Produktive Disharmonien

Daniel Schubbe und Søren R. Fauth legen einen längst überfälligen Sammelband zu Schopenhauers und Goethes Wechselbeziehung vor

Von Dafni TokasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dafni Tokas

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ja, die Beziehung zwischen Arthur Schopenhauer und Johann Wolfgang von Goethe war ein Drama in Weiß und Violett. Doch Gegensätze gab es nicht nur in der Farbenlehre der beiden deutschen Denker. Die oft übergangene und auf die Farbenlehre reduzierte, aber eigentlich sehr wichtige und spannende Auseinandersetzung beider Geistesgrößen miteinander findet nun in einem neu erschienenen Sammelband ihre Würdigung. Schopenhauer und Goethe. Biographische und philosophische Perspektiven ist aus einer von den Herausgebern Daniel Schubbe und Søren R. Fauth initiierten Tagung hervorgegangen und arbeitet Lücken der Schopenhauer- und Goethe-Forschung aus den beiden bereits im Titel angedeuteten Richtungen auf.

Robert Zimmer steigt im ersten Beitrag direkt ein mit biografischen Erläuterungen – die unter einer hoch interessanten Fragestellung stehen: Wie kamen Philosoph und Dichter eigentlich zueinander und was hat das mit Schopenhauers Mutter oder gar mit Goethes Schwiegertochter zu tun? In einem fast romanhaften Duktus, der die wechselhaften Begegnungen der Koryphäen wiedergibt, schildern die Autorinnen und Autoren des Bandes eine Geschichte, die einer Verfilmung würdig wäre. Schopenhauers reicher Vater stürzt vom Dachspeicher seines Hauses, seine fast 20 Jahre jüngere, hochgebildete Frau Johanna, Mutter des kleinen Arthur und dessen Schwester Adele, baut sich in der Folge in Weimar ein gesellschaftliches Leben über einen literarischen Salon auf und lädt Goethe mitsamt dessen Frau Christiane Vulpius ein. Damit ist Goethes Gunst gewonnen. Dessen Schwiegertochter sowie Adele Schopenhauer sehen Goethe als eine Art Ersatzvater an; die Bindungen werden enger.

Der rebellische, blutjunge Arthur indes befindet sich noch gar nicht in Weimar, sondern schreibt in Hamburg Spottgedichte über Lehrer, fliegt von der Schule, holt dann doch in Windeseile sein Abitur nach und verweigert sich der für ihn durch den verstorbenen Vater vorgesehenen Kaufmannskarriere. Er will lieber studieren – zum Entsetzen der Mutter wird er die Medizin und die Naturwissenschaften später für die brotlose Philosophie hinwerfen. Zu diesem Zeitpunkt weiß sie noch nicht, wer dieser Sohn ist, mit dem sie sich noch jahrelang bis zum endgültigen Bruch streiten wird.

Der aufmüpfige blonde Lockenkopf, dem jegliches gesellschaftsfähiges Benehmen abgeht, stößt, als er in Weimar dazukommt, auf den Mann, der bereits einen großen Namen hat und von da an von ihm vergöttert wird: Goethe. Dessen Ölbildnis sollte noch bis zu Schopenhauers Tod über seinem Sofa hängen. Schopenhauer, trotz seines frechen Wesens durchaus menschenscheu und misstrauisch, aber bereits mit allen Sinnen auf den, wie er ihn bei jeder Gelegenheit nennt, „großen Goethe“ gerichtet, ist in der ersten Zeit noch eine Randgestalt für diesen. Der Dichter widmet sich lieber wichtigeren Dingen wie der bis heute verspotteten Farbenlehre. Als er nach einiger Zeit merkt, dass er den jungen Schopenhauer für seine Farbtheorien gewinnen könnte, beginnt ein spannungsgeladenes und glücklicherweise gut dokumentiertes Verhältnis. Schopenhauer, knapp 40 Jahre jünger als Goethe, sieht sich zwar offiziell als dessen Schüler an und tritt dem Meister mit der größten – fast schon absurden – Verehrung entgegen. Aber auf fachlicher Ebene sieht er sich mindestens auf Augenhöhe und steht dem Dichter in ebensolchen Höhenflügen und radikaler Selbstüberzeugung nicht nach. Der Streit ist bekannt: Der polare Gegensatz kann, findet Schopenhauer, nicht auf den physiologischen Bereich beschränkt werden, die Herstellung der weißen Farbe ist ein strittiger Punkt, von der Entstehung der violetten ganz zu schweigen. So stehen sich Idealist und Realist gegenüber und so soll es bis zum Tode Goethes auch bleiben. Bis dahin allerdings vergehen noch einige Jahre, in denen weit mehr geschieht als die gern zitierten Zankereien über Weiß und Violett. Die Gegensätzlichkeit beider Denker findet in dem Sammelband ihre wahre Tiefe.

