Trommelfeuer und Zeichenhülsen

Viktor Martinowitschs dystopischer Zukunftsroman „Mova“ bewegt sich zwischen Thriller und Sprachphilosophie

Von Manfred RothRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Roth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahr 4741 chinesischer Zeitrechnung haben sich die politischen Gegebenheiten verschoben. Westeuropa ist zu einer Schwellenlandregion geworden, deren Einwohner als Emigranten ihr Glück im Osten suchen. Auf dem Gebiet Belarus kursiert das staatlich verbotene Mova, eine, wie es im gleichnamigen Roman des Autors Viktor Martinowitsch heißt, „nichtsubstanzielle Droge“. Die Droge, das sind Wörter auf Papier, die beim Lesen einen halluzinatorischen Rausch auslösen können, und auch der Roman selbst hat streckenweise etwas Rauschhaftes. Die turbulente Handlung entspinnt sich, als chinesische Triaden, belarussische Widerstandskämpfer und die staatliche Suchtmittelbehörde auf den Plan treten und die beiden Ich-Erzähler, ein Mova-Dealer und ein Mova konsumierender Junkie, in einen Strudel von Ereignissen geraten, bei denen schnell klar wird, dass Mova weit mehr ist als nur eine Droge; denn tatsächlich ist der Begriff Mova das belarussische Wort für Sprache und gleichzeitig Synonym für das Belarussische selbst.

Sprache als Droge, das klingt zunächst irgendwie vertraut. Allerdings wird bald deutlich, dass hier nicht die inhaltliche Bedeutung der Sprache und auch nicht ihre literarische oder poetische Qualität den Rausch auslösen, sondern die sprachlichen Zeichen selbst. Gerade wenn der Konsument die Mova-Texte nicht versteht, entfalten sie ihre Wirkung, solange sie auf Belarussisch sind. Das Bezeichnende ist dem Menschen so sehr als Muttersprache in die Psyche eingeschrieben, dass er es auch dann noch intuitiv erkennt, wenn er keinen Bezug zum Bezeichneten herstellen kann. Die politische Dimension von Martinowitschs Roman als Auflehnung gegen ein autoritäres Regime ist einerseits unverkennbar, gleichzeitig ist Mova aber auch ein postmodernes, selbstreferentielles, literarisches Spiel.

In literarischen Texten sind Ich-Erzähler geradezu Sinnbild unzuverlässigen Erzählens, und dass Martinowitsch gleich mehrere in seinem Roman einsetzt, verdeutlicht unmissverständlich, für das Gesagte gibt es keine autoritäre Instanz, die eine einheitlich stringente Bedeutung garantiert. Der Roman Mova nutzt diese Unzuverlässigkeit konsequent aus, indem er Bedeutungen destabilisiert, Erzähltes umdeutet und den Leser verunsichert. Bereits beim Zeitpunkt der Handlung scheint er eine falsche Fährte zu legen. Was als Jahr 4741 chinesischer Zeitrechnung zunächst wie eine weit entfernte Zukunft anmutet, ist nach gregorianischem Kalender das Jahr 2044. So fern ist diese Zukunft also gar nicht, wie man vielleicht zunächst meinen könnte und wie die ersten Seiten zu suggerieren scheinen. Martinowitschs Zukunft ist eher eine überspitzte, manchmal in ihr Gegenteil verkehrte Gegenwart.

Die fehlende Stringenz ist aber auch das Hauptproblem des Romans. Es scheint zunächst nicht recht stimmig, dass in dieser Zukunft, in der auf die „original Arnie-Wangenknochen“ einer Figur verwiesen und kommentarlos ein Lied des schon heute (zu Recht) fast vergessenen Musikers Dr. Alban zitiert wird, eine Figur nicht mehr weiß, wozu die Pedale bei einem Auto dienen: „Wahrscheinlich musste man die treten, damit sich das Fahrzeug fortbewegte. Wie bei einem Fahrrad.“ Sicherlich entbehrt diese Ignoranz nicht einer gewissen Komik, und natürlich drückt sich darin eine Geschichtsvergessenheit der Figuren aus, die, vor allem was historische Ereignisse angeht, so konsequent danebenliegen, dass man nur schmunzeln kann. Mova wäre aber nicht der postmoderne Roman, der er ist, wenn er nicht explizit auf diese Geschichtslosigkeit verweisen würde. Was von der Gegenwart in Zukunft übrig bleiben wird, so scheint er anzudeuten, sind vor allem Pop- und Konsumkultur.

