Hybrid aus Fiktion und Fakten

Eine Romanbiographie über Irmgard Keun

Von Liane SchüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liane Schüller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die 1905 in Berlin geborene und in Köln aufgewachsene Autorin Irmgard Keun publizierte im Jahr 1931 ihren ersten, von Kritik und Leserschaft vielfach besprochenen Roman Gilgi, eine von uns. Ihr bereits ein Jahr später erschienener Text Das kunstseidene Mädchen, der durch seinen ungewöhnlichen neuen Ton überraschte, katapultierte sie in die vorderste Riege populärer AutorInnen der ausgehenden Weimarer Republik. Nachdem Keun einige Jahre die Schauspielschule besucht hatte, war sie zeitweise als Stenotypistin tätig und erhielt Einblick in den monotonen Büroalltag der Angestellten, was sie in ihren beiden frühen Romanen virtuos mit satirisch-kritischem Blick zu verarbeiten wusste. Neben der (weiblichen) Angestelltenkultur griff sie das allerorts medial vermittelte moderne Lebensgefühl der Zeit auf, reflektierte das Bild der sogenannten „Neuen Frau“, damit einhergehend sich wandelnde Geschlechterkonstellationen und Rollenmuster und spürte Massenkulturphänomenen sowie kollektiven Sehnsüchten nach. Durch die Thematisierung aktueller, gesellschaftspolitischer Zeitgeschehnisse realisierte sie eine wesentliche Forderung neusachlicher Programmatik. Aber auch auf formaler Ebene wies sie sich als neusachliche Autorin aus, indem sie durch den Gebrauch populärer Typisierungen sowie der Vernetzung von Alltagssprache mit Zitaten aus Musik und Film interessante intermediale Bezüge schuf. Bis heute gelten ihre beiden ersten Veröffentlichungen, die verschiedene Lebensentwürfe junger Frauen durchspielen, die auf dem Grat zwischen Selbstverantwortung und Abhängigkeit balancieren, als bedeutende Zeitromane der ausgehenden Weimarer Republik.

Nachdem Keun schließlich auf den „Schwarzen Listen“ der Reichsschrifttumskammer verzeichnet war, wo sie unter der Kategorie „unzüchtige Schriften“ rangierte, war ihr kurzer Erfolg vorbei. Im Jahr 1936 entschloss sich die Autorin Deutschland zu verlassen und folgte zahlreichen SchriftstellerkollegInnen ins Exil, wo sie fieberhaft an verschiedenen Romanen arbeitete, die sie in unterschiedlichen Exil-Verlagen veröffentlichen konnte. Ihr Roman Nach Mitternacht, der im Jahr 1937 publiziert wurde, gilt bis heute als ein Schlüsselroman über die sich dramatisch wandelnde Situation im nationalsozialistischen Deutschland und seine totalitäre Propagandamaschinerie. Aus der Perspektive der jungen Frau Sanna, die das Ungeheuerliche und die Absurdität der (alltäglichen) Ereignisse durch ihren naiven Blick einfängt, wird satirisch entlarvt, wie die Diktatur bis in die Privatsphäre hinein agiert und subversiv Macht ausübt. Die unheimliche Atmosphäre von Angst und Denunziantentum wird in der Erzählung Sannas gespiegelt, die zwar die politischen Zusammenhänge nicht versteht, in der Beobachtung ihrer Umwelt, die sich anpasst und in der Diktatur einzurichten beginnt, aber fast beiläufig diagnostiziert. Von der zeitgenössischen Kritik hochgelobt, schrieb Irmgard Keun mit Nach Mitternacht einen sezierenden Zeitroman, der unter der Regie von Wolf Gremm in den 1980er Jahren filmisch adaptiert wurde.

