Wo Russland endet

Katerina Poladjans und Henning Fritschs Reisebericht über Russisch-Fernost

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Europa endet am Ural, dahinter beginnt Asien. So haben es wohl die meisten damals im Geographieunterricht gelernt. Russland jedoch ist dort noch nicht zu Ende – es fängt gerade erst richtig an, um sich dann bis an den Pazifischen Ozean auszudehnen. Dieses unermesslich weite Land wird meist Sibirien genannt. Im russischen Sprachgebrauch bezeichnet man allerdings dessen östlichsten Teil von Jakutien bis zum Meer in der Regel als „Dal’nij vostok“, als „Fernen Osten“. Da der letztere Begriff im Deutschen für andere Länder verwendet wird, haben Katerina Poladjan und Henning Fritsch den Titel für ihren Reisebericht wohl treffend gewählt: Hinter Sibirien. Eine Reise nach Russisch-Fernost. Freilich: Die graphische Gestaltung des Buchumschlags ließe auch eine andere Lesart zu: Hintersibirien.

Ob man nun die oben geschilderten Feinheiten der Definition respektieren mag oder nicht: Sibirien stellt gerade für Deutsche einen alten Sehnsuchtsraum dar, der im 20. Jahrhundert immer wieder durch Romane und Filme bedient und zugleich befördert worden ist. Dies ist mit Sicherheit auch Poladjan und Fritsch bewusst. Wahrscheinlich wollten die beiden Autoren am Mythos Sibirien zum einen selber ein wenig weiterschreiben. Zum anderen mögen sie auch beabsichtigt haben, sich von ihm ein Stück zu distanzieren, wenn sie nun nur den äußersten Osten Russlands in den Blick nehmen. Ihr gemeinsames Buch darf wohl am ehesten als Reisebericht verstanden werden. Poladjan und Fritsch reisten Anfang März 2015 von Wladiwostok bis an den Baikalsee, wobei sie in Chabarowsk, Blagoweschtschensk, Tschita und Ulan-Ude Zwischenhalte einlegten. Als Transportmittel diente ihnen vornehmlich der absolute „Klassiker“: die Transsibirische Eisenbahn.

Die zahlreichen, oft sehr kurzen Kapitel des Buchs wurden abwechselnd von Katerina Poladjan und Henning Fritsch verfasst – zumindest lassen die beiden uns das glauben. Poladjan, deutsche Schriftstellerin mit russischen Wurzeln, hat schon dank der russischen Sprache den direkteren Zugang zu Land und Menschen als ihr Ehemann. Fritschs Distanz zum Gehörten und Gesehenen ist daher zumindest zu Beginn größer. Es erstaunt wohl kaum, wenn er die lebensweltlichen und kulturellen Unterschiede deutlicher verspürt und zu Papier bringt. Das wiederum bringt es mit sich, dass Fritschs Anteile am Buch mitunter spritziger und witziger formuliert sind, obwohl der Stil der beiden Koautoren sich ansonsten nicht allzu sehr unterscheidet.

Der immer wieder aufscheinende Humor ist die eine große Stärke des Buchs. Er ergibt sich aus den oft skurrilen Begegnungen und absurd erscheinenden Verhältnissen oder bahnt sich hie und da im Philosophieren der Porträtierten seinen Weg. Er steckt auch in den Stereotypen über Land und Leute, die zuweilen offenbar bestätigt werden – manchmal aber auch nicht. Zu einem running gag wird etwa der Versuch der Autoren, endlich einmal aus den sibirischen Großstädten auszubrechen und „in die Natur“ vorzudringen. In Sibirien ist nichts leichter als das, könnte man meinen. Doch weit gefehlt: Die Einheimischen raten Poladjan und Fritsch wiederholt davon ab; schließlich sei es da draußen gefährlich und kalt. Ein Schelm, wer geglaubt hätte, jeder „Sibirjake“ sei ein Naturliebhaber oder Großwildjäger. Hübsch mutet auch die Reaktion einer Frau an, als ihr Henning namentlich vorgestellt wird: „Das klingt chinesisch. Aber wie ein Chinese sieht er nicht aus. Eher wie ein Tschetschene. Aber dafür ist er zu groß. Vielleicht ein Turkmene. Auch für einen Armenier ist er zu groß. Ein dunkler Schwede.“

Noch überzeugender wirkt das Buch freilich durch die vielen Geschichten der Menschen, denen die Autoren unterwegs begegnen. Immer wieder werden kürzere und längere biografische Porträts in den Reisebericht eingeflochten. Diese kommen einem zwar meist recht typisch für Russland vor und vermögen inhaltlich nicht immer zu überraschen. Wie viele ähnliche sowjetische und postsowjetische Lebensläufe hat man in den letzten Jahren – etwa in der Presse – lesen können! Doch das stört hier beileibe nicht: Diese Geschichten wirken stets frisch, farbig, eindrücklich. Die Menschen blicken auf ihr Leben zurück, manche hadern, andere wiederum sind ganz zufrieden. Sie geraten ins Philosophieren und überlassen dann dem Leser viel Raum zum Nachdenken. So meint etwa eine junge Frau, die über Geschlechterrollen in Russland promoviert hat: „Die Großmütter lassen die Männer nicht erwachsen werden. Unsere Vergangenheit lässt uns alle nicht erwachsen werden.“

An solchen Stellen erhält das Buch eine Tiefe, die es in den bloß landeskundlichen Abschnitten sonst nicht erreicht (oder erreichen kann). Die Autoren zitieren in diesen Fällen jeweils ausgiebig ihre Gesprächspartner. Die entsprechenden Textstellen sind dabei meist dermaßen kompakt und in sich abgeschlossen, dass man annehmen könnte, sie seien aufgenommen und anschließend transkribiert worden (was nichts Schlechtes wäre). Oder sind die Geschichten vielleicht zum Teil auch der Fantasie der Autoren entsprungen? (Was ebenfalls nicht a priori ein Problem wäre).

Hinter Sibirien liest sich natürlich auch ein wenig wie ein Reiseführer. Aber gerade die landeskundlichen Elemente vermögen weniger zu überzeugen – etwa wenn relativ sachlich über Denkmäler, Straßen und Gebäude referiert wird. Das unterscheidet sich dann kaum von handelsüblichen Reiseführern. Somit fehlt dem Leser hier meist der Mehrwert, der anderswo im Buch eben gerade aus der persönlichen Betroffenheit der Autoren erwächst. Der Reisebericht ist im Übrigen Katerina Poladjans Großmutter gewidmet, die in Wladiwostok gelebt hatte. Manchmal wird der Leser allerdings auch wieder überrascht, was den Gewinn bei der Lektüre entsprechend steigert: Wer hätte zum Beispiel erwartet, dass man in Wladiwostok nordkoreanisch essen kann! Der Besuch im entsprechenden Restaurant ist amüsant und ziemlich schräg.

Ein Buch über Russland scheint offenbar geradezu nach literarischer Einbettung zu verlangen: Die Autoren nehmen mannigfaltig auf die russische Literatur Bezug. So wird gleich zu Beginn in einem Motto Daniil Charms zitiert – der vielleicht für das Absurde, Tragikomische des Buches Pate stehen soll. Und das Stichwort „Eisenbahn“ legt es natürlich nahe, Lew Tolstois Roman Anna Karenina ins Spiel zu bringen oder Wenedikt Jerofejews Säuferpoem Moskau-Petuschki zu erwähnen, das ja gewissermaßen die Moskauer Vorortstrecke im Kaff namens Petuschki verewigt hat. Der Bezug zu letzterem Text scheint allerdings mitunter etwas gar bemüht: Messen will sich der Reisebericht an diesem literarischen Kulttext und Meisterwerk hoffentlich nicht.

Richtig ärgerlich ist aber Folgendes: Bei den Ausführungen zum Sichote-Alin-Meteorit, der 1947 im Fernen Osten Russlands niederging, sind ein paar Zeilen von Wikipedia entnommen worden (S. 56 und 57), ohne dass dies kenntlich gemacht worden wäre. Muss man so etwas als Leser heutzutage einfach hinnehmen? – Auf den Seiten 188 und 189 legen die Autoren außerdem einem jungen Mann in Tschita, der ihnen eine Kirche zeigt, ein paar Zeilen in den Mund, die sich in einem Blogeintrag im Internet finden, der mit August 2014 datiert ist (https://inchtomania.wordpress.com/2014/08/12/paris-sibiriens), also lange bevor die Reise stattgefunden hat bzw. das Buch erschienen ist. Beides ruft zumindest nach einer Erklärung. Bei beiden hier erwähnten problematischen Stellen hat übrigens je ein leichter Stilbruch gegenüber dem restlichen Text beim Rezensenten den entsprechenden Anfangsverdacht geweckt. Ihm ist dann allerdings die Lust vergangen, das Buch auf weitere kritische Passus hin zu prüfen.

Und noch ein Punkt ist kritisch anzumerken: In einem Buch über Russland sollten russische Zitate und Wörter korrekt wiedergegeben sein. Im vorliegenden Fall finden sich aber überaus viele Fehler; manchmal sind gleich mehrere Buchstaben in einem Wort oder Ausdruck falsch wiedergegeben. Der bekannte Radiosender heißt außerdem Echo Moskaus, nicht „Echo-Moskau“ (Auch Ungenauigkeiten dieses Typs finden sich im Buch einige). Und schließlich ist die Umschrift der russischen Wörter ins lateinische Alphabet auf weite Strecken willkürlich. Das mag eine Folge von Nachlässigkeit sein – oder aber der Globalisierung geschuldet – denn russische Begriffe zirkulieren in verschiedenen Übertragungen, je nach der gewählten Zielsprache. Wie auch immer: Der Verlag hätte hier eingreifen müssen.

Titelbild

Katerina Poladjan / Henning Fritsch: Hinter Sibirien. Eine Reise nach Russisch-Fernost.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2016.
256 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783871348419

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