Die Kunst, Abschied zu nehmen

George Prochnik begibt sich auf Stefan Zweigs Spuren im Exil

Von Galina HristevaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Galina Hristeva

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Den Abschied von seinem langjährigen, geliebten Freund Joseph Roth besiegelte Stefan Zweig in seiner Trauerrede in London am 23. Juni 1939 mit folgenden denkwürdigen Worten:

Abschiednehmen, diese schwere und bittere Kunst zu erlernen, haben uns die letzten Jahre reichlich, ja überreichlich Gelegenheit geboten. Von wie vielem und wie oft haben wir Ausgewanderte, Ausgestoßene Abschied nehmen müssen, von der Heimat, von dem eigenen gemäßen Wirkungskreis, von Haus und Besitz und aller in Jahren erkämpften Sicherheit. Wieviel haben wir verloren, immer wieder verloren, Freunde durch Tod oder Feigheit des Herzens, und wieviel Gläubigkeit vor allem, Gläubigkeit an die friedliche und gerechte Gestaltung der Welt, Gläubigkeit an den endlichen und endgültigen Sieg des Rechts über die Gewalt.

Der amerikanische Schriftsteller und Journalist George Prochnik – bekannt ist seine Studie aus dem Jahre 2006 über die Freundschaft zwischen Freud und dem Psychologen James Jackson Putnam (Putnam Camp: Sigmund Freud, James Jackson Putnam and the Purpose of American Psychology) – geht hier auf neue Spurensuche. Er folgt nun in seinem neuen, 2014 in den USA erschienenen und 2016 ins Deutsche übersetzten Buch Das unmögliche Exil. Stefan Zweig am Ende der Welt dem österreichischen Schriftsteller Stefan Zweig ins Exil. Wie hat Zweig das Exil erlebt? Oder mit Prochniks Worten, in denen Zweigs eigene Worte widerhallen: „Wie konnte es so weit kommen, dass einer der umschwärmtesten Schriftsteller seiner Zeit“ am Ende seines Lebens im brasilianischen Petrópolis das „Leben eines Mönchs“ führte? Und warum musste er 1942 in Brasilien freiwillig aus dem Leben scheiden?

George Prochnik selbst schöpft die Motivation zu diesem Buch aus dem Schicksal seiner eigenen Familie. Auch sein Vater und Großvater waren vor der Gestapo, auf deren Liste sie standen, 1938 aus Wien geflohen und hatten schließlich in den USA Fuß gefasst. Bereits zu Beginn des Buches macht sich Prochnik Gedanken über die „Not des Exils“ – über all die Mühsal, die Entfremdung von alten Bindungen und die „Umkehrung der Machtverhältnisse“, von denen auch seine Familie betroffen war. 

Prochniks Buch sollte eine paradigmatische Studie über das Exil als Prozess werden. Zum Prototyp des Exilanten wird kein Geringerer als Stefan Zweig erhoben – eine etwas überraschende Entscheidung angesichts der besonderen, privilegierten ökonomischen und sozialen Stellung Stefan Zweigs. Zweig – Fabrikantensohn und weltberühmter Schriftsteller in einem – verfügte bekanntlich, wie auch Prochnik immer wieder betont, über Mittel und Kontakte, die den meisten Auswanderern keineswegs zur Verfügung standen. Insofern stellt sich von Beginn an die Frage, inwiefern es gelingen kann, aus dem Schicksal eines privilegierten Ausgestoßenen allgemein gültige Schlussfolgerungen über das Phänomen „Exil“ zu ziehen.

Mit der Fokussierung auf die Exilerfahrung und mit dem Versuch, Stefan Zweigs letzte Jahre mit dem Schicksal weiterer Zeitgenossen zu verknüpfen und zu parallelisieren, bietet Prochnik eine besondere Biografie Zweigs. Man begegnet im Buch Aussagen weiterer Zeitgenossen und mehr oder weniger prominenter Exilanten. So zitiert er oft den Arzt und Schriftsteller Martin Gumpert, der den anfänglichen Zustand der „Taubstummheit“ im Exil wegen fehlender oder unzureichender Sprachkenntnisse als „wahrhaft würdelos und pathologisch“ bezeichnet hat.

Mehrere Paradoxe des Exils kommen im Buch zur Sprache – etwa, dass neben Trennung und Abschied auch „ein makabres Wiedersehen“ zu den Strapazen des Exils gehören konnte. Erneut Gumpert bemerkt: „Die Emigration sorgt für eine traurige Verbundenheit, die in hohem Maße aus Uneinigkeit und Feindseligkeit besteht.“ Sich mit Menschen abgeben zu müssen, die einem nichts bedeuten, gehört zu den bittersten Seiten der Emigration, wie auch Stefan Zweig erfahren musste.

Zweigs Leben wird in Prochniks Buch, das mit dem Jahr 1941 und in Brasilien beginnt, aus der Rückschau aufgerollt. Grundlegend und zentral ist das von Zweig in der Emigration verfasste Memoir Die Welt von gestern. Sein Leben in Europa (einschließlich zahlreicher Reisen innerhalb und außerhalb Europas noch vor der endgültigen Ausreise) wird sehr dicht, stellenweise fast zu detailliert beschrieben. Erklärbar ist dieser Umstand einerseits mit Prochniks überall zu spürender Begeisterung für Wien um die Jahrhundertwende und den damaligen Zeitgeist, und andererseits mit dem von ihm genannten Umstand, dass er während seiner US-amerikanischen Bildungslaufbahn kaum etwas über Stefan Zweig gelesen und gehört hatte.

So liest man einiges über das Wiener Café als kulturbildende und kulturtragende Institution. Einige Erklärungen im Buch in puncto europäische Geschichte, etwa über Hitlers Machtantritt und den Anschluss Österreichs, sind womöglich dem Nachholbedarf amerikanischer Leser geschuldet, für europäische Leser aber eher redundant. Positiv wiederum ist, dass Prochnik nicht das idyllische Bild jener „Welt von gestern“ zeichnet, etwa indem er die Gehässigkeiten und Streitigkeiten unter Intellektuellen exponiert: „Doch wenn wir uns mit den Künsten und der Presse im Wien vor dem ‚Anschluss‘ befassen, dann stoßen wir auf eine Sphäre zornig-erbitterter, mörderischer Kämpfe, was auch für den in Auflösung begriffenen Bereich des Politischen Folgen hatte.“

Bei Einschätzungen zu Zweig führt Prochnik einige Korrekturen durch. Er setzt sich etwa mit Hannah Arendts Vorwürfen an Stefan Zweig wegen seiner angeblich apolitischer Haltung auseinander. Zweig sei kein olympischer Gott, der sich in seinem „wonnigen Olymp“ von der Wirklichkeit ferngehalten habe. Er habe durchaus eine soziale Ader und eine politische Seite gehabt. Dazu nimmt Zweigs zweite Ehefrau Lotte Altmann einen sehr wichtigen Platz in Prochniks Buch ein. Der Autor zitiert sie oft und hat auch ihre Nichte Eva Altmann getroffen und interviewt. Zudem ist Lotte durch die im Buch abgedruckten Bilder sehr präsent.

Insgesamt ist Prochniks Charakterisierung nicht schwarz-weiß, geht er doch auf viele Schwächen und Absonderlichkeiten Zweigs gewissenhaft ein. Hingewiesen wird beispielsweise auf Zweigs ambivalentes Verhältnis zum Judentum, zum Zionismus sowie auf das Paradox, dass der Kosmopolit Zweig nicht in der Lage war, sich außerhalb Europas heimisch zu fühlen. Die gängige Ansicht vom großzügigen Stefan Zweig wird zwar nicht außer Kraft gesetzt, aber mit dessen eigener Aussage relativiert, dass ihn im Exil die zahlreichen, nicht enden wollenden Bitten anderer Flüchtlinge um Unterstützung auf Dauer ermüdeten.

Wer sich in Prochniks Buch eine geradlinige und zielgerichtete Rekonstruktion von Zweigs Leben erhofft und es insgesamt nur als Biografie lesen will, wird enttäuscht sein. Viel zu oft und viel zu unmotiviert changiert der Autor zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Das assoziative Spiel der Verknüpfung früherer mit späteren Lebensphasen – unter Verweis auch auf Prochniks eigene Vergangenheit und Gegenwart – läuft dem Autor hin und wieder aus dem Ruder, sodass es dem Buch stellenweise an Übersichtlichkeit mangelt. Zweigs durchwegs spannendes Leben spiegelt sich in Prochniks Narration auch nicht immer wider: er schafft es nicht, den Leser vom Anfang bis zum Ende in Atem zu halten und die Symphonie des Zweig`schen Lebens in all ihrer Intensität wiederzugeben. Außerdem bleiben die Gründe für Zweigs Scheitern, sich mit dem neuen Leben im Exil doch anzufreunden, etwas unterbelichtet, während der verunsicherte, entwurzelte Zweig deutlich ausgemalt wird. Umso breiter und schillernder wird das Phänomen Zweig profiliert, wie das an der folgenden Beschreibung erkennbar ist:

Stefan Zweig – reicher Bürger Österreichs, rastlos umherwandernder Jude, erstaunlich produktiver Autor, unermüdlicher Verfechter eines paneuropäischen Humanismus, unablässiger Netzwerker, tadelloser Gastgeber, zu Hause ein Hysteriker, hehrer Pazifist, billiger Populist, zartes Gemüt, Hundeliebhaber, Katzenhasser, Büchersammler, Krokodillederschuhträger, Dandy, Depressiver, Kaffeehausenthusiast, Tröster einsamer Herzen, gelegentlicher Frauenheld, Männerliebäugler, mutmaßlicher Exhibitionist, überzeugter Fabulierer, Schmeichler der Mächtigen, Held der Machtlosen, jämmerlicher Feigling angesichts des Älterwerdens, ungerührter Stoiker angesichts der Mysterien des Grabes –, dieser Stefan Zweig gehörte zu der Sorte Mensch, die den Zauber und die Fäulnis ihrer Umgebung verkörpern.

Eine nahtlose Übertragung von den einzigartigen Erfahrungen des Individuums Stefan Zweig auf einen Typus des Exilanten gelingt Prochnik nicht. Der Versuch, die Erfahrungen des Exils auf einen Nenner zu bringen, gehört nicht zu den Stärken des vorliegenden Buches. Wie alle anderen Exilanten sei Zweig ein Ödipus gewordener Odysseus – so Prochniks auf Hannah Arendts Aussage zurückgehendes Leitmotiv, wonach die flüchtenden europäischen Juden „Irrfahrer“ seien, die „im Unterschied zu ihrem großartigen Vorbild Odysseus nicht wissen, wer sie sind.“ Stefan Zweig war sich seiner europäischen Identität sehr wohl, zu sehr bewusst. Und er ist und bleibt kein typischer Fall. Dennoch hat George Prochnik die Atmosphäre Brasiliens, wo Stefan Zweigs Leben zu Ende ging, sowie die Traumata des Exils gut eingefangen und nachdrücklich und einfühlsam vermittelt. Mehr als die Erfahrungen des Ödipus oder des Odysseus kristallisiert sich aus seinem Buch die anfangs von Zweig apostrophierte Kunst, Abschied zu nehmen, heraus – typisch für alle Ausgewanderten und doch in ihrer sehr Zweig-spezifischen Prägung. 

Titelbild

George Prochnik: Das unmögliche Exil. Stefan Zweig am Ende der Welt.
Übersetzt aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn.
Verlag C.H.Beck, München 2016.
397 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783406697562

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