In zahlreichen Briefwechseln, Dokumenten und Tagebucheinträgen, die Robert Zimmer, Thomas Regehly und Rolf Selbmann zitieren und elaboriert interpretieren, kristallisieren sich die Feinheiten und Empfindlichkeiten zweier Charaktere heraus, die es so in der deutschen Philosophie- und Literaturgeschichte kein zweites Mal gegeben hat. Die innere Beherrschung Goethes und die Zerrissenheit Schopenhauers zwischen Verehrung und Verärgerung finden sich zwischen den Zeilen und wirken sich auf ihre philosophischen Ideen, vor allem die Ideen Schopenhauers aus. Auch in ihren Gesprächen geht es nicht nur um Farbe: Der Sammelband bezwingt die sich aus den übriggebliebenen Dokumenten erschließende Masse an Gedanken erstens zu Erkenntnis, Wissenschaft und Sprache, zweitens zu Naturphilosophie und Evolutionstheorie, drittens zu Ästhetik, Literatur und Musik, selbstverständlich zur Farbenlehre, außerdem zu Ethik und Moral. Schopenhauer und Goethe werden einander nicht starr gegenübergestellt, sondern in ihrer gegenseitigen Bezüglichkeit detailliert und präzise analysiert. Brigitte Scheer, Sascha Dümig, Steffen W. Lange und Alexander Roth liefern dynamische Beiträge zum ersten Themenblock und sparen dabei nicht an essentiellen, hilfreichen Begriffsklärungen. Manja Kisner und Jens Lemanski widmen sich dem zweiten Themenblock zu Naturphilosophie und Evolutionstheorie. Mit dem weiten Feld der Ästhetik konfrontieren uns Barbara Neymeyr und Helmut Schanze. Niklas Sommer und Theda Rehbock liefern kritische Beiträge zum Thema der Farbenlehre und hinterfragen unter anderem, ob Schopenhauer seine Theorien überhaupt auf den richtigen Vorannahmen über Goethes Farbenlehre anstellte. Ethik und Moral bei Schopenhauer und Goethe sind im sechsten Kapitel durch Heinz Gerd Ingenkamp und Søren R. Fauth scharfsinnig beschrieben. Jede Einzelanalyse verdient ihren Platz in dem Band. Die Autorinnen und Autoren sind an unterschiedlichen deutschen Universitäten tätig, meist im Bereich Literatur und Philosophie, und glänzen mit eingängigen und klaren Analysen.

Der Sammelband war dringend nötig, um ein Defizit der Forschung aufzuarbeiten oder wenigstens damit zu beginnen. Die Publikation richtet sich nicht nur an das fachliche Publikum, sondern ebenso an jeden Interessierten, der die affektreiche und philosophisch produktive Beziehung zweier bekannter deutscher Denker verstehen lernen möchte, ohne fürchten zu müssen, zu wenig Vorwissen mitzubringen. Denn die Autorinnen und Autoren schreiben auf eine angenehme Weise verständlich und gewinnbringend, ohne in ihren Ausführungen trivial zu werden. Die differenzierte und interdisziplinäre Veröffentlichung ist gerade denen zu empfehlen, die meinen, zu Schopenhauer und Goethe sei bereits alles gesagt. Aber auch nach der erhellenden Lektüre des Bandes ist eines sicher: Die Forschung steht hier erst am Anfang.

Titelbild

Daniel Schubbe / Søren R. Fauth (Hg.): Schopenhauer und Goethe. Biographische und philosophische Perspektiven.
Felix Meiner Verlag, Hamburg 2016.
487 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783787330089

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