Der dunkle Kuss

Volker Kutschers sechster Roman um den Berliner Kommissar Gereon Rath spielt 1934 vor dem Hintergrund des sogenannten „Röhm-Putsches“

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gereon Rath, seinen aus Köln stammenden Berliner Kommissar, der es wohl demnächst als Serienheld auch ins Fernsehen schaffen wird, hat Volker Kutscher (Jahrgang 1962) als einen zwiespältigen Charakter angelegt. Gelegentlich verschwimmt für ihn die Grenze zwischen Recht und Gesetz auf der einen Seite und der Welt des – organisierten – Verbrechens auf der anderen, er paktiert auf Zeit mit Kriminellen, um Kriminelles zu verhindern. Auch in seinem sechsten Fall, Lunapark, lässt er sich vor den Karren eines Gangsterbosses spannen, um einem brutalen Mörder das Handwerk zu legen.

Lunapark spielt im Frühjahr und Sommer 1934. Auf Berlins Straßen herrscht der Mob in Gestalt von hemmungslos ihre Macht auslebenden SA-Banden. Als nacheinander zwei SA-Männer, zu Tode geprügelt von Unbekannten, aufgefunden werden, gerät nicht nur die Mordkommission unter ihrem berühmten Chef Ernst Gennat unter Druck. Weil eine kommunistische Widerstandsgruppe, geleitet von in Moskau geschulten und anschließend nach Deutschland zurückgekehrten „Staatsfeinden“, hinter den Delikten vermutet wird, schaltet sich auch die politische Polizei unter dem nach Berlin beorderten Reinhard Heydrich in die Ermittlungen ein. Und schließlich hat die SA selbst natürlich ein Interesse daran, weitere Anschläge auf ihre Mitglieder zu verhindern.

Schwierig für Rath, zumal sein einstiger Untergebener bei der Mordkommission, Reinhold Gräf, inzwischen bei der Geheimen Staatspolizei Karriere zu machen im Begriff ist. Und dem würde die Aushebung einer kommunistischen Zelle, in der man vor Mord nicht zurückschreckt, nur helfen auf seinem Weg nach oben. Entsprechend motiviert geht er die Ermittlungen an. Rath freilich vermutet hinter den grausamen Tötungen von Anfang an andere Motive und Täter, weshalb er, obwohl zur engen Zusammenarbeit mit der Gestapo genötigt, wie immer seine eigenen Wege geht.

Schnell hat er dabei herausgefunden, dass alle Mitglieder des berüchtigten SA-Sturms 101, zu dem das erste Opfer, Rottenführer Horst Kaczmarek gehörte – dessen Spezialität ist der „dunkle Kuss“, die bestialische Angewohnheit, seinen Opfern mit der Kraft seiner Lungen die Augäpfel herauszusaugen –, früher einer kriminellen Vereinigung, einem sogenannten Ringverein angehörten. Nach dem Verbot dieser der organisierten Kriminalität zuzurechnenden Verbindungen ehemaliger Gefangener Anfang 1934 durch die Nationalsozialisten war es für einige Ringvereinler nicht schwer gewesen, ihre kriminellen Machenschaften fortan unter dem schützenden Dach der SA fortzusetzen. Auch als SA-Männer konnten sie weiterhin ungestört mit Rauschgift dealen, Schutzgelder erpressen und ihre sadistischen Triebe ausleben.

Lange dauert es nicht, bis Rath sicher ist, dass die beiden aufzuklärenden Morde Teile des Rachefeldzugs eines skrupellosen Kriminellen sind und keine Widerstandsaktionen in den Untergrund gedrängter Kommunisten. Letzte Gewissheit darüber erlangt er schließlich in einem Gespräch mit dem Großkriminellen Marlow. Dem schuldet der Kommissarer von einer früheren Begegnung her noch etwas. Und diese Schuld soll nun abgetragen werden. Denn der brutale Mörder ist auch Marlow im Wege, weil er nach dessen Position in der Berliner Unterwelt schielt. Den unliebsamen Konkurrenten zu beseitigen, scheint deshalb geboten. Und wer könnte das schneller und unauffälliger ins Werk setzen als ein Polizist wie Gereon Rath.

Genug Stoff für eine wendungsreiche Geschichte vor dem Hintergrund zunehmender Spannungen zwischen der SA und Teilen der nationalsozialistischen Partei, zu denen auch Hitler zählte. Sie kulminierten schließlich in der so genannten „Nacht der langen Messer“ vom 30. Juni zum 1. Juli 1934, in der SS-Kommandos zusammen mit Gestapo und Reichswehr unter dem Vorwand, die SA unter ihrem Stabschef Röhm plane einen Putsch, nahezu die gesamte Führungsebene der als paramilitärische Ordnungstruppe der NSDAP in den 1920er-Jahren entstandenen Organisation eliminierten.

Wie in den ersten fünf Bänden der Reihe erzählt Kutscher nicht nur einen spannenden Kriminalfall aus einer dunklen Zeit, sondern lässt seine Leser ohne alles Lehrerhafte auch deren Widersprüche spüren. Sie drohen nach und nach sogar die kleine Familie, in der sich Gereon Rath gerade wohlzufühlen beginnt, auseinanderzureißen. Während sich seine Frau Charlotte, Charly genannt, angewidert von den herrschenden Nationalsozialisten und deren vielen kleinen Sympathisanten auf den Straßen abwendet und sogar versucht, einem Kommunisten das Leben zu retten, gerät Ziehsohn Fritze nach und nach unter den Einfluss der faschistischen Ideologie und wird am Ende sogar noch zum Verräter.

Und auch die Freundschaft zwischen Rath und Reinhold Gräf hat keine Überlebenschance in einer Zeit, die jedem Einzelnen ein „Dafür“ oder ein „Dagegen“ abverlangt. Während sich Gräf dem späteren Kriegsverbrecher und Organisator des Holocaust Reinhard Heydrich andient und schließlich sogar zum Mörder wird, um seine Karriere im Dritten Reich – wir ahnen, wohin sein Weg ihn führen wird – nicht zu gefährden, versucht Rath, loyal gegenüber seinem Dienstherrn zu bleiben und sich zugleich den ihn verfolgenden eigenen Dämonen zu stellen. Wie lange er in diesem Zwiespalt wird aushalten können, werden sicher die nächsten Bände der Reihe zeigen. Lunapark jedenfalls lässt genug offene Enden, an denen in Zukunft angeknüpft werden kann.

Titelbild

Volker Kutscher: Lunapark. Gereon Raths sechster Fall.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016.
557 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783462049237

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