Asymmetrische Informationen und Rattenrennen

Michael Horvath spürt ökonomische Theorien in der Literatur auf

Von Nicole MatternRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nicole Mattern

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit seiner bei Mohr Siebeck 2016 publizierten Dissertationsschrift unternimmt Michael Horvath den Versuch, „der poetischen Reflexion der Ökonomie und Ökonomik in literarischen Texten erstmals auf breiter interdisziplinärer Grundlage nachzugehen“ und einen „originär ökonomischen Interpretationsansatz“ zu etablieren. Dabei möchte er einerseits der Literaturwissenschaft durch einen ökonomischen Zugang neue Lesarten aufzeigen und andererseits das „Wissen der Literatur“ auch der Ökonomik zugänglich machen.

Zunächst diskutiert Horvath im ersten Kapitel die „Möglichkeiten und Grenzen des interdisziplinären Dialogs“ und dessen „idealtypische Richtungen“ (vgl. dazu auch Horvaths Ausführungen auf literaturkritik.de 12-2014), die sich – in einer „ökonomisch reflektierten Lektüre“ – vor allem in einer kritischen Auseinandersetzung mit „Sozialkritik“ und in einer „produktive[n] Aneignung der  Wirtschaftswissenschaft durch die Literatur“ zeigen sollen. Horvath weist dabei zwar auf die Schwierigkeiten interdisziplinären Arbeitens hin, die seiner Ansicht nach mithilfe einer „Handreichung durch Ökonomen“ angegangen werden könnten, er verzichtet aber auf eine Reflexion der Begriffe Inter- und Transdisziplinarität und auf eine nachvollziehbare Auseinandersetzung mit Anschluss- oder Abgrenzungsmöglichkeiten zu bereits bestehenden Konzepten, wie etwa zu dem Ansatz von Iuditha Balint, den sie in ihrer Einführung zu dem mit Sebastian Zilles 2014 herausgegebenen Sammelband Literarische Ökonomik formuliert.

In den folgenden drei Kapiteln versucht Horvath, die Ansätze der (Neuen) Institutionenökonomik für die Analyse von William Shakespeares Der Kaufmann von Venedig, Heinrich von Kleists Das Erdbeben in Chili und Georg Kaisers Von morgens bis mitternachts fruchtbar zu machen. Die der Volkswirtschaftslehre entstammenden Theorien haben bisher in der Literaturwissenschaft eine untergeordnete Rolle gespielt, und so markiert Horvath eine Leerstelle literaturwissenschaftlicher Interpretationen, in denen ökonomische Theorien meist weniger berücksichtigt werden. Genau darin liegen nun die Stärken und das Potential der Arbeit: in der Kenntnis genuin wirtschaftswissenschaftlicher Ansätze und Zusammenhänge und in dem Anliegen, diese für eine interdisziplinäre Analyse fruchtbar zu machen.

Mit dem Rückgriff auf ökonomische Theoriebildung gelingt es ihm, einen neuen Zugang zu Shakespeares Der Kaufmann von Venedig aufzuzeigen, indem er das von Shylock geforderte Fleischpfand, die Kästchenwahl und die Herausgabe von Portias Ring auf asymmetrische Informationen und institutionelle Rahmenbedingungen hin analysiert und zu dem Schluss kommt, dass die Kraft von Versprechen unter den Bedingungen fehlender (Rechts-) Sicherheit und unglaubwürdiger Selbstbindung zur Disposition steht.

Während eine solche Analyse von Shakespeares Der Kaufmann von Venedig aufgrund der ökonomischen Inhalte des Stücks naheliegend ist und die Interpretation auch deshalb weitestgehend überzeugen kann, steht die institutionenökonomische Untersuchung von Kleists Das Erdbeben in Chili, also einer Erzählung, die explizit keine ökonomische Thematik aufweist, vielleicht naturgemäß auf eher unsicherem Boden. Horvath geht in der Tradition der Forschung von dem Begriff „Ordnung“ als zentrale kleistsche Kategorie aus und konstatiert, dass „Ordnung“ ebenfalls spätestens ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem zentralen Begriff der Ökonomik wird. Die Sichtweise auf den Text als einer „narrativen Versuchsanordnung“ drängt diesem nun eine ökonomische Analyse auf, deren Abwesenheit im literaturwissenschaftlichen Fachdiskurs Horvath zugleich als Desiderat ausweist. An dieser Stelle bleibt aber zu fragen: Sind nicht alle literarischen Texte, da sie zwangsläufig immer Modellcharakter haben und Ausschnitte darstellen, narrative Versuchsanordnungen? Ist es ratsam, literarische Texte, auch ohne expliziten Bezug zu ökonomischen Themen, mithilfe ökonomischer Theorien (im Sinne einer ‚Supertheorie’) zu interpretieren?

Mit Hilfe der Institutionenökonomik versucht Horvath zu verdeutlichen, dass die „Restauration der alten Mächte“ zwangsläufig erfolgen muss und die im Tal „kurzfristig veränderte[n] Ordnungsverhältnisse“ nicht von Dauer sein können. Statt das Erdbeben als Chance für eine neue Ordnung zu begreifen, wird nach Horvath die alte Ordnung aufrechterhalten bzw. reaktiviert, die Möglichkeit einer neuen Gesellschaftsordnung wird als Utopie entlarvt. Die außerhalb der Stadt kurzzeitig verwirklichte Utopie, die Hoffnung auf eine neue Ordnung evoziert, verursacht – in der komparativ-statischen Analyse Horvaths – hohe Kosten: Ohne das Erdbeben hätten die Figuren nicht die Möglichkeit erhalten, eine neue Gesellschaftsordnung zu etablieren. Eben diese, jedoch ungenutzte Chance kostet nun insgesamt elf Figuren und unzähligen, unbenannten Erdbebenopfern das Leben. Damit werden nach Horvath für den Versuch, eine neue Ordnung zu konstituieren, mehr Menschenleben in Rechnung gestellt, als wenn Josephe und Jeronimo ‚einfach‘ hingerichtet worden wären und die alte Ordnung ohne Chance auf Änderung (die sich durch das Erdbeben ergibt) weiterhin bestanden hätte.

Problematisch ist, dass die horvathsche ‚Kostenrechnung‘ dabei die Ebene des discours mit der der histoire vermischt, wodurch sich am Ende der Interpretation die Frage stellt, ob Kleists Text diese Sichtweise gänzlich trägt. Zumindest sind an solchen Stellen Zweifel angebracht, ob Horvaths Zugriff die spezifischen Eigengesetzlichkeiten des literarischen Diskurses berücksichtigt oder Fakten mit Fiktion vermischt. Seine Ausführungen zu Kleist ermöglichen Horvath die Schlussfolgerung, dass Kleist der Neuen Institutionenökonomik um 150 Jahre „vorgreift“, womit er die Modernität Kleists unterstreichen möchte.

Im nächsten Analyseteil widmet sich Horvath Kaisers Drama Von morgens bis mitternachts. Nach Ausführungen zu Berlin, dem Sechstagerennen, Max Weber, Georg Simmel, Markt und Wettbewerb, durch die der dritte Teil quantitativ doppelt so viele Seiten fasst wie die beiden vorangegangen Interpretationen, bedient sich Horvath der Turniertheorie und des Konzepts des ökonomischen Rattenrennens.

Als Schlüsselszene nennt er das Sechstagerennen. Die durch den Kassierer ausgegebenen Gewinnprämien befeuern das Rennen sowohl auf der Rennbahn als auch im Zuschauerraum. Die starke Anreizsetzung bzw. Überinvestition von Seiten des Kassierers sorgt in der Lesart Horvaths dafür, dass die Rennfahrer verhältnismäßig stärker „verheizt werden“, als der vermeintliche Gewinn ihre Anstrengungen zu entschädigen vermag, wodurch das Rennen im Sinne der Turniertheorie auch als Rattenrennen bezeichnet werden kann. Nach Horvath erfüllt das Rennen, das er als Allegorie auf die Wettbewerbsgesellschaft begreift, für den Kassierer die Funktion, die Massen in „kollektive Ekstase“ zu versetzen und sie über die Grenzen ihre Stände hinweg „verschmelzen“ zu lassen. Die durch das Rennen –  nebenbei angemerkt ist es auch als Allegorie auf den Arbeitsalltag des Kassierers bzw. der Arbeiter und Angestellten im Allgemeinen lesbar – symbolisierte neue Ordnung beinhalte, im Kontrast zur alten Ordnung des Kaiserreichs, „Aufstiegschancen“. Somit seien die Rennfahrer einerseits als „Opfer“ des „Turbokapitalismus“ und somit „sozialkritisch“ und andererseits als Gewinner (von Aufstiegschancen) gezeichnet. „Das Dilemma des einzelnen [sic!] in der Wettbewerbsordnung“, die dem alten, monarchischen System diametral entgegensteht, wird nach Horvath „eindrücklich vor Augen vorgeführt [sic!]“ und Polanyis Great Transformation wird ca. 30 Jahre vorgegriffen.

Auch wenn Horvath möglichen Einwänden gegenüber der Auswahl der Werke und der einseitigen theoretischen Ausrichtung auf ökonomische Theorien erklärend zuvorkommt, finden sich hier zwei grundlegende Schwächen der Arbeit: Erstens ist die Auswahl der Texte, die mit Epochenschwellen und Modernitätsschüben begründet wird, inkonsistent, da die Epochenschwellen und Modernitätsschübe um 1700 und 2000 nicht berücksichtigt werden. Zweitens kann die Aussage, dass „nicht selten […] modernistische Lektüren – seien sie nun postkolonial, dekonstruktivistisch oder neomarxistisch, seien sie aus Sicht der Gender Studies, des New Historicism oder des Cultural Materialism – den Zugang zum Text erschweren“ oder „diesen gar für politische oder ideologische Zwecke [instrumentalisieren]“, weswegen ihnen von Horvath eine genuin ökonomische Lesart zur Seite gestellt wird, auch nicht verschleiern, dass bei allem Nutzen, den die Kenntnis ökonomischer Theorien für die Interpretation eines Textes stiften kann, sich hier ein methodischer Fehlschluss zeigt: Faktuales ökonomisches Wissen wird in fiktionalen Texten aufgespürt – dies bedarf zumindest eines gemeinsamen theoretischen Nenners, der ökonomisches Wissen und Fiktionalität zu verbinden vermag, wie ihn z.B. die Diskursanalyse oder ein ausgearbeiteter wissenspoetologischer oder systemtheoretischer Ansatz bereitstellen könnten.

Zwar wird im Text in Kapitel 2B die Existenz eines „wissenspoetische[n] Zugang[s]“ angesprochen und in Kapitel 1BI1, über die „Historizität des Wissens“, in der Fußnote 37 erwähnt, dass die „Foucaultsche Spielart der Wissensgeschichtsschreibung“ im Vordergrund stehen soll. Doch fehlt einerseits eine Differenzierung der Begriffe ‚Poetik‘ und ‚Poetologie‘ und andererseits eine tiefergehende Nutzbarmachung der Methoden, wodurch es versäumt wird, den „rein ökonomischen Ansatz“ auf ein solides, inter- und transdisziplinäres Fundament zu stellen, das die versprochenen „kombinatorischen Perspektiven“ ermöglicht. Das Nennen und Kennen wissenspoetologischer oder diskursanalytischer Ansätze allein reicht für eine theoretisch angelegte Arbeit, die einen neuen methodischen Ansatz etablieren möchte, nicht aus.

Dass das Ergebnis der letzten beiden Interpretationen in den Aussagen mündet, dass Kleist die Neue Institutionenökonomik um 150 Jahre und Kaiser Polanyis Ausführungen um ca. 30 Jahre vorweggenommen hat, erweist sich als problematisch und kann aufgrund der fehlenden Auseinandersetzung mit der Frage, ob und wie faktuales Wissen in fiktionaler Literatur vermittelt werden kann, durch die Lektüre der Arbeit leider ebenso wenig nachvollzogen werden, wie der Aussage zugestimmt werden kann, dass ein bewusst eindimensionaler, ökonomischer Ansatz einen erheblichen Mehrwert stiftet.

Der Mehrwert von Horvaths Nutzbarmachung einzelner ökonomischer Konzepte wäre durch eine Verbindung zu literatur- oder kulturwissenschaftlichen Methoden deutlicher, für zukünftige Interpretationen greifbarer und möglicherweise verallgemeinerbar geworden. Es stellt sich zudem die Frage, welchen Mehrwert die Ökonomik durch die Lektüre der Arbeit erhält, neben dem, mit eigenen Ansätzen fiktionale Texte interpretieren zu können und festzustellen, dass ihre Konzepte durch Literatur bereits vorweggenommen wurden?

Auch die eingangs kritisierte „Sozialkritik“, die nach Horvaths Ausführungen zur Interdisziplinarität fundierter betrachtet werden sollte, wird in der Analyse von Von morgens bis mitternachts nicht in der von Horvath selbst geforderten Genese entwickelt. Die Begriffe „Kapitalismus“ und „Sozialkritik“ werden z.B. vielfach verwendet, jedoch nicht hinreichend beleuchtet, was u.a. durch die archäologische Aufdeckung von Diskursen möglich wäre. Horvaths Hauptthese, „dass Literatur den Fachdiskursen nicht selten in der Entdeckung und Beschreibung wissenschaftlicher Phänomene vorausgreift“, könnte ebenfalls mithilfe weiterer theoretischer Zugänge präzisiert werden: Literatur kann zwar Diskurse aufgreifen, die in einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt virulent sind, zum Teil vor den einzelnen Fachdiskursen. Literatur kann aber „wissenschaftliche Phänomene“ nicht ‚entdecken‘. Sie ist Teil eines Diskurses und bildet damit einerseits Diskurse ab und andererseits aus. Entdecken können mögliche Leser dann Wissensbestände in der Literatur, wenn sie, wie Horvath selbst, mit einem spezifischen Wissensstand an die Texte herangehen.

Die Gliederung der Arbeit leidet letztendlich auch unter dem Fehlen eines, den Interpretationen vorangestellten, Theorieteils, wodurch sich indirekte und direkte Wiederholungen bei den Ausführungen zur Institutionenökonomik ergeben. So doppeln sich die Ausführungen hierzu in den Kapiteln 2BII und 3B, was wörtliche Wiederholungen von Fußnoten bedingt (die Fußnoten 28 und 30 des Kapitels 2 sind z.B. identisch mit den Fußnoten 13 und 14 des Kapitels 3).

Trotz der genannten Schwächen bleibt insgesamt festzuhalten, dass es Horvath gelingt, bisher in der Literaturwissenschaft weitestgehend unbekannte ökonomische Theorien und Konzepte neueren Datums diskursiv bekannt zu machen und damit neue Untersuchungsperspektiven zu eröffnen. Der Mehrwert der Neuen Institutionenökonomik für einen ökonomisch orientierten Textzugang „auf der Höhe der Wirtschaftswissenschaft“ wird durch Horvaths Arbeit herausgestellt. Zu wünschen wäre, dass die Studie innerhalb beider Disziplinen gelesen wird und darauf weitere inter- und transdisziplinäre Arbeiten aufbauen können, die über einen „eindimensionalen“ Übertrag ökonomischer Theorien auf fiktionale Texte hinausgehen. Dass zwischen beiden Disziplinen noch immer unerforschtes, fruchtbares Terrain liegt, zeigt Horvaths Arbeit.

Titelbild

Michael Horvath: Das ökonomische Wissen der Literatur. Studien zu Shakespeare, Kleist und Kaiser.
Ökonomische Studien 2.
Mohr Siebeck, Tübingen 2016.
159 Seiten, 59,00 EUR.
ISBN-13: 9783161545610

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