Deutsche Dichterin des jüdischen Schicksals

Nelly Sachs zum 125. Geburtstag und zum 50. Jahrestag der Literaturnobelpreisverleihung

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Die deutsch-schwedische Schriftstellerin Nelly Sachs erhielt 1966 gemeinsam mit dem hebräischen Schriftsteller Samuel Agnon den Literaturnobelpreis, womit ihre literarische Auseinandersetzung mit dem jüngeren Schicksal des jüdischen Volkes gewürdigt wurde. Nach zwanzig Jahren (Hermann Hesse, 1946) erhielt wieder ein deutschsprachiger Autor diese höchste literarische Auszeichnung. Überhaupt war sie die erste deutsche Dichterin, der ein Nobelpreis zugesprochen wurde.

Fünfzig Jahre später ist Nelly Sachs fast vergessen. Kaum jemand kennt heute noch ihre Gedichtbände In den Wohnungen des Todes, Flucht und Verwandlung oder Fahrt ins Staublose – eine Ironie der Geschichte, denn sie schrieb gegen das Vergessen an. Nelly Sachs, die Entrechtung, Terror und Bedrohung am eigenen Leib erfahren hatte, gehört gewissermaßen zu jenen Autoren wie Peter Weiss, Paul Celan oder Erich Fried, die erst im Exil zu schreiben begannen und deren Hauptwerk nach 1945 liegt.

Vor 125 Jahren, genau am 10. Dezember 1891, wurde Nelly Sachs als Leonie Sachs in Berlin-Schöneberg geboren. Als Einzelkind wuchs sie unter behüteten Umständen in einem assimilierten jüdisch-großbürgerlichen Elternhaus auf. Ihr Vater war ein hochbegabter Techniker und erfolgreicher Fabrikant. Wegen ihrer zarten Gesundheit wurde die kleine Leonie, deren Wunsch es war, Tänzerin zu werden, häufig von der Schule genommen und von Hauslehrern unterrichtet. Ihre stille Kindheit hat sie später einmal selbst als „Einsamkeitshölle“ bezeichnet. Das empfindsame Mädchen fühlte sich häufig von den Eltern alleingelassen und der Obhut der Dienstboten überlassen. Eine tröstende Bezugsperson war allein ihr Kindermädchen Teresa.

In diese frühen Jahre fallen bereits erste literarische Versuche, zunächst Gedichte, danach kurze Erzählungen sowie Stücke für Puppentheater. Zu ihrem fünfzehnten Geburtstag bekam sie den Roman Gösta Berling der schwedischen Schriftstellerin Selma Lagerlöf (1858-1940) geschenkt. Fasziniert von diesem Werk suchte die schüchterne Halbwüchsige den Briefkontakt mit der Autorin, die 1909 als erste Frau den Literaturnobelpreis erhalten sollte. Nichtsahnend entwickelte sich daraus eine lebenslange Korrespondenz zwischen beiden Frauen, die sich durch eine von Einsamkeit geprägte Kindheit und ihre dichterische Fantasie wahlverwandt fühlten. Die ersten Gedichte und Geschichten vertraute Nelly Sachs ihrem leuchtenden Vorbild an, „wie man sein Gebet hinaus ins Unwirkliche richtet“.

Als 17-Jährige verliebte sich Nelly in einen Unbekannten. Ob sie abgewiesen wurde oder inwiefern der Vater die Liebesbeziehung unterband, ist bis heute unklar. Diese unglückliche Liebe stürzte sie in eine tiefe psychische Krise, sodass sie sogar in einem Sanatorium behandelt werden musste. Letztendlich war diese schmerzhafte Erfahrung aber der Auslöser für ihr weiteres Schreiben. Dieser „Geheimnisvolle“, den sie später als Widerstandskämpfer beschrieb, ging als „toter Bräutigam“ in ihre Gedichte ein. Genaueres über ihn ist jedoch nicht bekannt.

Ihre literarischen Vorbilder waren neben den Lyrikern Friedrich Hölderlin, Novalis und Clemens Brentano auch Fjodor M. Dostojewski und natürlich Selma Lagerlöf, der sie auch ihr erstes 1921 erschienenes Buch Legenden und Erzählungen schickte – mit der Widmung: „Dieses Buch soll Selma Lagerlöf zu ihrem Geburtstag einen innigen Gruß aus Deutschland bringen! Es ist geschrieben von einer jungen Deutschen, die in der großen schwedischen Dichterin ihr leuchtendes Vorbild verehrt.“ Die Nobelpreisträgerin dankte postwendend: „Herzlichen Dank für das schöne Buch! Hätte es selbst nicht besser machen können.“ Diese Antwortkarte bewahrte Nelly Sachs bis an ihr Lebensende auf.

