Finale in Finkloch

In „Onno Viets und der weiße Hirsch“ lässt Frank Schulz seinen Hamburger Privatdetektiv ein letztes Mal ermitteln

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt ja Menschen, denen partout nicht der ganz große Lebensentwurf gelingen will. Und die trotzdem nicht am Dasein verzweifeln. Hinnehmen, was hinzunehmen ist. Sich mal hier, mal da versuchen. Alles easy finden, auch wenn die Kohle nicht für den ganzen Monat reicht. Hin und wieder ein kleines bisschen Glück haben und sich daran erfreuen können, als hätten sie das große Los gezogen. Tagträumer und Gassenphilosophen ohne das geringste schlechte Gewissen, wenn andere gestresst an ihnen vorbeirennen, während sie sich zu den bekennenden „Nicht-Schwitzern“ zählen. Ja, solche Leute jenseits von Smoothies, Smartphones und Powerstretching gibt es durchaus – und häufig sind das nicht einmal die unsympathischsten Zeitgenossen.

Onno Viets jedenfalls ist so ein Mensch. Dreimal hat ihn Frank Schulz (Jahrgang 1957) bis dato auftreten lassen. Als Privatdetektiv ohne Glück– Onno Viets und der Irre vom Kiez (2012) –, als Kreuzfahrtpassagier mit delikatem Auftrag – Onno Viets und das Schiff der baumelnden Seelen (2015) – und nun, in Onno Viets und der weiße Hirsch, als Rekonvaleszenten auf dem Lande. Ein viertes Mal, so hört und liest man jedenfalls, soll es nicht geben – so wie bei der Romanreihe, mit welcher der in Hagen geborene Autor sich seinen immer noch nicht weit genug verbreiteten Ruf erwarb, einer der besten Stilisten seiner Generation zu sein: der Hagener Trilogie (1991–2006).

Rekonvaleszent auf dem Lande, im niedersächsischen Nest Finkloch, dessen Name fatal an das Funkloch erinnert, jenen Ort des totalen kommunikativen Blackouts, den jeder einigermaßen mit der heutigen Zeit Gehende am liebsten fluchtartig hinter sich lässt, um schnell wieder Anschluss zu finden an Facebook, Instagram, Twitter und Co. – da muss doch etwas passiert sein. Ist es auch – und zwar in Band 1 der Onno-Viets-Romane, als Onnos erste Mission als selbst ernannter Privatdetektiv so gewaltig schiefging, dass er sich in der Folge eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) einfing und ihm die Angst in Tränenform aus den Augen lief.

Weil Landluft, Ruhe und der die Psyche kräftigende Einfluss von Wald, Wiese und Wohlfühlen im Kreise der Schwiegerfamilie Onno wieder auf die Beine bringen sollen, wird er von seiner ihn liebevoll umsorgenden Frau Edda also für eine Weile fern von Hamburg und den damit verbundenen schmerzlichen Erinnerungen geparkt. Allein die deutsche Dorfidylle erweist sich nicht mehr als das Allheilmittel für Ausgebrannte und von Panikattacken Gequälte, das sie einmal war. Im Gegenteil: Kaum hat sich Onno auf dem Lande akklimatisiert, wird er auch schon in geheimnisvolle Vorgänge hineingezogen und muss am Ende gar wieder detektivisch tätig werden.

Denn eine Leiche taucht im Paradies abseits der Großstadt auf. Und weil der Pensionär Knut Wiesmann, als man ihn tot auf einem Hochsitz am Rande des nachts nicht ganz geheuren Mondwaldes fand, zwischen seinen blitzenden dritten Zähnen ein Tannenzweiglein trug, wie es nach altem Brauch Jäger ihrer erlegten Beute als letzte Mahlzeit zwischen die Kauwerkzeuge zu schieben pflegen, liegt der Verdacht nahe, dass hier wohl jemand dem Ableben des Mannes ein bisschen nachgeholfen hat. Aber wer? Etwa die „Katzenzenzi“ genannte Dora Maria Zils, die sich den Künstlernamen Tara Parinama gegeben hat und im früher von Onnos Schwiegervater Henry Baensch als „Amtsförster a.D. wie aus dem ZDF“ bewohnten Forsthaus Mondscheinseminare – „LUNA LESSONSTM“ – für Betuchte veranstaltet, deren okkulten Verlauf sie mittels eines Infraschallwellengenerators ins Orgasmische steigert? Oder eine von jenen vielen jungen Frauen, denen der rüstige Rentner nicht nur mit seinem ein wenig zu groß ausgefallenen Gebiss, sondern auch mit seinen vorwitzigen Fingern im Laufe der Jahre zu nahe gekommen ist? Als dann auch noch auf Henry Baensch geschossen wird, als der, dessen innere Unruhe seit dem Tode Wiesmanns von Tag zu Tag größer geworden ist, zur Entspannung mit Schwiegersohn Onno just im Vollmondlicht zur Jagd ansitzt, wird es höchste Zeit, dass Schulzens Held mit Unterstützung seiner Hamburger Tischtennisfreunde vom BSV Hollerbeck Eppendorf e.V. Licht ins Dunkel bringt.

