Der Glaube der Anderen

Zu Björn Bickers Recherchetext „Was glaubt ihr denn“

Von Britta CaspersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Britta Caspers

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit einigen Jahren beschäftigt sich Björn Bicker als Dramaturg und Autor mit der Frage, wie es sich in einer Gesellschaft leben lässt, die von Zuwanderung geprägt ist; wie es sich so leben lässt, dass jenen, die in dieses Land immigrieren, die Teilhabe an Arbeit, Sprache, Kultur und Bildung ermöglicht werden kann. „Wie kann“, so fragt Bicker in einer Rede anlässlich des Reformationstages 2015, „gleichberechtigtes, demokratisch gestaltetes Zusammenleben funktionieren, wenn es nicht mehr die eine Mehrheit, die eine Leitkultur, die eine Religion gibt?“ Die postmoderne Gesellschaft, so konstatiert er im Nachwort seines Bandes Was glaubt ihr denn, ist zunehmend von vielfältigen religiösen Deutungen und Praktiken geprägt. Auf der ganzen Welt breiten sich Religionen aus, neue religiöse Bewegungen in Südamerika, Afrika und Asien ziehen täglich mehr Menschen in ihren Bann. Nicht zufällig hat Bicker als den Ort seiner Erkundung kultureller und religiöser Vielfalt die bayerische Landeshauptstadt gewählt, denn ausgerechnet dort hat sich das quantitative Verhältnis von Christen und Nicht-Christen inzwischen zuungunsten der ersteren entwickelt. In seinen verschiedenen, doch allesamt irgendwo zwischen Theater, Kulturpolitik und Sozialarbeit angesiedelten und partizipativ organisierten Projekten geht Bicker der Frage nach, wie sich ein positives Verhältnis zur kulturellen und religiösen Vielfalt begründen lässt, das auf der wechselseitigen Anerkennung der Weltanschauung anderer religiöser, ethnischer, sozialer Gruppen basiert.

Mit dem vorliegenden Band Was glaubt ihr denn legt der Autor ein Werk vor, das sich an der Schnittstelle von Dokumentation und Kunst den gesellschaftlichen Verhältnissen zuwendet. Das ausführliche Nachwort ist den Erfahrungen gewidmet, die Bicker als Dramaturg der Münchner Kammerspiele im Rahmen seiner Recherche für das Theaterprojekt Urban Prayers „im Reich der Vielfalt“ gesammelt hat. Zwar finden sich aufgrund der Migrationsbewegungen der letzten Jahrzehnte in unseren Metropolen fast alle Religionen dieser Welt, doch bleiben sie meist im Verborgenen. Bicker sprach für sein Projekt mit Anhängern der verschiedensten Glaubensrichtungen, er besuchte hinduistische und buddhistische Tempel, Synagogen, diverse Freikirchen, Pfingstler aus Nigeria, Adventisten aus Kroatien, Sikhs aus Indien und Bahai aus China und Israel. In den Gesprächen, die er mit den Gläubigen führte, ging es allerdings weniger um konkrete Glaubensinhalte oder religiöse Streitfragen als um das Verhältnis der Gläubigen zu ihrem Land, der Stadt, in der sie leben, und zur Demokratie. Dabei sei ihm, wie er im Nachwort ausführt, klar geworden, dass die Grenzen vielmehr zwischen Gläubigen und (im religiösen Sinne) Nicht-Gläubigen verlaufen als zwischen den unterschiedlichen religiösen Gemeinschaften. Aus dieser Recherche entstand schließlich das Theaterprojekt Urban Prayers (2013), das zunächst an verschiedenen religiösen Orten in München und abschließend in den Münchner Kammerspielen aufgeführt wurde. Letztlich tragen die teils recht persönlichen Bemerkungen des Autors hinsichtlich seiner mit diesem Projekt verfolgten Absicht, verstärkt durch seine eigene christliche Sozialisation mitunter bekenntnishafte Züge, was die in diesem Band dokumentierte Recherche zu konterkarieren droht.

Bereits mit seiner Bühnencollage Illegal (2009) hatte Bicker die ‚Choreographie der Stimmen‘ zum formalen Prinzip erklärt. Auch in Was glaubt ihr denn erhebt immer wieder der „Chor der gläubigen Bürger“ seine Stimme. Die dramatische Form ist die beständige Wechselrede; in Fragen und Gegenfragen, in Selbst- und Fremdzuschreibungen offenbaren sich die Widersprüche zwischen Glaubenssätzen, Praktiken, Erfahrungen und Wertvorstellungen, die niemals auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind. Für den Autor wird die antike Theaterform des Chores zum Medium der plurikulturellen Gesellschaft und des hybriden Subjekts, die sich der Möglichkeiten und Grenzen gemeinsamer Weltanschauung zu vergewissern suchen. Der „Chor der gläubigen Bürger“ ist der dramenästhetische Ausdruck für den Versuch, ein Theater zu schaffen, das sich dem städtischen Raum und den darin herrschenden sozialen, religiösen und ökonomischen Bedingungen zuwendet, unter denen die Menschen leben. Bickers erklärtes Programm zielt darauf ab, das aus dem allgemeinen gesellschaftlichen Vermögen finanzierte Theater aus seinem Dasein als einer „Parallelgesellschaft mit Ausschlusscharakter“ herauszulösen, um auch jene gesellschaftlichen Gruppen anzusprechen und einzubeziehen, die bislang vom Theaterbetrieb ausgeschlossen waren. Mit seinen Projekten erschließt er Spiel- und Aufführungsorte, die zu ‚Räumen der Begegnung‘ werden, und dringt so in einen religiösen Arkanbereich vor, macht nicht nur weltanschauliche Besonderheiten, sondern auch soziale und ökonomische Bedingungen sichtbar, unter denen Menschen ihren Glauben praktizieren. Bereits in den späten 1960er und 70er Jahren gab es bekanntlich Versuche, Literatur und Kultur in Orte des ‚authentischen‘ Sprechens von sozial Benachteiligten zu verwandeln (Erika Runge, Martin Walser, Michael Scharang u.a.) und diese zur Eigeninitiative anzuregen. Meist aber blieb es beim erteilten, nicht selbst ergriffenen Wort; entstanden sind Werke (beispielsweise Runges 1968 veröffentlichte Bottroper Protokolle), die – so sie die gesellschaftlichen Machtstrukturen nicht schlicht und einfach reproduzieren – die ‚authentischen‘ Stimmen von Arbeitern, Lehrlingen, Strafgefangenen etc. der bürgerlichen Selbstbespiegelung überantworten. Fraglich ist, ob Bicker dieses Programm mit der in sich hybriden Figur des Chores wirklich einzulösen vermag, verschwinden doch konkrete Erfahrungen und ‚authentisches‘ Sprechen (was immer das sein mag) wie hinter Masken, hinter Abstraktionen, hinter den Stimmen von vielerlei ‚Wir‘, das schwer greifbar bleibt und das jede dieser unterschiedlichen religiösen Gruppen für sich in Anspruch nimmt.

Doch neben dem „Chor der gläubigen Bürger“ (der die Stimmen der Nicht-Gläubigen in gewisser Weise vereinnahmt, sie ihrerseits auf Stereotype reduziert, wie er sich von ihnen auf Stereotype reduziert sieht), mit dem jedes Kapitel seinen Anfang nimmt, finden sich in dem Band die knappen episodischen Darstellungen aus dem Leben einer Religionslehrerin, eines DHL-Boten, eines Sozialarbeiters, einer Journalistin und eines Architekten. Sie alle geben über ihre persönlichen Verhältnisse Auskunft, reflektieren ihre Stellung zum Glauben und den Glauben der anderen. Diese einzelnen Berichte tauchen wieder auf als Stimmen im Chor, mit der Zeit entfaltet sich aus ihnen ein Kaleidoskop verzweigter Beziehungen, so dass jede Selbstdarstellung an der Schilderung durch andere Figuren mehrfach perspektivisch gebrochen wird. Auf diese Weise wird den Stimmen immerhin partiell eine lebensgeschichtliche Tiefendimension verliehen; die Figuren scheinen aus dem Chor herauszutreten und ihre eigene Geschichte zu erzählen, die niemals nur ihre eigene ist, sondern immer auch die des Andersgläubigen; die Grenzen werden flüssig. Der Autor suggeriert nicht, es handle sich um die Wiedergabe von Gesprächen, die er während seiner Recherche mit Angehörigen der verschiedensten Religionen geführt hat. Vielmehr sind die einzelnen Berichtepisoden kleine, in sich geschlossene Erzählungen, die man mit Spannung liest, wodurch sie einen auffallenden Gegensatz zur chorischen Rede bilden.

