Ohne Ego

Die willenlosen Helden im Werk von Anthony Burgess (1917–1993)

Von Marcus JensenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcus Jensen

1. Ludovicos Kammerspiel

„Was soll’s denn nun sein, hm?“ Das fragt Teenager Alex seine Gangmitglieder in der Drogenmilch-Bar, und dieser jeweils erste Satz aller drei Teile von A Clockwork Orange ist durchaus ein Motto für die Sicht auf Burgess’ Helden.

Sein mit Abstand berühmtestes Buch von 1962 war für ihn zunächst keine große Sache, es ging fast unter in seiner unglaublichen Produktion seit dem Jahr 1959, der Rückkehr aus Malaysia nach England sowie der Fehlinformation seiner ersten Ehefrau, er habe einen Hirntumor und nur mehr kurze Zeit zu leben. Er schrieb Ende der 1970er-Jahre über diesen dichten und schnellen Reißer: „Es ist meiner Ansicht nach kein sehr guter Roman“; später formuliert er es noch schärfer: Er sprach von einem „Roman, den ich gerne zurücknehmen würde: vor einem Vierteljahrhundert geschrieben, eine Gedankenspielerei, innerhalb von drei Wochen nur des Geldes wegen hingeworfen“.

Das ist formell nicht mal falsch, aber inhaltlich Unsinn. Der kleine Roman gehört zu seinen wichtigsten Büchern, mag er auch schnell entstanden sein – schnell arbeitete Burgess ohnehin immer. Alex mit seiner Teeniegang und die gewaltlustbrechende ‚Ludovico‘-Therapie wurden durch Stanley Kubricks Verfilmung berühmt, und man begann den Autor zehn Jahre nach Erscheinen des Buches darauf zu reduzieren, bis heute.

Sein Verhältnis zu diesem Werk war ein taktisches, kein strategisches. Burgess nutzte den Erfolg des Buches und brachte das Oberthema des persönlichen, freien Willens zum Bösen überhaupt erst in Schwung, obwohl fast nichts in seinem gewaltigen Gesamtwerk abseits dieses Romans die Dominanz des Motivs rechtfertigt. Burgess hat es durch Interviews und Artikel fertiggebracht, die literaturwissenschaftliche Sicht auf sein Werk zu steuern – nicht unbedingt zu seinem Vorteil. Die freie Entscheidung zum Guten oder Bösen: Müsste eine solche durchgängige dualistische Problemstellung nicht starke Charaktere hervorbringen? Kämpfende Egos? Im inneren Glaubenskrieg Zerrissene? Manische? Weltveränderer? Eher das Gegenteil ist bei Burgess der Fall.

Die ethische Polarität zwischen „pelagianisch“ und „augustinisch“ – grob gesagt zwischen ‚der gute Mensch wird verführt‘ und ‚das Böse steckt im Menschen‘ – betrifft letztlich nur dieses eine Buch. Ab der Kubrick-Verfilmung von 1971 aber, die Burgess zu einem berühmten und reichen Autor machte, fügte er manichäistische Motive gerne in seine Bücher ein, wie um zu sagen: Leute, da ist sie wieder, eure Lieblingszutat. Ein dankbares, journalistisch leicht aufzuarbeitendes Thema. Sein Grund für diese Marketingstrategie, die sein Werk eher verengt, war nicht nur materiell begründet, sondern bildete auch eine Verteidigungslinie vor sich selbst. Denn die katholische Moral hat den katholisch Erzogenen höchstens in einem Punkt beeinflusst, und das war nicht die Frage nach dem Bösen. Doch dazu später mehr.

Burgess selbst erschien sein bekanntestes Buch als zu kommerziell entworfen, mit allerdings einem innovativen Aspekt, auf den er größten Wert legte: die Erfindung des künstlichen Jugendslangs „Nadsat“, der Cockney mit russischen Versatzstücken mixte und bei seinem Verlag Heinemann die Befürchtung auslöste, Alex’ Sprech werde als schwer lesbar durchfallen. Das Buch, das auch vom Einfluss einer Droge (Milch mit Amphetamin) handelt, ist dennoch nie als Drogenroman zu lesen, denn der junge Alex übt mit seiner Gang Willkürherrschaft aus, weil es ihm „Spaß macht.“ Die innere Diskussion des Buches offenbart den konservativen Anarchisten Burgess, der 1978 schrieb: „Es ist besser, mörderische junge Strolche machen unsere Straßen unsicher, als die individuelle Entscheidungsfreiheit zu leugnen.“

Doch sein als fundamentaler Beitrag zur modernen Literatur gewerteter Roman ist kein eigentlich ethisches Buch und malt weder Schwarz noch Weiß. Jede handlungsbasierte Erzählweise nimmt es automatisch lieber hin, dass die Welt böser ist, als dass sie seelenloser wird. Dem bösen Alex soll zwar idealerweise seine Fähigkeit zum freien Willen erhalten bleiben, aber Burgess hat eine gute Distanz dazu. Es ist kein Ideen-Roman, sondern hier wird klassisch fiktiv durchgespielt, und der Autor stellt das Unternehmen des englischen Establishments, am eingefangenen Versuchstier Alex die willenbrechende Macht zu beweisen, als legitim dar, er hält die antikatholische ‚Ludovico‘-Therapie innerhalb des Romans für ein adäquates, typisches Mittel. Der Ego-Raub ist kein Tabu. Ich-Erzähler Alex, der Mensch, den es zu prüfen gilt, hat nichts Besonderes an sich außer seiner Liebe zu Ludwig van Beethoven. Nicht mal die Sprachmixtur hat er erfunden, er ist tatsächlich wie im Sinne seiner Altvorderen, die das Folter-Experiment durchziehen, austauschbar, und das sieht auch Burgess so. Das Böse macht ihm lediglich Spaß, was der Autor Burgess einsieht, da er nichts anderes darstellt als das – Alex will nicht explizit böse sein, sondern lässt sein Leben von der Lust bestimmen. Schlimmer noch: Bei der Entwicklung im Roman handelt es sich um biologistische Effekte, denn Alex’ Suizidversuch, sein Sturz aus dem Fenster, verwandelt ihn wieder. Der Schlag auf den Kopf macht ihn erneut gewaltfähig und löscht die gesamte mühsame ‚Ludovico‘-Überschreibung quasi per Tastendruck. Diesen Hirnkick-Akkord betrachtet Burgess als gleichwertig zur Gewaltsättigungs-Symphonie. Alex ist ein minderwertiger Böser. Seine spätere Unlust mit seinen neuen Kumpanen bezeichnet eine Alterserscheinung, ein körperliches Erschlaffen. Für die Illustration eines freien Willens war er für Burgess nicht interessant genug. Dieses von allen Seiten bestoßene Uhrwerk in der Orange taugte nicht zum Gegenstand eines katholischen Entwicklungsromans.

Aber selbst Burgess’ Betonung der höchst individuellen Entscheidungsfreiheit, ein Motiv auch in 1985 aus dem Jahr 1978 und im wenig überzeugenden Diskurs darin zwischen dem Helden Bev und den beiden hoch gebildeten Schlägertypen, ist nie der Antrieb auch nur eines seiner Bücher. Alle seine Helden gleiten durch Szenerien und werden durch äußere Umstände hindurchgejagt wie auf dem Karren einer Geisterbahn, und das am liebsten auf sprachlichem Schmiermittel, Burgess bietet seiner Leserschaft fast immer ein Sightseeing mit Soziolekten. Keiner seiner Helden initiiert beziehungsweise generiert Handlung – außer Alex. Genau deshalb wird keiner von ihnen härter bestraft. Gerade an Alex wird das Thema Ego und Wille durchexerziert und löst sich auf: kein Satan, kein Läuterungsprozess, sondern profane Hirneinwirkung. Er steht am Ende da als ersetzbarer Ich-Popanz. Burgess ist in seinem Buch besser als in seinen Äußerungen darüber.

2. Hülle der Fülle

Und zum Glück gilt das für das Gesamtwerk. Burgess hält sich kaum an sich selbst. Er kokettiert in seiner dicken, zweibändigen Autobiografie damit, er müsse über seine Vorgeschichte viel erfinden und sie frisch ausstaffieren, weil alle möglichen Dokumente während seiner Jahre in Malaysia vom tropischen Klima und Termiten zersetzt wurden, außerdem hätten seine Vorfahren so gut wie nichts aufheben mögen: „the family had always to rely on myths.“ Tatsächlich führt jeder Versuch eines biografischen Zugangs zu seinem Werk zu nichts außer Momenten der Materialsammlung, der Anreicherung und Ausmalung, nicht der Tiefe. Burgess präsentiert auch sich selbst gewohnt opulent als hochgradig frühreif auf sämtlichen geistigen und künstlerischen Gebieten: Literatur, Film, Komposition. Sein Biograf Andrew Biswell glaubt dem berserkerhaften Autor nicht viel (übrigens schätzt er dessen umfangreiches musikalisches Werk als „amateurhaft“ ein) und weist immer wieder nach, dass Burgess lieber den autobiografisch klingenden Stellen in seinen Romanen glaubte, als Fakten zu wertschätzen – infiziert von sich selbst. Es gibt nicht das große Leitmotiv, es gibt eine Wolke, und das gilt ebenso für seine Helden.

Das einzige Sündenthema, das Burgess wirklich interessierte, war das Sakrament der Ehe, nicht mal deren Bruch. Dieser im Katholischen aufgewachsene Autor hat sein Werk nie vom Thema Manichäismus beherrschen lassen. Er lässt in seinen gut tausendseitigen Memoiren kaum ein Mal durchscheinen, dass ihn der Antagonismus von Gut und Böse zu irgendeiner Zeit beschäftigt habe. Er spricht in seinem großen James Joyce-Buch von „der ganzen absurden Kohärenz und Logik der [katholischen] Kirche“. Nach Burgess’ Ansicht spielt das Böse in Joyces Werk eine geringe Rolle, und der Katholik Joyce relativiert durch das Gehenlassen der Bewusstseinsströme das Motiv den freien Willens stark, Joyces Helden lösen sich auf in ihren Umgebungen. Der Held aus Finnegans Wake mit den Initialen HCE könnte ebenso gut für ‚Here Comes Everybody‘ stehen. Joyce ist Burgess’ ureigentlicher Zuchtmeister. Die derbe, anarchistische Sinnlichkeit, die bei Burgess immer wieder überraschend aufbricht wie ein Schockeffekt, ist eine für sein Profil unverzichtbare Joyce’sche Zutat – ebenso das souveräne Spiel mit Soziolekten und fremden Sprachen. (Burgess lieferte seinen Beitrag zum Neandertaler-Kinofilm Am Anfang war das Feuer mit der Erfindung einer prähistorischen Sprache.) Qualität in Burgess’ Werk macht sich am Einfluss von Joyce fest. Auch sein Verhältnis zum Katholizismus und zum Bösen geht nie hinter Joyce zurück.

In seinem launigen Buch über Ernest Hemingway macht er sich lustig über die halbherzige Konversion des Amerikaners („ein Katholik auf dem Papier“) und spricht von „der Kirche, der ich – weniger nominell als Hemingway – angehört habe.“ Diese Feststellung ist Burgess so wichtig, dass er hier aus der Disziplin des Betrachters herausspringt. Er betont in seiner Autobiografie, die katholische Bindung ans Gesetz der Ehe habe ihn an seiner ersten Frau festhalten lassen, trotz zahlreicher, geduldeter Affären beiderseits und dem Verlust des Liebesgefühls. Hier ist der dreifach geschiedene Ernest Hemingway tatsächlich ein von ihm verurteilter Gegenpart. Burgess und seine Helden nehmen das Gegebene der Welt beziehungsweise der Schöpfung hin. Kein Burgess-Protagonist baut sich die Welt.

In einer weiteren biografischen Studie, über D. H. Lawrence, mokiert Burgess sich über den puritanischen Erotiker, der die Erde bereiste auf der Suche nach einem „unverdorbenen Volk“, das sein Ideal lebte. Lawrence sei „ein fanatischer Monist“ auf der Suche nach einer Welt, die seiner inneren Maßgabe folgte. Im Grunde hängt Burgess dem antiwissenschaftlichen und vormodernen Lawrence eine Donquichotterie an – die etwas Heldenhaftes hat. Das Verhältnis zu religiösen Grundthemen ist für Burgess das der lebenslangen und komplexen Auseinandersetzung mit einer Kindheitsprägung als Außenseiter im anglikanischen England, nicht jedoch das des Messens der Welt an einer selbst erschaffenen Vorstellung.

Das urkatholische Motiv der freien Entscheidung zum Bösen oder Guten ist bei Burgess ein blindes. Selbst die Bösen in seinem Werk sind meist Spielbälle, Zeloten höherer Mächte. Jekyll-und-Hyde-Paarungen gibt es bei ihm nicht. Seine orgienartige Apostelgeschichte, das antikisierende Wimmelbild The Kingdom of the Wicked (deutsch Das Reich der Verderbnis) behandelt etwa die so wichtige Wandlung von Saulus zu Paulus ganz nebenher, viel mehr reizen ihn die heidnischen, irren, bösen, herumhurenden Caesaren. Paulus („Wir sind alle Werkzeug“) als Nicht-Apostel hätte immerhin das Profil haben können, gegen die kopflosen, meist flüchtenden Jesus-Jünger anzutreten, die lediglich eine Linie würdig weiterzuführen versuchen. Unter den Caesaren erfüllt Nero am ehesten die Rolle eines selbstbestimmten Helden: Ego-Herrlichkeit, die zumindest über eine gewisse Strecke nicht pausenlos gefährdet ist durch Intrigenspiel oder Krankheit. Nero-der-Künstler ist aber nicht Held des Romans.

Die „Epiphanie“, die Randerscheinung des Göttlichen unter den Menschen, ein katholisches Schlüsselwort auch in seinem Buch über Joyce, zeigt sich bei Burgess weniger auf einer semantischen Ebene, sondern formal in der Feier der Opulenz. Seine reich ausgestatteten Bücher und ihre beeindruckende Varianz untereinander (keines gleicht dem anderen, das stellte die Kritik schon früh fest) manifestieren Schöpfung. Das verbindende Element in der verwirrenden Vielfalt des Werkes ist der Ausstattungs-Stil, zu dem immer wieder Soziolekte gehören. Sein expressiver Barock ist inhaltlich durch sich selbst definiert: Alle Sünden sind vergeben und werden an sich gefeiert, Burgess’ Werk ist der Moment unmittelbar nach dem „ego te absolvo“, ist Loslassen und Lossagen.

3. Dienstbare Geister

„Was soll’s denn nun sein, hm?“ Alex’ Frage an seine Kumpanen, die auf die Aufforderung hinausläuft, etwas anzustellen, ist tatsächlich die spöttische Frage des einen Helden (in seiner kurzen Willensphase, bevor auch er zu einem Everybody wird) an eine ganze Liga von nicht mal Anti-Helden. Der faunhafte Lyriker Enderby wurschtelt sich durch seine vier Romane hindurch und hat nichts Großes im Sinn. Die Enderby-Romane – die erste Hälfte des ersten Romans gehört zur besten Prosa, die Burgess je geschrieben hat – schwanken zwischen allen Formen des Werkes, zwischen Milieustudie, James-Bond-Genre und Groteske. Die Figur des mittelmäßigen Lyrikers wird dadurch zusammengehalten, dass er in den vier Romanen zumindest Gedichte schreibt, indes gerät er selbst als Person zu leicht aus dem Fokus. Die willenlosen Burgess-Figuren sind getrieben von der Anlage um sie herum. Alex sucht Spaß und hat keinerlei höhere Idee, Kenneth Toomey in Earthly Powers (deutsch Der Fürst der Phantome) ergeht es letztlich ähnlich, nur richtet er keinen Schaden an. Die breit variierenden Mitglieder der Familie Jones in Any Old Iron (deutsch Belsazars Gastmahl) sind exemplarische Erfüllungsgehilfen der (Welt-)Geschichte. William Shakespeare in Nothing Like the Sun schwimmt in einer verdichteten Suppe aus Eigenzitaten, in den selbst erschaffenen Charakteren und Stücken und in der Sprache seiner Zeit, dieser „WS“ ist ein hochliterarisches Konstrukt. Der Held N im experimentellen Roman Napoleon Symphony, ein leichtfüßiger Korse, getrieben von vernünftelnden Vorstellungen, zeigt sich nur ein Mal in dem dicken Werk entschlossen (und entsetzt): als ein deutscher Revolutionär lieber in den Tod geht, als begnadigt zu werden, und vor allem vom „Volk“ redet, für das sich das Leben zu geben lohne. N, der im Gegensatz zum historischen Napoleon keine Idee oder gar Vision vertritt, ist eine Fehlbesetzung, ein Missakkord, er bemüht sich sogar, seinem Gefangenen das Über-Motiv des „Folque“ auszureden. Das Buch, ursprünglich für Kubrick geplant, ist eine aufwendige Panoramakomödie ohne Zentralperspektive und N nicht mal eine wiederkehrende Melodie darin.

Burgess-Helden handeln nicht aus sich selbst heraus. Keine seiner Figuren hat etwas vor, sie reagieren eher, höchstens sind sie von Hormonen getrieben wie Alex. Die eigentlichen Helden sind die Bücher, und die Hauptfiguren sind die Befehle des jeweiligen Buches, in dem sie vorgeführt werden. Burgess gleicht dies aus durch seine dominante Vorliebe für deftige Charaktere, die als gleichberechtigte Mitspieler in dionysischen Wimmelbildern mitwirken, für Kollektivfiguren, Illustratoren, Konzept-Erfüller, die zwar durchaus stark auftreten können wie etwa Christopher Marlowe in A Dead Man in Deptford (deutsch Der Teufelspoet), die aber letzlich nur vor ihrem Hintergrund im historischen Roman haften bleiben. Dieser pralle Hintergrund ist Burgess seit den späten 1960er-Jahren wichtiger als die Einzelfigur. Das Ganze ist der Held. Das Panorama fordert. Die Erzeugnisse der Figur Toomey erinnern an die leichteren Arbeiten von Burgess, an die Romane, die mit Elementen der Screwball Comedy arbeiten wie etwa Honey for the Bears (deutsch Honig für die Bären) oder The Doctor is Sick (deutsch Der Doktor ist defekt) aus den frühen 1960ern: komische Personen, die durch absurde Welten stolpern, das Motiv der durchgeknallten Nacht, die der Held auf seinem Geisterbahngefährt durchlebt, eine Blackpool-Vaudeville-Süffigkeit, die oft an die Berliner Roaring Twenties erinnert. Seine Agententravestie Tremor of Intent (deutsch Tremor), eine Mixtur aus Ian Fleming, Graham Greene, John Le Carré und Edgar Wallace, ist eine Komponenten-Geschichte, sympathisch und im Grunde substanzarm, wären nicht die langen erotischen Szenen darin: kamasutrisch-logorrhöisch und schwul. Der Held, der Spion Hillier, folgt einem Auftrag und soll den übergelaufenen Agenten Roper zurückholen, jemanden also, der eine dramatische Entscheidung getroffen hat. Hillier sieht dem eigentlichen ambivalenten Ego-Helden und dessen Taten nur zu, wie einem interessanten Verdammten. Der erfolgreiche Drehbuchautor Beard aus Beard’s Roman Women (deutsch Rom im Regen) leidet darunter, kein Romanautor zu sein. Burgess’ Fähigkeiten auf so vielen Gebieten und in so vielen Sparten und sein Tempo gaben ihm viele Möglichkeiten, in die kommerziellen Abgründe jedes Schreibergeschäfts einzutauchen. Auch von Toomey trennt ihn nur ein Nachlassen, die Simplifizierung, so, wie er beispielsweise in One-Hand-Clapping (deutsch Einhandklatschen) gearbeitet hat, einem Schnellbuch fast ohne Überlegung – oder bei der Verschränkung dreier (dadaistisch?) zusammenhangloser Drehbuch- beziehungsweise Musicalstoffe in The End of the World News (deutsch Erlöse uns, Lynx), dessen wichtigste Szene 1917 in Zürich spielt, wo Joyce damals lebte. In Burgess’ Geburtsjahr. Joyce, der Urknall.

4. Irdische und höhere Mächte

Auf das Opus Magnum Earthly Powers (deutsch Der Fürst der Phantome) von 1980 muss besonders eingegangen werden, es ist längst nicht so bekannt wie A Clockwork Orange. Malta 1971: Kenneth Toomey, ein etwas klischeetuntiger Erfolgsschriftsteller, eine lust- und liebevoll ausgestellte sentimentale Figur, erhält an seinem 81. Geburtstag Besuch vom Erzbischof. Und einen Auftrag. Ausgerechnet der alte Sünder Toomey kann ein benötigtes Wunder bezeugen für die geplante Seligsprechung des verstorbenen Papstes Carlo Campanati – der der Bruder seines Schwagers war. Gerade die Aussage eines offen homosexuell lebenden Kommerzautors, mariniert im Katholizismus, wiege doppelt. Warum Toomey akzeptiert, das Wunder zu bestätigen, ohne nachzufragen oder einen Preis zu nennen, wird nie geklärt. Das Handlungsmotiv im Roman fehlt. „Ich hatte natürlich gar keinen Grund, all dies herausfinden zu müssen; ich war nicht im mindesten verpflichtet, aus dem guten, gefräßigen Carlo Campanati einen Heiligen machen zu helfen.“

Toomey bittet nicht um Sündenablass und schämt sich kein bisschen seiner Homosexualität und seines Lotterlebens als junger Mann, er benutzt den Vorstoß des Erzbischofs nur als Anregung, jetzt zurückzuschauen. Er ist Cursor durchs eigene Leben. Die Staffel seiner Rückblicke wird zum Panorama eines halben Jahrhunderts, von 1916 bis 1963. Die gut tausendseitige Saga gerät bei Burgess typischerweise zur Ausstattungsorgie. Der spätere Papst Carlo, gefräßig, vital und zweifelsfern, sowohl fundamentalistisch als auch sinnlich-pragmatisch ausgeprägt, ist eine Omnipräsenz des idealen Katholizismus in einer Person, das donnernde Gute und „ein watschelndes Panier für die Todsünde der Völlerei“. Er bildet mit Toomey zusammen die Klammer um das relativ normale Paar von Toomeys Schwester und deren Mann, die wie gutmütige Erfüllungsgehilfen der Handlung gezeichnet sind, etwas operettenhaft. Toomey wird zu keinem Zeitpunkt von Carlo beeinflusst oder gar verändert, er begleitet dessen Leben aufgrund der familiären Bindung. Einen echten Konflikt zwischen Priester und Sünder gibt es nie, aber auch keine Bewunderung. Carlo verzeiht alles, Toomey bereut nichts und bleibt unbeeindruckt. Die Frage nach Moral und Sünde stellt sich zwischen den beiden gar nicht.

Formell ist der kraftvoll epische Roman einer der am einfachsten konstruierten von Burgess, er schreitet fast strikt chronologisch voran, im Grunde bilden die 1971er-Kapitel nur die Erinnerungsrampe für die langen Wanderjahre. Mag sich auch eine gebrochene Beziehung zum Katholizismus darin austoben, mit dem Deko-Element der Homosexualität zu kokettieren, so bleibt doch die Zentralperspektive eisern erhalten. Das Opus Magnum könnte funktionieren, ohne dass Toomey schwul wäre – nur nicht so unterhaltsam. Einige für den Fortgang der Handlung wichtige Kapitel sind zu einfach nach Operettenbauplan konstruiert, um als kunstvolle Travestie durchgehen zu können, und sind zudem aus schierer Spielfreude überladen.

Toomey – wieder ein Held, der keine eigene Welt schafft – erzählt gern, dass er ein zweitklassiger „Gebrauchskünstler“ ist, der einen künstlerischen Autor imitiert. Diese Idee hat dauerhaft Charme und lässt die Ambitionen der Figur hinter seinem Chronisten-Job gut zurückstehen. Er jammert sogar über sein „verpfuschtes Leben“ angesichts der Fallhöhe zwischen seinem Werk und dem Kunstanspruch. Burgess hat sich verausgabt mit kommerziellen Arbeiten und unermüdlich geschuftet in nahezu jeder Richtung und Qualität, was oft wahllos wirkt – seine Verwandtschaft mit Toomey liegt nahe. Er ist im Grunde immer potenziell Rampensau, selbst in hochkomplexen und ambitionierten Formspielen wie Napoleon Symphony. Entscheidend ist, dass Toomey, ein wendiger, versierter Autor, ohne den Einfluss von Joyce bleibt. Burgess verweigert ihm die Hauptzutat der Qualität nach seinem innersten Credo. Ein größerer Rahmen fehlt Toomey. Burgess ordnete fast immer die Personen dem Romanganzen unter, was bei ihm oft einen neuen Anlauf bedeutete, dem Literaturgenre etwas Neues abzugewinnen, Toomey dagegen ist alles andere als innovativ. Dieser Held will nicht viel, er macht es sich leicht, erlebt selten Widerstand. Aber Carlo ist neben Alex die am stärksten profilierte Figur bei Burgess – ein Ausbund an Bestimmtheit und Kampfgeist. Burgess belegt ‚Ego‘ keineswegs mit der Assoziation des Bösen, nur erhält dieser willensstärkste Charakter keine Chance, in die Handlung des Buches einzugreifen, er wird als Hauptnebenfigur mit gleichbleibender und gleichmütiger Distanz beobachtet.

Von Alex und Carlo, den einzigen Helden mit Eigenwillen im gewaltigen Gesamtwerk, wird Alex am schwersten bestraft mit dem Entzug von Individualität, und Carlo ist als späterer Papst das denkbar größte Werkzeug und weicht an keiner Stelle von seiner Dienstbarkeit ab. Das bezeichnet auch eine typisch klerikale Perspektive, nämlich eine Veranstaltung des Kirchenlebens mit intensiver Selbstbeteiligung. Technisch gesehen ist Carlos Beziehung zum Gut-Böse-Antagonismus die simpelste: Man wird von einem Sukkubus besessen, der dann ausgetrieben gehört: „Jeder Mensch hat ein Recht, geboren zu werden. Ein Recht, zu leben, hat niemand.“ Jede Seele muss Prüfungen bestehen. Carlos Gemüt folgt allein der vermuteten satanischen Präsenz – und diese stört ihn bei Toomeys unverschämter Sündigkeit jahrzehntelang gar nicht. Dass der Erzähler ihm so nahe kommen darf, ist grotesk inkonsequent. Zwei, die nie an sich zweifeln, geschweige denn verzweifeln. Carlos saftvolles Leben wird nicht versucht und ändert sich nicht, davor scheut Burgess zurück, er liebt diese Figur wegen ihrer donnernden Opulenz, und insofern handelt es sich um eine schwache Ego-Variante: kein Gegenspieler zu Alex, sondern letztlich ein dickes, lautes Requisit. Der böse Held ist minderwertig, der gute aber nur eine Monstranz.

