Goethe kann vieles bedeuten

Zu spät eingeschaltet neulich: nur noch mitbekommen, wie der muntere Biermann sein Verhältnis zu Brecht erläutert. Nun sind dessen Geburtstagsfestivitäten leider schon passé, doch Biermann bleibt auf der Höhe der Zeit und greift flink zu einer Sentenz des diesjährigen Jubilars. Von Goethe wisse man, es gebe "gegen große Vorzüge eines andern [...] kein Rettungsmittel als die Liebe" ("Die Wahlverwandtschaften"). Neidlos, gelassen, großmütig: ganz Geheimrat - und ganz brechtisch zudem, nämlich in Fragen des geistigen Eigentums. Goethe kopiert hier schlicht eine Überlegung Schillers und paßt sie den Verhängnissen des Romangeschehens an. Bei Schiller war nicht vom "Rettungsmittel", sondern, wie zu erwarten, von "Freiheit" die Rede.

Biermanns Randbemerkung mag die Verdienste des Co-Klassikers getrost unterschlagen, und doch erscheint sie als Symptom einer Tendenz: Goethe kann vieles bedeuten. Gern wendet man sich in seinem Namen der Welt zu, den Phänomenen, deren Vielfalt und unauslotbaren Tiefen, um Schiller und mit ihm den anstrengenden Begriff zu vernachlässigen.

Das passiert, und nicht nur im Goethejahr, den klügsten Köpfen: Vor einiger Zeit begann der Rezensent einer Monographie zur Geschichte der Ästhetik seine Kritik mit dem obligatorischen Hinweis auf Goethe. Dieser habe, so lesen wir, im Brief an Schiller dazu aufgefordert, auf den Begriff der "Schönheit" zu verzichten und "die Wahrheit in ihrem vollständigsten Sinn an seine Stelle zu setzen." Das klingt neu, unerhört, wehrt sich gegen die Regeln der Kunst - und stammt leider aus Schillers Feder. Nur glauben will man es nicht, traut es ihm nicht zu, dem ewigen Jüngling und idealischen Heißsporn.

Doch es ist nun mal so: Ein rechter Olympier muß delegieren, und Goethe weiß, wer ihn und seine Arbeiten auf den Begriff bringen kann. Daß sein Leiden Schiller gewöhnlich bis in die frühen Stunden wach hält, kommt da nur gelegen: "Nun wünschte ich aber, daß Sie die Güte hätten, die Sache einmal, in schlafloser Nacht, durchzudenken...".

Der frühe Tod des Gefährten im Jahre 1805 sorgt demnächst für ein Gedenkjahr, und daß dann 2009 auch Schillers Geburtstag zum 250ten Mal wiederkehrt, wird die Festreden sicher nicht kurzweiliger machen. Beim gegenwärtigen Stand der Klassiker-Austauschbarkeit sollte man zu der drängenden Frage "Wer hat Schillers 'Faust' geschrieben?" jedenfalls schon mal ein Kolloquium planen.

Für Goethe war Schillers Ableben eine Katastrophe. Wer konnte dessen Aufgabe übernehmen? Da schickt eine glückliche Fügung Humphrey Bogart nach Weimar. Der wäre dieses Jahr übrigens hundert, und einem Brief Goethes an ihn entnehmen wir den hohen Anspruch: "Du mußt jetzt für uns beide denken!" Ingrid Biermanns traurige Augen leuchten.

Und erblicken Goethe-Bücher noch und nöcher: für die Verlage sind Geburtstage Anlaß, zu zeigen, was sie haben, und sich neue Ziele zu setzen; Paul Raabes "Spaziergang durch Weimar" hat sich bestens eingeführt und bewährt; der Goethe-Comic von Friedemann Bedürftig und Christoph Kirsch macht nicht nur Kinderaugen leuchten. Beide Bücher hat Lutz Hagestedt angesehen.