Vom Nutzen der Irritation

Teresa Kovacs entwickelt anhand der Theatertexte Elfriede Jelineks eine Ästhetik der Störung

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Elfriede Jelinek zählt seit Jahrzehnten zur Avantgarde der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Ihre Theatertexte, die selbst mit den Beschreibungsmustern des postdramatischen Theaters nur annähernd zu charakterisieren sind, gehören zu den herausforderndsten dramatischen Produktionen der Gegenwartsliteratur. Dass die Texte ein erhebliches Verstörungspotential aufweisen, muss nicht eigens betont werden. Was es allerdings mit der damit verbundenen „Störung“ auf sich hat, animiert zu weiterführenden literaturwissenschaftlichen, poetologischen und medientheoretischen Überlegungen. Genau dies unternimmt Teresa Kovacs in ihrer Studie Drama als Störung, die sich Jelineks Konzept des „Sekundärdramas“ widmet.

Mit den beiden Sekundärdramen Abraumhalde und FaustIn and out schreibt Jelinek dem eigenen Anspruch nach klassische Dramen wie Nathan der Weise von Gotthold Ephraim Lessing, Antigone von Sophokles oder Johann Wolfgang Goethes sogenannten Urfaust fort und bürstet sie gleichsam gegen den Strich, indem sie die problematischen Implikationen der klassischen Vorlagen hervorhebt. So gelangt sie zu Kommentaren über ihre eigene Zeit sowie über die Klassiker, eine auf Erbaulichkeit ausgerichtete Rezeption wird empfindlich gestört.

Die Sekundärdramen dürfen, einer Anweisung der Autorin zufolge, immer nur als Begleitung der „Primärdramen“ gespielt werden, wodurch Denkmuster der Originalität infrage gestellt und zudem Grenzen von Kritik und produktiver Fortschreibung verflüssigt werden. Inhaltlich umkreisen die Sekundärdramen in zeit-, gesellschafts- und kapitalismuskritischer Absicht Geschehnisse der jüngeren Vergangenheit, wobei als besonders markantes Thema, das wiederholt aufgegriffen wird, der „Fall Fritzl“ zu nennen ist, also die Taten des Josef Fritzl, der seine Tochter 24 Jahre lang im Keller seines Hauses im österreichischen Amstetten versteckt und gefangen hielt, sie ungezählte Male vergewaltigte und sieben Kinder mit ihr zeugte.

Neben den Theatertexten selbst, die sich von der Machart traditioneller Dramen grundlegend unterscheiden, bezieht Kovacs bei der Vorstellung des „Sekundär-“ und „Parasitärdramas“ auch theoretisch-essayistische Darlegungen Jelineks ein. Mit einer bloßen Rekonstruktion dieser – von der Autorin schon wieder verabschiedeten – Spielart der Jelinek`schen Poetik gibt sich die Verfasserin aber nicht zufrieden. Nach einem einleitenden Teil, in dem unter anderem der Untersuchungsgegenstand präludiert und Jelineks Verhältnis zur Theater- und Dramentradition skizziert werden, unternimmt Kovacs den Versuch, eine über Jelinek hinausreichende „Ästhetik der Störung“ zu entwickeln. Dabei wird zunächst der Begriff der Störung informations- und kommunikationswissenschaftlich grundiert. Mit Störungen ist die Verkehrung von Sinnstiftung und Bedeutung ebenso verbunden wie die Absage an Originalität, was wiederum Auswirkungen auf Autorschaftskonzepte hat. Die Ästhetik der Störung wird verbunden mit „sekundären Textformen und sekundären Formen der Textproduktionen“, was die Nähe zu Jelineks Sekundärdamen besonders augenfällig erscheinen lässt (was freilich auch ein heuristischer Effekt der Studie ist).

Darüber hinaus allerdings wird nachdrücklich herausgearbeitet, dass Störungen keineswegs ausschließlich als negative oder gar destruktive Einflüsse zu begreifen seien. Vielmehr trügen sie zu Erkenntnisgewinnen bei, die Irritation werde zur Information, die allerdings nicht mit einer Eindeutigkeit zu verwechseln sei, da es bei künstlerischen Störungen stets um die Erzeugung von Unsicherheiten und unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten gehe.

Das Anregungspotential der Störung zeigt sich, so eine zentrale These der Untersuchung, etwa darin, dass „die Sekundärdramen auf eine Reflexion und Infragestellung der historischen Kategorie Drama und sowie des gegenwärtigen Literatur- und Theaterbetriebs abzielen“. Störung wird nicht als bloß akzidentieller Defekt bestimmt, sondern als „intentionales ästhetisches Verfahren zur Sichtbarmachung bzw. Problematisierung scheinbar evidenter Wirklichkeitsmodelle sowie zur Verhandlung von Opazität und Transparenz künstlerischer Werke“. Auf dieser Grundlage werden verschiedene Perspektiven der Sekundärdramen vorgestellt und diskutiert. Sie werden als produktive Störungen gedeutet, die imstande sind, Wahrnehmungsgewohnheiten nachhaltig zu verändern. In diesem Umstand realisiere sich auch „das Politische des Konzepts“.

Kovacs argumentiert im beständigen Dialog mit Klassikern der (post-)modernen Literaturtheorie und zahlreichen anderen Philosophen und Theoretikern. Das zeigt eine beeindruckende Belesenheit, die in fruchtbare Anstöße gemünzt wird, birgt aber in Verbindung mit der ebenfalls mit großem Fleiß aufgearbeiteten und referierten Forschungsliteratur die nicht immer eingedämmte Gefahr von Redundanz und Weitschweifigkeit. Dass es anderer Positionen bedarf, um eine eigene zu entwickeln, ist selbstverständlich; bisweilen aber verschwindet die eigene Position hinter den rekonstruierten Stimmen. Die gelegentlich assoziative Anknüpfung an große Vordenker ist zwar durchaus anregend, dem Lesefluss und der konzis-stringenten Textanalyse aber nicht immer förderlich. Bedenkend, dass derlei Effekte aber auch der Jelinek`schen Poetik eignen, kann der Arbeit eine gelungene Mimesis attestiert werden. Ob das analytisch immer weiterhilft, ist eine Frage, die an große Teile der Jelinek-Forschung zu richten wäre, der gelegentlich die kritische Distanz zum Gegenstand aus dem Blick gerät.

Der unbestrittenen Kennerschaft der Theorielandschaft und von Jelineks Werk stehen manche unglückliche Aussagen über die „Primärdramen“ gegenüber. Dass Goethes frühe, unvollendete Faust-Fassung aus den 1770er-Jahren als „geschlossenes Kunstwerk“ charakteririsiert wird (um die „offenen Kunstwerke“ Jelineks davon umso trefflicher abheben zu können), ist wenig überzeugend – der Urfaust ist nicht nur Inbegriff des Fragmentarischen, er war auch schon lange vor dem ihm zugeordneten „Sekundärdrama“ fortschreibbar, was etwa Friedrich Dürrenmatt und nicht zuletzt Goethe selbst unter Beweis gestellt haben. Einige andere philologische Basisinformationen sind schlichtweg falsch: Faust I ist keineswegs, wie Kovacs behauptet, in Blankversen geschrieben, außerdem bleiben die Bemerkungen zum Verhältnis von Urfaust zu Faust I in altbekannten Forschungsklischees verhaftet. Und selbst der fertige „Faust“ ist, wie eine theoretisch derart reflektierte Arbeit hätte feststellen können, ja keineswegs ein Drama, das klassischen Regeln Genüge tut. Kurz: Es ist bedauerlich, dass die Ausführungen zu den Primärdramen unterkomplex bis verzerrend ausfallen.

Jenseits solcher Einwände im Detail dürfte sich das Buch in der sehr regen Jelinek-Forschung rasch etablieren und zu einem Standardwerk für die Auseinandersetzung mit der noch jungen (und doch bereits historischen) Form des Sekundärdramas werden. Auch für eine literatur- und theaterwissenschaftlichen Beschäftigung mit Ansätzen einer „Ästhetik der Störung“ dürfte die Studie einige Beachtung finden. Inwiefern die „Störung“ ihr aufstörendes Potential gegen die Gefahr ihrer akademischen Musealisierung und Harmonisierung behaupten können wird, ist eine ebenso offene wie spannende Frage.

Titelbild

Teresa Kovacs: Drama als Störung. Elfriede Jelineks Konzept des Sekundärdramas.
Transcript Verlag, Bielefeld 2016.
314 Seiten, 39,99 EUR.
ISBN-13: 9783837635621

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