Die Gründungsgeschichte dieses Romans, das Wunder, die Errettung eines Menningitis-kranken Waisenkindes in New York durch Carlo im Jahr 1925, nimmt nicht mal eine Seite ein, es geht Toomey in jeder Hinsicht um eine Formalie. Er lässt keinen Zweifel daran, dass es eine möglicherweise zufällige Entwicklung des Krankheitsverlaufs war, und, mehr noch, es interessiert ihn genauso wenig wie den Autor. Toomeys Abenteuerjahre sind vorbei, seine eigene Biografie entwickelt sich nicht mehr weiter, und 1933 kippt die Handlung ganz: Carlos Geschichte (nicht: Carlo) übernimmt Toomey. Carlo schenkt ihm ein von ihm und anderen Geistlichen verfasstes erzchristliches Drehbuch zur freien Verwendung: „Es ist mir egal, was du damit machst, wenn nur die Ideen ausgesät werden.“ Der homosexuelle, rudimentär Gläubige wäre damit ohne eigenes Zutun im Auftrag des Herrn unterwegs, Toomey hätte zum Nulltarif Zugriff auf den religiösen Markt inklusive radikalem Imagewandel. Es ist ihm egal. Er hat keine wahren Ambitionen. Er erzählt bloß den Exkurs über das Thema freier Wille nach, es ist ein unverbindlicher Anlass für Burgess, das Motiv wieder einmal unterzubringen.

Erzähler und Objekt sind ab jetzt auf Karrierelinie. Carlo und Toomey treffen sich, als hätten sie eine Sekretärin, die diese Termine vermittelt. Auf den Papst fällt während des gewaltigen Romans kein Stäubchen, mag er auch noch so poltrig, exzentrisch, gefräßig und fettschwitzend sein, „er spielte das Rollenklischee des sybaritischen Prälaten“, durchgängig. Der spätere Papst sieht selbst im bösesten Nazi einen guten Menschen, besessen vom Teufel, während der Augustiniker Toomey diese Sicht nicht teilen kann: „Den Menschen hatte nicht von außen der Fürst der Phantome befleckt. Das Böse steckte in ihm; er war jenseits allen Hoffens auf Erlösung.“ Mag auch Toomeys Gleichgültigkeit (nicht: Hass) gegenüber der katholischen Kirche prägend sein für den Roman, umso erzgläubiger ist eigentlich Burgess’ Konzept des Papstes, der aus dem Nichts kommt, als Waise geboren wurde, dies erst spät erfuhr und die Kirche als „meine Familie“ empfindet, was er beim ersten Auftritt auf dem Petersplatz nach dem Konklave 1958 laut verkündet.

Der gerettete Junge aus New York, Godfrey Manning, den der spätere Papst 1925 auf wundersame Weise geheilt haben soll, entwickelt sich zum Anführer einer Sekte, die eine hoffärtige, widerliche Alternative zum Katholizismus darstellt. Carlo stirbt 1963 und muss noch nicht mal erfahren, dass er hier versagt hat.

Was die naheliegenden Vergleiche angeht: Carlo hat mit dem realen Papst Johannes XXIII so viel zu tun wie Toomey mit seiner möglichen Vorlage William Somerset Maugham und Godfrey Manning mit dem radikalen Evangelisten Jim Jones und dessen Sekte sowie deren Massenselbstmord 1978 im Dschungel. Die Distanz ist jeweils etwa dieselbe. Dieses geschickt eingesetzte Zeitkolorit unterstreicht eher noch Burgess’ Gleichmütigkeit gegenüber seinen Charakteren. Seine Helden zeigen der Leserschaft die mächtigen Ambivalenzen der Welt, aber leben sie nicht vor – außer Alex, dem geschundenen Armen, der fragt, was man tun soll.