Stefan Zweig hatte ihren gedruckten Erstling mit neun Prosastücken ermöglicht. Sie bekam durchweg positive Kritik und konnte so in den folgenden Jahren gelegentlich Gedichte und Erzählungen in den verschiedensten Zeitungen veröffentlichen, ab 1929 sogar im Berliner Tageblatt. Ansonsten lebte sie in den turbulenten 1920er-Jahren sehr zurückgezogen, blieb im Elternhaus und pflegte ihren schwerkranken Vater bis zu dessen Tod 1930.

Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten veränderte sich ihr Leben grundlegend; es begann eine Zeit der Angst und des Untertauchens. Für ihre Gedichte fand sie keine öffentliche Plattform mehr; so kam eine für den Insel Verlag geplante Gedichtausgabe nicht mehr zustande. Jetzt erst setzte sich Nelly Sachs mit ihrer jüdischen Vergangenheit auseinander. Mit der Mutter versuchte sie in Berlin so unauffällig wie möglich zu leben, dennoch wurde sie mehrfach zu Gestapo-Verhören einbestellt. Hierbei soll sie ihrem früheren Geliebten wieder begegnet sein und seine Marter und seinen Tod miterlebt haben.

Täglich müssen die beiden alleinstehenden Frauen die zunehmenden Demütigungen ertragen: „Ich habe mit meiner geliebten Mutter acht Jahre unter ständigem Herzklopfen vor der Gestapo in Berlin zugebracht.“ Erst spät, fast zu spät, entschlossen sie sich zur Flucht aus Deutschland. Durch die Bemühungen einer arischen Freundin und Selma Lagerlöf sowie des schwedischen Königshauses konnten Mutter und Tochter am 16. Mai 1940 mit der buchstäblich letzten noch nach Schweden fliegenden Passagiermaschine Berlin verlassen.

Mit ihrer Mutter lebte die 50-jährige Nelly Sachs nun in ärmlichen Verhältnissen, in einer kleinen Einzimmerwohnung in Stockholm. Neben der Pflege der alten Mutter versuchte sie zeitweise, den Lebensunterhalt als Wäscherin zu bestreiten. Sie erlernte die schwedische Sprache und übersetzte schwedische Lyrik ins Deutsche. Immer öfter drangen Nachrichten und detaillierte Berichte über die Deportationen und den millionenfachen Mord an den europäischen Juden in ihr Stockholmer Exil. Unter diesem Eindruck änderte sich ihre eigene lyrische Sprache. Nach der romantischen Bild- und Formwelt ihrer frühen Gedichte versuchte sie nun, das Unsagbare von der unbegreiflichen Massenvernichtung in Worte, in Gedichte zu fassen: „Es muss doch eine Stimme erklingen und einer muss doch die blutigen Fußspuren Israels aus dem Sande sammeln und sie der Menschheit aufweisen können.“ Mit dieser Selbstverpflichtung entstanden in den Jahren 1943/44 lyrische Bilder von Schmerz, Verzweiflung und Tod, die später in den beiden Sammlungen In den Wohnungen des Todes und Sternenverdunklung erschienen. Damit wollte sie denen eine Stimme geben, die selbst nichts mehr sagen konnten. Sie war die erste Schriftstellerin, welche die Schornsteine von Auschwitz zum lyrischen Thema machte:

O die Schornsteine

Und wenn diese meine Haut zerschlagen sein wird,
so werde ich ohne mein Fleisch Gott schauen.
Hiob

Auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes,
Als Israels Leib zog aufgelöst in Rauch
Durch die Luft –
Als Essenkehrer ihn ein Stern empfing
Der schwarz wurde
Oder war es ein Sonnenstrahl?

O die Schornsteine!
Freiheitswege für Jeremias und Hiobs Staub –
Wer erdachte euch und baute Stein auf Stein
Den Weg für Flüchtlinge aus Rauch?

O die Wohnungen des Todes,
Einladend hergerichtet
Für den Wirt des Hauses, der sonst Gast war –
O ihr Finger,
Die Eingangsschwelle legend
Wie ein Messer zwischen Leben und Tod –

O ihr Schornsteine,
O ihr Finger,
Und Israels Leib im Rauch durch die Luft!

Mit einer derart herben, aber dennoch lyrischen Sprache schilderte Sachs die Grauen der Shoah, ohne dabei moralisch oder politisch zu richten. Die Gedichte waren eher ein Totengedenken, die die Erinnerung an die Opfer wachhalten sollen. Wie radikal sie sich von ihren früheren Werken verabschiedete, beweist ihre Verfügung, dass nichts, was vorher von ihr verfasst wurde, später gedruckt werden sollte.