Den Titel Nach Mitternacht greift nun die Autorin Katja Kulin für ihre Romanbiographie auf und rückt damit Irmgard Keun erneut in den Fokus. 2015 erschien Volker Weidemanns Roman Ostende, der u. a. die Geschichte einiger deutscher Exilanten – unter ihnen Irmgard Keun und Joseph Roth – thematisiert und im Frühjahr 2016 wurde Irmgard Keuns Exilroman Kind aller Länder bei Kiepenheuer & Witsch neu aufgelegt. Katja Kulin, die bislang einige Sachbücher und Prosatexte veröffentlicht hat, nutzt bewusst ein nicht ganz eindeutig zu fassendes Genre. Denn was ist eigentlich eine Romanbiographie? Und welche Möglichkeiten bietet dieses Format? Kulin erläutert in der Vorbemerkung zu ihrem Text, dass sie vorliegende Fakten nutze und Leerstellen mit Möglichem fülle, „um den Szenen eines Lebens den Atem einzuhauchen, der Leserinnen und Lesern ein Nachempfinden ermöglicht“. Das kommt freilich recht episch daher. Kulin bedient sich für ihr Projekt aus verschiedenen Quellen, etwa Briefen, Interviews und autobiographischen Skizzen bis hin zu (teilweise wissenschaftlichen) Arbeiten über Keun. Nicht ganz unproblematisch ist dabei, dass sich in dieser Auswahl Texte finden, die schon versuch(t)en, Fakten und Fiktion zu Leben und Schreiben der Autorin miteinander zu vernetzen. Hiltrud Häntzschel hat in ihrer Keun-Biographie auf die vielen Leerstellen im biographischen Material bei Keun hingewiesen. Und Gabriele Kreis, die in den 1980er Jahren gemeinsam mit Marjory Strauss eine Auswahl der Briefe herausgegeben hat, die Irmgard Keun an ihren Freund und zeitweiligen Geliebten Arnold Strauss geschrieben hatte, formuliert: „Selten sind Leben und Schreiben eines Schriftstellers so zwingend (und zwanghaft) miteinander verwoben wie im Falle von Irmgard Keun. Ihre Romane sind Reflex auf ihre Biographie, ihre Biographie fortgeschriebene Romane“. Die literaturwissenschaftliche Forschung hat sich mit dieser potentiellen Verflechtung und biographischen Lesart vielfach auseinandergesetzt und sich von dieser Perspektive überwiegend distanziert. Kulins Entscheidung für die hybride und offene Form der Romanbiographie ist vor diesem Hintergrund durchaus verständlich, weil sie ihr als Zwischenraum der Gattungen den größtmöglichen Freiraum lässt. Zwar besteht die Gefahr, dass die Fülle der mittlerweile zusammengetragenen, teilweise noch immer hartnäckig kolportierten Informationen über Keun sich zu überlagern beginnen, es bietet sich aber auch die Chance, in einer produktiven Reibung neue Facetten eines Schriftstellerlebens zu erschließen. Stellt der literarische Text im Sinne Wellershoffs einen Simulationsraum vor, eine imaginäre Probebühne des wirklichen Lebens, ist die freie Montage von biographischen Fakten und fiktiven Möglichkeiten eine durchaus legitime und potentiell unterhaltsame Möglichkeit, sich dem Leben und Schaffen von Autoren anzunähern.

Katja Kulin beleuchtet in fünf Kapiteln markante Lebensstationen und Umbrüche im Leben Irmgard Keuns und erhellt so schlaglichtartig beinahe ein Jahrhundert Zeitgeschichte: von der Weimarer Republik über den deutschen Nationalsozialismus und die mit ihm verbundene Exilkultur bis hin zur Nachkriegszeit. Sie bündelt und konturiert die von ihr zusammengetragenen Informationen zu einer lebendigen, teilweise spannend erzählten Geschichte. Im Gegensatz zu der Romanbiographie von Gabriele Kreis aus den 1990er Jahren (‚Was man glaubt, gibt es‘. Das Leben der Irmgard Keun), in der diese ebenfalls Imaginäres mit Zitaten aus den Werken der Autorin verwoben und dafür eine Fülle von Quellen gesichtet und verarbeitet hatte, nutzt Kulin leider viele aktuellere Arbeiten zu Irmgard Keun nicht und bezieht sich im Wesentlichen auf älteres Material. Hier hätte sie auf der Basis neuer Untersuchungen vielleicht alternative Perspektiven entwickeln können. So rekapituliert sie doch vielfach Bekanntes, dies allerdings in einem ganz eigenen, zum Teil eigentümlichen Ton und einem bildhaften, etwas anachronistisch anmutenden Sprachgebrauch.

Insgesamt legt Kulin einen populärwissenschaftlichen pageturner vor, einen kurzweiligen Schmöker über eine ungewöhnliche Schriftstellerin, der Leerstellen und somit Raum für Spekulationen lässt, wie es gewesen sein könnte. Für eine breite Leserschaft, die nicht (gut) mit dem Leben und Werk Irmgard Keuns vertraut ist, bietet die Romanbiographie interessante Impulse und macht Lust auf eine Neu- oder Relektüre des nach wie vor lesenswerten Keun’schen Œuvres.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Katja Kulin: Irmgard Keun. Nach Mitternacht ein Leben.
Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2015.
242 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783451067563

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch