Hoffnung in der Hölle

Garth Risk Hallbergs fulminanter New-York-Roman „City on Fire“ wagt viel und gewinnt meist

Von Gunnar KaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gunnar Kaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kann ein Roman das Leben abbilden? Wenigstens das Leben zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort? Vielleicht das im New York City der Siebziger? Aber was, wenn es schon ein unmögliches Unterfangen ist, das Leben eines einzelnen Menschen in einem Roman wiederzugeben? Was, wenn man nicht mal eine Stunde seiner Existenz einfangen könnte? Müsste ein solches Buch nicht gewaltig groß sein, wenn es einigermaßen darstellungsgetreu schildern wollte? Müsste es nicht den Maßstab 1:1 haben?

In Garth Risk Hallbergs Roman City on Fire stellt sich eine Figur, der Schriftsteller Mercer, genau diese Frage: Wie groß muss ein Buch sein, um das echte Leben abzubilden? Mercer rechnet vor: dreißig Seiten pro gelebter Stunde macht achthundert am Tag, multipliziert mit 365 ergeben sich 280.000 pro Jahr, also 24 Millionen Seiten für ein durchschnittliches Menschenleben! Und dann kommt er zu dem Ergebnis: Es bräuchte wiederum 250.000 allein mit Schreiben verbrachte Menschenleben, um nur dieses eine Leben aufzuschreiben! Folglich genügen erst recht diese tausend Seiten von City on Fire nicht, um ein Leben auch nur halbwegs mimetisch abzubilden. Literatur ist unmöglich – und trotzdem versucht sie es immer wieder!

Auch Garth Risk Hallberg, der junge US-amerikanische Schriftsteller, kann es nicht lassen. Jedoch nimmt er sich in seinem Versuch direkt ein dutzend Leben vor. Diese werden in Episoden erzählt, die einander abwechseln, oft unzusammenhängend sind, aber doch im furiosen Finale alle verknüpft werden. Es sind nicht so viele, dass man die Übersicht verlieren würde, aber doch genug, dass man von einem Panorama sprechen könnte.

Es geht um Menschen, die versuchen, wie Amerikaner zu leben, und natürlich recht unterhaltsam scheitern, dann wieder aufstehen und weitermachen. Wie in allen guten Großstadtromanen ist in City on Fire aber eher die Stadt der eigentliche Protagonist: „Diese Stadt, die nicht anzusehen wie der Tod wäre“, wie einer der Protagonisten sagt. Sie steht kurz vor ihrem Kollaps, wir befinden uns in der Mitte der 1970er-Jahre. Patti Smith, The Ramones, in der Bronx rauchen die Ruinen, ganze Viertel verslummen, die Mittelschicht ist weggezogen, nur die Unterschicht ist geblieben. Es geht um die Auswirkungen irgendeiner Finanzkrise, um Arbeitslosigkeit, um Drogen und Punk.

New York wird dabei durch die Augen der Figuren, die dort leben dürfen oder müssen, als verfallende Stadt geschildert, als ein Babylon der Dekadenz; ein Ort, der seine Schönheit im Dreck und in der Zerstörung offenbart. Hallberg schildert Häuserleerstand, wachsende Kriminalität, das Hausbesetzermilieu, die alternative Kunst- und Musikszene. Zugleich geht es um die Sorgen der Reichen und Schönen, um ein Familienimperium, um Immobilienspekulation, Wirtschaftskriminalität und -betrug.

Es scheint wirklich eine heftige Zeit gewesen zu sein damals, glaubt man den Augenzeugen – und diesem Roman. Die Polizei verteilte Broschüren an Touristen, in denen diese davor gewarnt wurden, ihr Hotelzimmer zu verlassen. Das ist natürlich das perfekte Setting, zwischen Idealismus und Nihilismus, für den ambitionierten Erstling eines ambitionierten Jungautors.Hallberg zeigt das New York dieser Zeit als moderne, selbstgemachte Hölle – aber eine, in der, charakteristisch für die besten Höllen, auch noch die Hoffnung lebendig ist.

Als da wären: ein Sohn reicher Eltern, der sich von ihnen abgewandt hat, seine Schwester, ein schwuler schwarzer Lehrer, ein Journalist, seine angeknackste Nachbarin, ein depressiver Cop und die beiden Teenager Charlie und Samantha, die in der Lower East Side in die Punkszene hineinrutschen. All diese Figuren verbindet nicht nur, dass sie zur gleichen Zeit in derselben Stadt leben, sondern sie alle haben auf die eine oder andere Weise etwas mit dem Fall eines im Central Park angeschossenen Mädchens zu tun, das seitdem im Koma liegt. Neben der Atmosphäre der Stadt und der detailreichen Darstellung des Lebens einzelner Bewohner gibt es also noch eine Art Kriminalstory, die sogar am Schluss recht rasant aufgelöst wird.

„City on Fire“ ist also ein klassisch-moderner Großstadtroman, zudem ein Kriminalroman, aber im Kern dann doch eher einen Familienroman. Denn es geht in den einzelnen Episoden immer wieder um die Konflikte, mit denen Familienmitglieder sich rumschlagen müssen, weil sie für sich selbst ein anderes Leben gewählt haben als das ihrer Angehörigen. Der Leser geht dann deren Weg eine Zeitlang mit, bis sich am Ende alle Wege einmal gekreuzt haben. Das ist schon alles sehr außergewöhnlich – es gibt in diesem Roman keine langweiligen Charaktere mit Nullachtfünfzehn-Jobs und nichtssagendem Alltag. Und trotz allem, wider Erwarten, ist das alles eher traditionell erzählt. Es ist eher Leo Tolstoi und Charles Dickens als Thomas Pynchon und John Dos Passos. Zwar wechseln die Perspektiven von Kapitel zu Kapitel, was auch kunstvoll gelingt. Hallbergs stilistische Bemühungen erschöpfen sich aber im Grunde in zwei bis drei handwerklichen Kniffen.

Zum einen ist da der sehr augenfällige Kniff des Layouts. Der Roman hat hier und da Bilder abgedruckt, einige hineingestreute und in ihrer Gestaltung abgesetzte Textsorten, handgeschriebene Briefe auf liniertem Papier, ein zusammenfotokopiertes Punkmagazin, das Manuskript einer Zeitschriftenreportage, E-Mails. Das könnte eine Art Verbeugung vor den Forderungen der Postmoderne sein, der sich Hallberg hier nicht entziehen wollte.

Ansonsten würde der Roman auch sehr gut ohne diese Gimmicks funktionieren, und das ist noch das Netteste, was man darüber sagen kann. Das ist schon ein Eyecatcher, wenn man im Buchladen darin herumblättert. Aber die Geschichte selbst braucht es eigentlich nicht, sie ist stark genug, und die metafiktionalen Besonderheiten und Verspieltheiten sind längst nicht so innovativ und spielerisch wie zum Beispiel in J. J. Abrams’ und Doug Dorsts zauberhaft-verspieltem Roman S..

Dann gibt es noch die Technik des Cliffhangers, der man überdrüssig werden kann – vor allem, weil man nach zwanzig Seiten eingeschobener Episode nicht mehr genau in Erinnerung hat, worum es den Protagonisten auf der anderen Seite der Stadt noch mal ging. Aber das soll eben Atmosphäre und Erleben der modernen Stadt mit den Mitteln der Kunst zumindest in Ansätzen nachvollziehbar machen: die Verwirrung, das Verlieren, das Wiederkennen, das Vergessen.

City on Fire kann daher tatsächlich als nicht mehr als eine mehr oder weniger kurzatmige Sammlung von Kurzgeschichten und impressionistischen Prosaskizzen betrachtet werden. Bisweilen gibt es recht unverständliche Introspektionen, dann wieder eine Vielzahl an Dialogen – diese sind wirklich Hallbergs Stärke, weil jeder Figur oder zumindest jeder Schicht eine eigene Sprechweise zugeordnet ist. Das ergibt eine Vielstimmigkeit, über die man doch den Plot nicht aus den Augen verliert.

Und schließlich ist da die ausgeprägte Sucht nach dem allzu genauen Detail. Dies wäre dann der dritte Kniff des Romans: die Atmosphäre, die Straße, die Architektur, die Menschen, die Räume so wahnhaft genau zu beschreiben, wie es nur geht. Bei einem Autor, der ein Jahr nach dem Zeitpunkt geboren wurde, zu dem der Roman größtenteils spielt, wirkt das allerdings ein wenig manieriert. Da ist ein Wille zum Überstilisierten, zum Außergewöhnlichen, zum Verbrämten, zum Unklaren, zum Exquisiten, der dem Ganzen eine gewisse Kälte verleiht. Es ist ambitioniert, es wagt viel, und es gewinnt auch viel – es will überwältigen, aber überwältigend ist es daher noch lange nicht.

Das Finale passiert in der Nacht des Stromausfalls, auf die alle Episoden zulaufen. Nun werden die einzelnen Erzählstränge miteinander verknüpft, und diese Auflösung ist – nach recht vielen Stunden der Lektüre – dann doch eine Art Erlösung. Es handelt sich um den berühmten Blackout vom 13. auf den 14. Juli 1977. Dieser Stromausfall, der die Stadt, die niemals schläft, stundenlang zur Dunkelheit verdammte, wurde zum Symbol des anhaltenden Ausnahmezustands der Siebziger Jahre. Tatsächlich wurde New York von Plünderungen und Brandschatzungen heimgesucht, der Bürgermeister sprach von einer „Nacht des Terrors“. Für einen derart aufgekratzten Roman ist ein solcher Moment freilich das ideale Setting.

City on Fire ist schon ein Monster, von seiner Größe, seiner Überlebensgröße, und eben seinem selbst angemaßten Überwältigungscharakter her. Insofern passt er sowohl zu New York als auch zu den Siebzigern. Andererseits wird man bei der Lektüre den Verdacht nicht los, dass hier jemand eine Checkliste durchgegangen ist: was muss ich für einen derzeit erfolgreichen Roman drin haben? New York City? Siebziger Jahre? Boheme und Kunstszene? Ältere Männer, die Affären mit Teenagern haben? Drogen? Krasse Musikbands und Underground? Desillusionierte Reiche und aufbegehrende Arme? Schwule Schwarze? Einen Kriminalfall? Wir nehmen direkt alles auf einmal, Sie müssen es nicht einpacken.

Das Gefühl beschleicht den Leser hin und wieder, dass sich hier eben ein junger Autor als erstes Gedanken darübergemacht hat, mit welchem Sujet, welchem Setting und welcher Epoche er den größten Eindruck auf den Buchmarkt machen würde – oder zumindest auf die Feuilletonseiten, denn für die Kritiker ist das Buch eher geschrieben als für den lustvollen Leser, der eine authentische Geschichte erzählt bekommen will. Trotzdem: Grandios und meisterhaft geschrieben ist City on Fire allemal.

Titelbild

Garth Risk Hallberg: City on Fire. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Tobias Schnettler.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
1080 Seiten, 26,99 EUR.
ISBN-13: 9783100022431

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