Die Fotografien schließlich, die Andrea Huber dem Band beigesteuert hat, erkunden den städtischen Raum: Sie registrieren die Spuren religiösen Lebens in der Stadt, zeigen Kirchen, Moscheen, Synagogen und andere Gebetsräume. Einmal steht man vor verschlossener Tür, sieht auf Hinweis- und Gebotsschilder, es geht über Schwellen und Flure. Ein anderes Mal wird der Betrachter in Gebetsräume geführt. Meistens sind sie leer und scheinen nichts als ihre eigene Funktionalität auszustellen. Nur wenige Portraits sind unter den Bildern, gelegentlich ein religiöser Würdenträger, Prediger, Szenen religiöser Praktiken. Die Bilder wollen dokumentieren, nicht erläutern; sie zeigen auf etwas aus der Distanz, sind einem nüchternen Blick verpflichtet, der keine Intimität herzustellen sucht. Sie erlauben dem Leser kein Urteil über das, was sich in diesen Räumen zutragen mag, ja: sie zeigen und verbergen zugleich. Manchmal wiederum sind die Spuren religiösen Glaubens auf den Bildern nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Es können kleine Dinge sein, so unscheinbar wie ein Kreuz an einem Schlüsselanhänger oder so grotesk wie eine Madonnenstatue in einem noch nicht fertiggestellten Haus. Oder sie erscheinen als Kitsch. Feste Kategorien werden flüssig: Gibt es religiösen Kitsch?

Bickers Programmatik, was die Öffnung literarischer und dramatischer Verfahren zu einer Poetik aus Bild und Text und seinen Grenzgang zwischen Dokument und Ästhetisierung angeht, sowie seiner Forderung nach struktureller Öffnung des Theaters kann man durchaus zugetan sein, ohne das hyperreligiöse Konstrukt anzuerkennen, das der Autor als Basis einer wahrhaft demokratischen, ‚offenen‘ Gesellschaft der Zukunft zu begreifen scheint. Zwar sind religiöse, kulturelle und politische Differenzen in dieser ‚Hyperreligion‘ nicht nivelliert, aber offensichtlich im Rahmen von Bickers christlich motivierter Gesellschaftskritik nur vom Boden einer die Differenzen umfassenden religiösen Grundüberzeugung tolerierbar. Die Perspektive des religiösen Lebens in einer Metropole wie München, so zeigt Was glaubt ihr denn, kann soziale und ökonomische Lebensbedingungen von Menschen sichtbar machen – und Bickers Text ist am stärksten dort, wo er genau dies tut. Umgekehrt, so zeigt das Phänomen Pegida, können Religion bzw. religiöse Traditionen auch dort in einem rückwärtsgewandten Sinne ins Feld geführt werden, wo aus Stereotypen ‚fremder‘ Religionen Bedrohungs- und Untergangsszenarien heraufbeschworen werden. Demgegenüber versucht Bicker mit seinem Text aufzuklären, ohne seinerseits in Festschreibungen und Stereotype zu verfallen. Das Arrangement aus drei ganz unterschiedlichen Zugangsweisen zum Thema religiöses Leben zeigt vielmehr dessen Komplexität. Der Frage aber, welche Ursachen die zunehmende Verbreitung und Bedeutung (traditioneller) religiöser Vorstellungen hat, wird im vorliegenden Band nicht nachgegangen. So beklagt eine Stimme im „Chor der gläubigen Bürger“ das „Arbeiterwohnheim voll mit bulgarischen Männern“, das vom Gebetshaus aus zu sehen ist. Das Arbeiterwohnheim „voll mit bulgarischen Männern, die für fünf Euro die Stunde arbeiten. Sieben Tage die Woche, zwölf Stunden am Tag […] Die arbeiten in dieser Stadt. Für diese Stadt. Die bauen Häuser und Straßen und machen sauber. Woran glauben die Leute, die die Bulgaren bezahlen. Woran glauben die Bulgaren.“ In der fehlenden Frage nach den gesellschaftlichen Ursachen der Situation der Betroffenen aber zeigen sich die Grenzen einer kritischen Perspektive, die nicht bei der Kritik der eigenen religiös begründeten Ideologie ansetzt. Jedoch wäre die „Kritik der Religion“, wie Marx in Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie schreibt, „die Voraussetzung aller Kritik.“

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Björn Bicker: Was glaubt ihr denn. Urban Prayers.
Mit Bildern von Andrea Huber.
Verlag Antje Kunstmann, München 2016.
271 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783956140945

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