Auf sprachlicher Ebene findet sich ein ähnliches Phänomen. Die manierierten Anglizismen des Junkie-Erzählers beispielsweise können durch ihre Penetranz auf Dauer ermüden. Zumal sie zunächst in dieser erzählten Welt, deren Beziehung zum englischen Sprachraum nie explizit gemacht wird, irgendwie fehl am Platz wirken. Rückwirkend, vom Ende her, mögen sie zwar ihre Berechtigung haben, doch bis dahin ist es ein langer Weg. Außerdem sind manche sprachlichen Ausdrücke nicht immer treffend. So heißt es etwa an einer Stelle, bevor es im Roman ausgesprochen gewalttätig zur Sache geht: „Tür auf, du Grashüpfer.“ Grashüpfer? Und das ist nur eine von zahlreichen Textstellen, in denen das sprachliche Register unangemessen erscheint, indem es den Ernst einer Situation der Lächerlichkeit preisgibt.

Theoretisch ließe sich selbst das noch als programmatisches Konzept des Nebeneinanders von konkurrierenden Bedeutungen im Roman deuten. Aber auch wenn in Mova das Gesagte laufend relativiert, überschrieben oder umgedeutet wird, heißt das nicht, dass damit auch die ersten Leseeindrücke notgedrungen getilgt werden. Die Versatzstücke der Romanwelt wollen manchmal nicht so recht zusammenpassen, selbst wenn sich Unstimmigkeiten in der fiktionalen Welt recht einfach mit der Unzuverlässigkeit der Erzähler und den Sprachzeichen als bloße Worthülsen wegerklären lassen. Natürlich kann dies als Spiel beim Lesen reizvoll sein, allerdings birgt dieser poetologische Kniff die Gefahr, dass sich der Eindruck von Beliebigkeit einstellt.

Mova ist ein Roman, der vieles gleichzeitig sein will: der sich als Spiel gibt und hochpolitisch ist, der die Subjektivität seiner Erzähler explizit macht, darauf verweist, dass Figuren Literatur sind, nur aus den Worten eines Autors bestehen und lediglich ihre Funktion in der Handlung des Romans erfüllen; dass sie ganz Gegenwart sind, ohne Vergangenheit und Zukunft. Während aber zugleich deutlich wird, dass es ohne eigene Sprache und Geschichte keine eigene Identität geben kann. Mova gibt sich als Zukunftsvision und verweist laufend auf Aspekte der Gegenwart, die man als flüchtige Modeerscheinung abtun würde. Dabei lehnen sich die Figuren gegen ein autoritäres Regime auf und gleichzeitig scheint der Roman anzudeuten, dass eine technisierte Spaß- und Konsumgesellschaft viel radikaler die Sprache und damit Identität bedroht als jede Diktatur. Das funktioniert zwar oft gut, manchmal aber eben auch nicht.

Und doch lohnt die Lektüre allemal. Der Text ist klug konstruiert, die beiden einander abwechselnden Erzählperspektiven ergänzen und kommentieren sich wechselseitig. Die Unzuverlässigkeit der Erzähler wird zum Ende hin sogar noch einmal gesteigert, der Roman ist bis in kleinste motivische Details dicht verwoben. Auch wenn nicht jeder Witz und jeder Ausdruck ins Schwarze treffen, strotzt Mova nur so vor skurrilen Einfällen und Pointen und legt unzählige intertextuelle Fährten. Die an Kriminal- und Genreliteratur angelehnt Handlung ist temporeich erzählt und fesselnd.

Mova legt die Machtstrukturen autoritärer Systeme und vermeintlich inhaltsleerer Konsumgesellschaften gleichermaßen bloß, und zwar mit den Mitteln der Popliteratur, wenn man unter dem Begriff die Einebnung der Unterschiede zwischen Hoch- und Massenkultur versteht. Das ist insofern paradox als sich der Roman des Zeicheninstrumentariums und Stils bedient, die er kritisiert. Von Shakespeare über den Philosophen Roland Barthes bis zur Band Daft Punk und dem Videospiel Soul Calibur V findet alles seine Verweise und Erwähnung. Das Spiel mit den Zeichen wird nicht zuletzt auch durch die im Buch eingestreuten, den Inhalt illustrierenden, comichaften Zeichnungen explizit veranschaulicht.

Der ganz große literarische Rausch stellt sich bei Mova nicht ein, dafür gibt es zu viele Irritationen, die die heraufbeschworene Zukunftsvision stören – und ob es sich dabei tatsächlich jedes Mal um Sollbruchstellen handelt, sei dahingestellt. Ein aberwitziges Trommelfeuer aus absurden Einfällen und unerwarteten Wendungen ist Viktor Martinowitschs Roman aber auf jeden Fall.

Titelbild

Viktor Martinowitsch: Mova.
Übersetzt aus dem Belarussischen von Thomas Weiler.
Verlag Voland & Quist, Dresden 2016.
394 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783863911430

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