Zwei Familien – ein Jahrhundert

Kathrin Schmidt legt mit „Kapoks Schwestern“ erneut einen großen Zeitroman vor

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kapoks Schwestern ist der erste Roman der Lyrikerin und Erzählerin Kathrin Schmidt nach ihrem 2009 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten und die eigene Krankheitsgeschichte zum Thema machenden Bucherfolg Du stirbst nicht. Davor hatten drei Romane – Die Gunnar-Lennefsen-Expedition (1998), Koenigs Kinder (2002) und Seebachs schwarze Katzen (2005) – die heute in Berlin lebende Autorin bereits als Meisterin komplex verschachtelter, psychologisch stimmiger und erzählerisch raffinierter Familiengeschichten ausgewiesen. Dass sie mit ihnen auch tief in die deutsche Geschichte, insbesondere jene des geteilten Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg, in dessen östlichem Teil Schmidt geboren wurde und aufwuchs, eindrang und ihre Figuren sich immer wieder in die Widersprüche der Zeit verstricken ließ, lassen die Romane auch als literarische Zeitdokumente von Wert erscheinen.

„Eintracht“ nennt sich die kleine Siedlung in Berlins Stadtteil Treptow, in der Schmidts neues Buch beginnt. Hier wohnten sie lange Jahre in direkter Nachbarschaft, die beiden Schwestern Claudia und Barbara Schaechter und Werner Kapok. Man wuchs gemeinsam auf, teilte erste Liebeserfahrungen und damit im Zusammenhang stehendes Leid. Dann trennten sich die Wege. Gut zweieinhalb Jahrzehnte nach der deutschen Wiedervereinigung aber haben die beiden Endfünfzigerinnen – Claudia, zu DDR-Zeiten angesehene Kostümbildnerin, schneidert inzwischen für ein paar Berliner Mode-Boutiquen, Barbara arbeitet als Sachbearbeiterin für Kultur im Öffentlichen Dienst – das Haus ihrer verstorbenen Eltern übernommen. Und während sie dabei sind, es von Grund auf zu sanieren, taucht auch Werner Kapok wieder in der Nachbarschaft auf, als gelegentlicher Gast seiner Schwester, zu der er lange Zeit keinen Kontakt mehr hatte.

Von Wiedersehensfreude zwischen den jahrzehntelang Getrennten kann zunächst keine Rede sein. Man beobachtet sich misstrauisch gegenseitig, meidet fürs Erste den direkten Kontakt, kann aber nicht verhindern, dass sich der beziehungsweise die jeweils andere/n still und leise wieder in die Köpfe, das Denken einschleichen. Und mit ihnen all das, was man in der Zeit, die man gemeinsam verbrachte, und in jenen Jahren, in denen man sich aus den Augen verlor, erlebte.

Es ist eine raffinierte Art, wie Kathrin Schmidt deutsche Geschichte zum Sprechen bringt. Da die Erinnerungen der Schwestern und des als Hochschullehrer für Marxismus-Leninismus gescheiterten Werner Kapok, der sich nach der Trennung von Frau und Kind ins brandenburgische Trebesee „entrückt“ hat und seiner neuen Umgebung  eine Zeit lang den „Verrückten“ vorspielte, keiner Chronologie folgen, springt auch der Roman mit seinen zahlreichen Episoden immer wieder vor und zurück in der Historie des 20. Jahrhunderts. Allein auf der Gegenwartsebene darf der Leser verfolgen, wie die anfängliche Vorsicht, mit der sich die Akteure von Schmidts Geschichte zunächst belauern, erst in gegenseitiges Interesse und am Ende gar in eine Art spätes Happy End umschlägt. Zuletzt jedenfalls haben die Schwestern nicht nur die Sanierung ihres Hauses auf den Weg gebracht, sondern auch aufgerissene Gräben zwischen den Familien Kapok und Schaechter zugeschüttet, indem sie das Erinnern als eine Art Heilmethode benutzten, mit der Vergangenheit fertig zu werden und sich der Zukunft zu öffnen.

Bei aller Welthaltigkeit immer dicht am Leben zweier Familien zu bleiben, die zu jenen gehören, denen das Schicksal keinen leichten Weg durchs 20. Jahrhundert bescherte, macht Kapoks Schwestern so spannungsgeladen wie exemplarisch. Schmidts Helden gehen Umwege, nehmen Entbehrungen auf sich, folgen eine Zeitlang den Falschen, lassen sich verführen von Versprechungen, die nie eingelöst werden. Einzelne Erzählstränge blenden aus der Gegenwart zurück bis in jene Zeit, als die Schaechter-Vorfahren mütterlicherseits, osteuropäische Juden, aus Przemyśl nach Berlin kamen. Hier finden deren Kinder keine Ruhe, müssen vor der Nazidiktatur fliehen und landen in Stalins Reich, bald beargwöhnt und erneut vertrieben. Gefährlich und ruhelos verläuft die Odyssee der Schaechters durch die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts und als die Familie nach zwei verheerenden Kriegen endlich Fuß zu fassen scheint in jenem Teil Deutschlands, dessen Repräsentanten versprechen, die Irrwege der Vergangenheit zu beenden, aus der Geschichte zu lernen und ein neues, demokratisches Gesellschaftsmodell auf deutschem Boden Realität werden zu lassen, verwickelt man sich nur allzubald in neue Widersprüche.

Letztere haben natürlich auch mit den Kapoks zu tun. Man wohnt Tür an Tür, die Väter, Joachim Schächter und Kurt Kapok, arbeiten gemeinsam in der Redaktion einer ostdeutschen Gewerkschaftszeitung und ringen tagtäglich um neue positve Schlagzeilen, linientreu der eine, aufmüpfig und kritisch der andere. Und während sich Sohn Werner in Liebesdingen so lange nicht zwischen Claudia und Barbara zu entscheiden vermag, bis er beide verloren hat, hält er als IM der Staatssicherheit doch fleißig Augen und Ohren offen, wenn er bei den Nachbarn weilt.

Vielfältig sind die Mittel, deren sich Kathrin Schmidt bedient, wenn sie ihren beiden Familien durch mehr als 100 Jahre deutscher und europäischer Geschichte folgt. Da werden alte Fotografien und Filme ausgekramt und als Gedächtnisanker benutzt. Da werden bekennerhafte Briefe mit so genannten „Kopfgeburten“ – Fantasien über ein Leben, wie es hätte sein können jenseits der realen Gegebenheiten – in den Text verwoben. Und immer wieder verschieben sich die Perspektiven, wird mal aus der einen, mal aus der anderen Person heraus erzählt ohne Rücksicht auf eine Chronologie, wie sie Erinnerungsakten sowieso fremd ist.

Schmidts Figuren finden schließlich alle so etwas wie ihr spätes Glück. Claudia und Werner Kapok beschließen, es noch einmal miteinander zu versuchen. Barbara lässt sich auf eine Liebesgeschichte mit einem Arbeitskollegen ein. Werners gekappte Beziehungen zu seiner Schwester und seiner Exfrau samt dem gemeinsamen Sohn erfahren eine vorsichtige Neubelebung. Und das Kind, welches beiden Schaechter-Schwestern im Leben verwehrt blieb – Claudia hat ein Kind aus den Tagen ihrer ersten Verliebtheit in Werner Kapok kurzerhand abtreiben lassen, als sie durch Zufall erfuhr, dass der Nachbarssohn eine neue Bindung eingegangen war –, fällt ihnen als Patentochter bei einem Kalkutta-Besuch wie durch ein Wunder in den Schoß. Wem das ein bisschen zu viel des Guten ist, dem soll hier nicht ausdrücklich widersprochen werden. Dem großen Zeitroman, den Kathrin Schmidt mit Kapoks Schwestern geschrieben hat, tut eine Messerspitze Schmalz freilich weiter keinen Abbruch.

Titelbild

Kathrin Schmidt: Kapoks Schwestern. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016.
445 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783462049244

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