Irrwitziges Schwafelbuch

Von Friedhelm Rathjen

Als Gott Irlandbücher machte, hat er mehr als genug davon gemacht. Es gibt faktengesättigte und facettenreiche; warum aber avancierte gerade dieses irrwitzige Schwafelbuch, das weder das eine noch das andere ist, zum Klassiker, ohne dessen Lektüre kein deutscher Reisender nach Irland aufbrechen mag? Es wird nicht nur daran liegen, dass der Autor ein ausgewiesener Literat ist, ein nachmaliger Nobelmann gar, dem verträumte Anmutung über jede Realitätssicht geht. Vielmehr hat unser Armutsreisender, der sich seinen Ruf als guter linkischer Mann hart erarbeiten musste, hier ein Flucht- und Ausfluchtbuch geschrieben für alle, die von den Segnungen der Moderne in Mitteleuropa überfordert waren. Die schlimmeren dieser Segnungen empfindet er „als Blasphemie“, ihre Anhänger als „neuzeitliche Mißgeburten, die keine Zeit haben“, um so mehr freut er sich über den „Eindruck einer überwältigenden Frömmigkeit“, der ihm auf der grüngrauen Insel sogleich entgegenschlägt und den er in einem tranigen und wiederholungslastigen schwülstigen Stil festhält.

Nicht nur an dieser Frömmigkeit findet er Gefallen, sondern fast mehr noch an der Mentalität von Menschen, die sich, wann immer sie können, mit Whiskey volldröhnen, bevorzugt in Gegenwart ihrer Kinderschar, die erfreulich vielköpfig ist, weil von so bösen Dingen wie Empfängnisverhütung hier noch niemand gehört hat. Von den sechs oder acht oder zehn niedlichen Kindchen, die jede Frau gebiert, wird mindestens jedes zweite auswandern müssen – das ist ein wenig traurig, fürwahr, aber diese Traurigkeit ist doch auch wiederum schön poetisch und mehrt Sehnsüchte und andere Sentimente romantischer Natur. Überhaupt haben alle Iren eine „poetische Begabung“, womit unser schwärmender Literat meint, dass ihnen ihre blühende Fantasie über alles geht, nicht nur über nüchterne Fakten (von denen unser Autor bisweilen einige durcheinander bringt, was aber nichts macht, da es um sie hier gar nicht geht), sondern auch über Regeln und Vorschriften.

Strandräuberei und andere mindere Vergehen werden allseits gebilligt, Polizisten sind an ihrer Verfolgung nicht wirklich interessiert und lieben den Revolver des Rebellentums, den sie heimlich verwahren, weit mehr als die Pistole des Gesetzes, die an ihrer Hüfte baumelt. Überhaupt baumelt hier so allerlei; die Iren stolpern und schlurfen schlampig durch ihr hübsch unhygienisches Ländchen, fluchen niedlich vor sich hin und geben sich kindisch und begriffsstutzig, wenn Herr Henry aus Germany etwas von ihnen will, dies aber doch auch wieder auf ganz reizende Weise. Zum Dank zeichnet Herr Henry aus Germany sie holzschnittartig, weniger als Menschen denn als liebenswerte Karikaturen, die erfreulicherweise am Ende dankbar sind, wenn der deutsche Gast ihnen erklärt, dass Herr Hitler doch ein böser Mann war, wiewohl auch er die Engländer bekämpfte. 60 Jahre nach dem Ersterscheinen könnte dieses irische Zahnwehbuch endlich der Gnade des Vergessens anheimfallen, doch seine Fans werden das Jubiläum begehen mit Feuerwerk und Geböller. „O törichte, dumme Welt“!

Ein Beitrag aus der Rubrik „Stiftung Jahrestest 2016“

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen