Wer hat Angst vor Tom Wolfe?

Über gelehrte Eitelkeiten und die Debatte um angeborene Universalität oder kulturelle Relativität der Sprache

Von Gerhard LauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gerhard Lauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Noam Chomsky, der Begründer der generativen Grammatik und damit der wohl einflussreichsten Schule der Linguistik, ist Gegenstand einer unerwarteten Kontroverse um Evolution und Sprache geworden. Eigentlich ist das ein Thema, das in seiner Grundsätzlichkeit sonst nur eine Handvoll Anthropologen und Sprachwissenschaftler interessiert. Dass sich diesmal Zeitungen von New York bis Frankfurt damit befassen, hat mit dem Autor zu tun, der diese Debatte losgetreten hat: Tom Wolfe. Ihn kennt man wegen des elegant-literarischen Stil seiner journalistischen Arbeiten seit den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts, auch seiner Essays wegen gegen den radikalen Chic der 68er und natürlich auch wegen seines Romans Fegefeuer der Eitelkeiten von 1987, oder vielleicht einfach nur wegen seiner hochgeschlossenen Hemdenkragen und weißen Anzüge. In diesem Sommer ist nun sein Buch The Kingdom of Speech erschienen, das nicht von den gesellschaftlichen Eitelkeiten handelt, sondern von den gelehrten. Glaubt man Wolfe, dann regiert Noam Chomsky das Königreich der Sprachwissenschaft. Und das gefällt Wolfe ganz und gar nicht.

So entschieden Wolfe Position gegen Chomsky bezieht, so wenig wird man die Schärfe seiner Kritik mit seinen Kenntnissen über Sprachwissenschaft gleichsetzen können, noch weniger mit denen über die Evolutionstheorie, denn die wird bei Wolfe gleich noch mit abgekanzelt. Dass etwa Darwin keine Evidenz für seine Theorie der Evolution gehabt habe, ist natürlich grober Unfug. Man muss nur einmal Darwins Aufzeichnungen während seiner Fahrt mit der Beagle 1831-36 lesen, die Fußnoten seiner Bücher zählen oder seinem tägliches Studium der Rankenfußkrebse folgen, um zu wissen, dass es Wolfe offensichtlich um Polemik geht, wenn er über Darwin urteilt. Das alles hat ihm einige Aufmerksamkeit eingebracht, wäre aber sonst keiner größeren Erwähnung wert, wenn da nicht sein Angriff auf Noam Chomsky wäre. Ihm gilt der Königsmord in Wolfes jüngstem Buch.

Wolfes Argumente sind hier nicht weniger vereinfachend als es seine Polemik gegen Darwin ist. Die Sache ist jedoch komplizierter und in der Sache schärfer, denn Wolfe nimmt mit seinen Angriffen eine schon sehr viel länger laufende Auseinandersetzung zwischen den Universalisten um Chomsky und den Relativisten um Stephen Levinson u.a. auf. Konkret wirft Wolfe Chomsky vor, die Befunde des Sprachanthropologen Daniel Everett ignoriert zu haben. Everett gehört zum Lager der Sprachrelativisten. Er hatte in einem Aufsatz aus dem Jahr 2005 in Current Anthropology Chomskys These von einer angeborenen Universalgrammatik herausgefordert, in dem er den Nachweis zu führen versucht hat, dass die kleine Gruppe der im Amazonasgebiet lebenden Pirahã (sprich: Pidahán) eine Menge von Besonderheiten aufweist: Sie verfügen in ihrer Sprache über kein Konzept von Zahlen, Farbausdrücke fehlen, Verwandtschaftsverhältnisse werden nur sehr rudimentär ausgedrückt, Mythen oder fiktionale Erzählungen scheinen ebenfalls zu fehlen wie überhaupt Erinnerungen an länger zurückliegende Ereignisse. Auch gibt es so gut wie keine Kunst. Selbst ihre materielle Kultur ist sehr einfach. Und sie bilden keine rekursiven Sätze der Art wie “Gib mir das Messer, das du mir vorhin gezeigt hast“. Everetts These scheint auf den ersten Blick kaum plausibel sein zu können, weil doch jeder Satz selbst wieder Teil eines anderen Satzes werden kann. Chomsky hatte Everett deshalb zunächst als Scharlatan abgetan. Das aber war angesichts der Befunde nicht lange durchzuhalten.

In der Ausgabe der führenden Zeitschrift der amerikanischen Linguistik Language wurden 2009 auf mehr als hundert Seiten die Argumente für und gegen Everetts Befunde ausführlich diskutiert. Everett, der selbst als Chomskyianer noch seine Dissertation 1983 abgeschlossen hatte, wurde Mittelpunkt einer grundlegenden Debatte der Sprachwissenschaft, ob denn alle menschlichen Sprachen gemeinsamen, angeborenen grammatischen Prinzipien folgen oder nicht. Die Rekursion ist ein solches universales Prinzip, sagt Chomsky und sagen die Universalgrammatiker. Everett dagegen versucht den Nachweis zu führen, dass dies nicht der Fall sei. Die Aufmerksamkeit für Daniel Everett hat sicherlich nicht nur mit dem Grundsatzstreit in der Sprachwissenschaft, sondern auch mit dessen Lebensgeschichte zu tun, denn Everett war vom christlichen Missionar beim Feldstudium unter den Pirahã-Indianern zum atheistischen Darwinisten konvertiert. Mehr aber noch war und ist die Frage für die Anthropologie von elementarem Interesse, ob ein angeborener Mechanismus unsere Sprache bestimmt oder ob Sprache wie ein Werkzeug das Ergebnis der jeweils umgebenden Kultur und Umwelt ist. Es geht um viel in diesem Streit, sicherlich um die menschliche Natur und wohl auch um die gelehrten Eitelkeiten. Letztere sind vor allem Wolfes Thema, denn er wirft Chomsky nicht nur vor, eine falsche Theorie zu predigen, sondern Kritiker wie Everett mundtot zu machen.

Auf seinem Blog hat Everett in den letzten Monaten noch einmal Stellung in der Debatte um Universalität und Relativität der Sprache bezogen. Natürlich sei Wolfes Buch nicht sein Buch und nicht sein Kampf, den Wolfe da führt. Wolfe habe ihm vor längerem eine Reihe von Fragen gestellt, die er dann beantwortet habe, nicht mehr und nicht weniger. Die Fragen Wolfes zielten nicht so sehr auf die sprachwissenschaftliche Diskussion als vielmehr auf die gelehrten Herrschaftsmechanismen, die dann wirksam werden, wenn nicht passende Ergebnisse gezielt ignoriert, als Hochstapelei abgetan oder Andersdenkende mit Beschimpfungen aus dem Königreich der Sprachwissenschaft vertrieben werden. Everett hat Wolfe die Geschichte dieser Eitelkeiten erzählt und trägt sie auf seinem Blog noch einmal ohne jede Polemik zusammen, auch den Punkt, dass Pirahã sehr wohl rekursive Formulierungen lernen können, wie man eben auch andere Dinge lernen kann. Nur sie gehören nicht in ihr sonst übliches System der Sprache, aber sehr wohl zu ihrem Denken. Sprache ist für Everett keine Universalie, sondern ein Werkzeug. Wie das Werkzeug aussieht, das hat mit seinem Zweck und der umgebenden Kultur und Umwelt zu tun. Nicht in allen Kulturen gibt es dieselben Werkzeuge, so ähnlich viele einander sind. Universell aber sind sie nicht. Everetts jüngstes Buch Dark Matter of the Mind trägt die Argumente gegen universalistische Annahmen über Sprache und Kultur noch einmal zusammen, um zu zeigen, wie anpassungsfähig die menschliche Natur in ihrem Verhalten, ihren Kunstwerken und Werkzeugen und eben in ihrer Sprache ist.

Everett ist längst nicht der einzige Anthropologe, der die Annahme einer Universalgrammatik in Zweifel zieht. In eine ähnliche Richtung argumentiert auch die Leipziger Schule um Michael Tomasello oder die Nijmegener Ethnolinguisten um Stephen Levinson. In anderen Forschungsbereichen wie etwa den Untersuchungen des menschlichen Gesichtsausdrucks hat erst jüngst ein Artikel in der Zeitschrift PNAS auch über die wissenschaftlichen Community hinaus Aufsehen erregt, denn die dort benannten Beobachtungen widersprechen der These von der Universalität des mimischen Ausdrucks von Emotion, den sogenannten Basis-Emotionen, wie sie besonders prominent der Psychologe Paul Ekmann behauptet und damit sogar Hollywood-Filme wie Alles steht Kopf (Pixar, 2015) anleitet. Die Trobiand-Insulaner von Papua-Neuguinea, so die Autoren des PNAS-Artikels, erkennen eine ganze Reihe solcher Basis-Emotionen nicht und zeigen auch andere Formen des Gesichtsausdrucks, um ihre Emotionen auszudrücken, als die, welche uns vertraut sind und universal zu sein scheinen. Die Autoren des Artikels vermuten, dass es eine kulturspezifische Kontrolle des Gesichts als Kommunikationsmedium geben dürfte, die der postulierten Universalität des Ausdrucks der menschlichen Emotionen widerspricht. Vielleicht hat Everett also recht, sagt man nicht nur im Gegenlager zu den Universalgrammatikern um Chomsky.

Falsifikationen von Hypothesen gehören eigentlich zu den spannendsten Dingen in den Wissenschaften, zumal wenn es um solche grundlegende Dinge wie die menschliche Natur geht. Wolfe zeigt, dass es auch in den Wissenschaften nicht nur um Erkenntnisse, sondern auch erheblich um Eitelkeiten geht. Im satirischen Zerrspiegel seiner Polemik führt er die Wissenschaften in ihrer Erbärmlichkeit vor wie einst in seinem Roman die Broker und Politiker New Yorks. Natürlich kann Schriftstellern wie Wolfe die Sprache nicht gleichgültig sein. Der Umgang der Wissenschaften mit ihr ist dem provokativen Konservativismus Wolfes so sehr Symptom für die Dummheit der gegenwärtigen Welt, dass ihm fast die ganze moderne Wissenschaft suspekt ist und sogar die Urknall-Theorie nur „die verrückteste Theorie ist, von der ich je gehört habe“. Die Wissenschaften werden Wolfes Buch wahrscheinlich nur selten lesen. Vor Wolfe hat in den Wissenschaften niemand Angst. Und so werden Erkenntnis und Eitelkeiten weiter fortschreiten. Nur Wolfe wird den Kragen noch höher schließen als die Chomskyianer ihre Reihen.

Titelbild

Tom Wolfe: The Kingdom of Speech.
Little, Brown and Company, New York, Boston, London 2016.
192 Seiten, 15,95 EUR.
ISBN-13: 9780316404624

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