Nach Kriegsende erschienen nach und nach ihre Gedichte, die zunächst nur Freunden bekannt waren. 1947 veröffentlichte der Ostberliner Aufbau Verlag auf Betreiben von Johannes R. Becher ihren Gedichtband In den Wohnungen des Todes. Zwei Jahre später folgte im Bermann Fischer Verlag, Amsterdam, der Gedichtband Sternenverdunkelung. In der jungen Bundesrepublik wurden in den Nachkriegsjahren der Nationalsozialismus und vor allem der Holocaust noch weitgehend verdrängt, sodass ihre Lyrik dort erstmals 1956 erschien – in der von Alfred Andersch herausgegebenen Zeitschrift Texte und Zeichen.

Trotz des schmerzlichen Verlusts der geliebten Mutter 1950 und des eigenen äußerst labilen Gesundheitszustands entstanden in den 1950er-Jahren noch weitere Gedichtbände: Und niemand weiß weiter (1957) und Flucht und Verwandlung (1959). 1961 erschien dann im Suhrkamp Verlag mit Fahrt ins Staublose der erste Sammelband ihrer Gedichte. Daneben hat Nelly Sachs auch einige szenische Dichtungen und Bühnenstücke verfasst, wie Eli, Ein Mysterienspiel vom Leiden Israels (1951 und 1958 als Hörspielfassung), in dem sie den Untergang des europäischen Judentums beklagte. Unter dem Titel Zeichen im Sand wurde ein Großteil dieser szenischen und dramatischen Dichtungen 1962 dann bei Suhrkamp veröffentlicht. Da sie für Nicht-Eingeweihte jedoch schwer zugänglich waren, wurden sie bis heute kaum aufgeführt.

Nach dem Eichmann-Prozess wurde Nelly Sachs und ihr Werk einem breiteren Publikum in der Bundesrepublik bekannt (vor allem ein Verdienst von Hans Magnus Enzensberger, Alfred Andersch, Elisabeth Borchers und ihres Biografen Bengt Holmquist). In ihren späteren Bänden Glühende Rätsel (1964), Späte Gedichte (1965), Die Suchende (1966) bis hin zu dem Nachlassband Teile dich Nacht (1970) löste sie sich von ihren lyrischen Vorbildern und fand zu einer eigenen Sprache.

In den 1960er-Jahren stellten sich erste Würdigungen und Preisverleihungen ein, u.a. 1960 der Droste-Preis der Stadt Meersburg, wobei sie nur zur Preisverleihung zum ersten Mal seit ihrer Flucht wieder deutschen Boden betrat. 1961 rief die Stadt Dortmund den Nelly-Sachs-Preis als zweijährlichen Literaturpreis ins Leben. Die erste Preisträgerin war Nelly Sachs selbst. Als erste Frau erhielt sie 1965 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Ein Jahr später erfuhr ihr Lebenswerk die Krönung mit der Verleihung des Literaturnobelpreises, den sie an ihrem 75. Geburtstag aus der Hand des schwedischen Königs entgegennehmen konnte. Mit „herausragenden lyrischen und dramatischen Werke“ habe sie „das Schicksal Israels mit ergreifender Stärke interpretiert“ hieß es in der Begründung der Jury.

Wie zuvor mied die Hochgeehrte auch nach dieser Würdigung die Öffentlichkeit und gab selten Informationen zu ihrem Leben preis: „Meine Bücher enthalten alles, was vielleicht einer oder der andere wissen will über mein Leben … Ich selbst will meine Einsamkeit!“ Bis zuletzt arbeitete, schrieb und schlief sie in ihrer kleinen, vier mal vier Meter großen Küche, von ihr auch „Kajüte“ genannt. Nach langer Krankheit starb Nelly Sachs am 12. Mai 1970 im Alter von 78 Jahren in Stockholm und wurde auf dem jüdischen Friedhof beigesetzt. Kurz zuvor hatte sie noch vom Selbstmord Paul Celans erfahren – dem anderen deutschsprachigen Lyriker, mit dem sie jahrelang eng befreundet war, für den das Trauma der Shoah zentral in seiner Dichtung war.

Das literarische Werk von Nelly Sachs ist überwiegend ein Alterswerk, das in ihrem Stockholmer Exil entstand und das sie der persönlichen Erfahrung der Unmenschlichkeit abgetrotzt hat. Dabei blieb sie der deutschen Sprache, der „Mördersprache“, lebenslang treu und schuf in der deutschen Dichtung eine einzigartige Verarbeitung des Schmerzes und des Grauens – aber auch der Vergebung, der Rettung und des Friedens.