Allen Ginsberg, Jean-Paul Sartre etwa. Es gibt die, denen keine Träne nachgeweint wird – Peter Hacks zählt dazu – und die, an die sich Biermann dankbar erinnert: Hanns Eisler etwa, Wolfgang Heise oder Heinrich Böll. Und natürlich gibt es die Frauen seines Lebens bis hin zu der, die wohl den größten Anteil hatte am Zustandekommen der vorliegenden Autobiographie: Pamela Biermann, der er als seiner „Muse“ am Ende dankt für die Ermutigung, ihn nach Jahrzehnten als „Poesie-Sprinter“ noch auf die „kräftezehrende Prosa-Langstrecke“ getrieben zu haben.

Es hat sich jedenfalls gelohnt. Auch wenn es für den Leser ein paar kleinere Durststrecken zu überstehen gilt, wo das Biermannsche „Ich“ die ihn umgebende Gesellschaft zu sehr überstrahlt, wo dem Autor die fortlaufende Erzählung seines Lebens nicht ganz so flüssig gelingen will wie auf den ersten hundert Seiten und man gelegentlich den Eindruck hat, bei den eingestreuten Gedichten und Liedern handele es sich um die poetischen Stoßseufzer eines sich mühsam an dem Materialberg seines Daseins abschuftenden Sisyphos. Weniger wäre da gelegentlich wohl mehr gewesen. Alles in allem aber ist der Weg von der Person Wolf Biermanns zur Geschichte des Jahrhunderts, vor dessen Hintergrund der Dichter seine Kämpfe austrug, nur ein kurzer. Und genau dies Exemplarische macht Warte nicht auf bessre Zeiten! zum bewegenden Zeugnis einer Zeit, in der große Zukunftsvisionen sich als nicht umsetzbar in die Realität des Menschen erwiesen. Doch auch nach dem Ende des Kommunismus hört das Träumen für Wolf Biermann nicht auf. Was soll man denn auch sonst tun, als weiter seiner „hoffnungslosen Hoffnung auf die Vernunft des Menschen“ anzuhängen?

Titelbild

Wolf Biermann: Warte nicht auf bessre Zeiten! Die Autobiographie.
Propyläen Verlag, Berlin 2016.
544 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783549074732

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