Onno Viets und der weiße Hirsch ist – auch wenn er als deren Schlussband erscheint – chronologisch gesehen das Mittelstück der Trilogie um den sympathischen Mittfünfziger. Onnos Flucht aufs Land unter die Fittiche seiner Schwiegereltern ist die direkte Folge seiner Begegnung mit dem Hamburger Kiezschläger Tibor Tetropow. Den Showdown mit dem „Irren vom Kiez“ auf dem Alsterdampfer „Saselbek“ hat er mit Mühe und ein bisschen Glück überlebt, allerdings ist sein innerer Kompass darüber in Unordnung geraten. Das hat auch Auswirkungen auf seine Ehe, sodass seiner Frau Edda, die er seit Kindertagen kennt und liebt, mindestens so an seiner Genesung gelegen ist wie ihm selbst. Seit Onno Viets und das Schiff der baumelnden Seelen weiß man, in welch gefährliche und Onnos Männerfreundschaft zu Dr. Christopher Dannewitz – Anwalt, Tischtennispartner des Helden und Erzähler von dessen Abenteuern – gefährdende Schieflage die Ehe des unglücklichen Privatdetektivs nach dem Alster-Abenteuer geriet. Erst jetzt erfährt der Leser, wie es dazu kam.

Unterbrachen (und erklärten zugleich) in Onno Viets und der Irre vom Kiez vier Internet-Videoclips die Handlung, lehnte Frank Schulz die Mittelmeerkreuzfahrt seiner Figur dann – den heiter-derben Aspekt dieser Unternehmung betonend – an dem volkstümlichen Kasperletheater nachempfundene Szenen an. Im dritten Onno-Viets-Roman sucht man ähnliche literarische Parallelaktionen nun vergeblich. Dafür wird der Bereich der persönlichen und gesellschaftlichen Verdrängungen zu einem Thema, das, erst langsam angespielt, den Schluss des Romans von einer Dorfposse zu einem die deutsche Geschichte der letzten 60 Jahre reflektierenden Roman werden lässt. Der posttraumatischen Belastungsstörung seines Helden entsprechen plötzlich auf anderen Ebenen die Probleme, die die Familie Baensch mit ihrer dritten Tochter, einer RAF-Terroristin, die verschwunden und dennoch in Gedanken immer präsent ist, hat, genauso wie die tragische Geschichte von Krieg und Vertreibung, mit der Henry Baensch auch nach mehr als einem halben Jahrhundert nicht fertiggeworden ist. Ernster und – wenn nicht alles täuscht – persönlicher hat Frank Schulz keines seiner bisher vorliegenden Bücher zu Ende gebracht.

Mit Onno Viets, der wenig kann und viel versucht, dem an der Tischtennis­platte alles gelingt, im Leben hingegen eher wenig, hat der heute in Hamburg lebende Autor einen ganz wunderbaren Charakter erfunden. Einen, der sich immer durch­schummelt. Der, wenn man ihm die Kneipe zumacht, eine Privatdetektei eröffnet. Ein Stehaufmännchen und Hans-guck-in-die-Luft, dem man gern auf seinen verschlungenen Wegen folgt. Dass die nun ausgeschritten sein sollen, muss der Leser erst einmal verdauen.

Titelbild

Frank Schulz: Onno Viets und der weiße Hirsch. Roman.
Galiani Verlag, Berlin 2016.
358 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783869711270

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