Für Tories nicht geeignet

Ken Loachs neuer Film „I, Daniel Blake“ rechnet ab mit Austeritätspolitik und dem Zerfall des britischen Sozialsystems

Von Maria Roca LizarazuRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maria Roca Lizarazu

Auch wenn man Ken Loachs neuen Film I, Daniel Blake noch nicht gesehen hat, so hat man als fleißige/-r, filminteressierte/-r Feuilletonleser/-in doch zumindest schon davon gehört. Dies liegt nicht nur an der – durchaus umstrittenen – Auszeichnung mit der Palme d‘Or in Cannes, sondern auch an dem ein oder anderen Eklat, den der Film aufgrund seiner eindeutigen politischen Positionierung im britischen Kontext bereits ausgelöst hat.

Im Zentrum des Films steht der titelgebende Daniel Blake (gespielt von Stand-up Comedian Dave Johns), ein Zimmermann um die 60 aus dem im Norden Englands gelegenen Newcastle, der sein ganzes Leben lang gerne, hart und ehrlich gearbeitet hat. Nach einem Herzinfarkt allerdings befinden seine Ärzte ihn für zeitweilig arbeitsunfähig, weshalb er auf die sogenannte „employment and support allowance“, eine Art Krankengeld, angewiesen ist. So weit, so ungut. Als Daniel aufgrund einer Befragung durch das Jobcenter, die so genannte Work Capability Assessment“, von einer eindeutig nicht medizinisch qualifizierten Mitarbeiterin als „arbeitsfähig“ eingestuft wird, beginnt eine bürokratische Odyssee. Von nun an muss er nämlich Arbeitslosengeld beantragen. Das bedeutet für ihn vor allem, eine Reihe von Maßnahmen zur Beschaffung von Jobs zu durchlaufen, die er dann aus gesundheitlichen Gründen gar nicht annehmen kann. Erschwert wird sein Los dadurch, dass er über keinerlei Computerkenntnisse verfügt und auf die Hilfsbereitschaft des Jobcenters nur bedingt zählen kann. Daniel kämpft sich zwar tapfer durch den Antragsdschungel und reicht Widerspruch gegen die Entscheidung des Jobcenters ein, aber die Mühlen der Bürokratie mahlen bekanntlich langsam und in der Zwischenzeit muss er von irgendetwas leben.

Noch schlimmer erwischt hat es Katie (gespielt von Hayley Squires), alleinerziehende Mutter zweier Kinder aus London, die nach zweijährigem Aufenthalt in einer Notunterkunft von ihrer örtlichen Behörde ins ca. 400 Kilometer entfernte Newcastle verfrachtet wurde, denn in London sind die Mieten für Sozialwohnungen mittlerweile zu teuer. Dort ist sie nicht nur mutterseelenallein, sondern auch ohne Geld, da sie sich zu ihrem ersten Termin im Jobcenter verspätet (fremde Stadt, falscher Bus) und dafür mit der zeitweiligen Einstellung ihrer Leistungen bestraft wird. Immerhin begegnet sie im Jobcenter auch Daniel und die beiden freunden sich an – Daniel wird zum (Groß-)Vaterersatz, der Katie dabei hilft, ihre unbeheizte Bruchbude in so etwas Ähnliches wie ein Zuhause zu transformieren; im Gegenzug findet der langjährige, kinderlose Witwer ein wenig sozialen Anschluss. Aufhalten können diese kurzen Momente des Glücks und der Solidarität den Lauf der Dinge jedoch nicht – sowohl Katie als auch Daniel werden immer tiefer hineingezogen in die Spirale aus Armut und Entrechtung und steuern auf ein bitteres Ende zu.

Denn letztendlich können auch diese Momente der Wärme nicht darüber hinwegtäuschen, dass beide Figuren einem völlig entmenschlichten und entmenschlichenden System gnadenlos ausgeliefert sind. Verbildlicht wird dies unter anderem im Interview mit der Jobcenter-Angestellten zu Beginn des Films: Lange Zeit starren die Zuschauer/-innen auf einen schwarzen Bildschirm, es erklingt lediglich die monotone, roboterähnliche Stimme der Angestellten, die ihre Fragen herunterleiert und bis zum Schluss gesichtslos bleibt. Einen ähnlichen Effekt erzielen die endlos langen Telefonschleifen, in denen Daniel Lebenszeit und Geld verschwendet, nur um dann doch nicht bis zum ominösen „decision maker“ vorzudringen, der über seinen Widerspruch entscheiden soll; von der mittlerweile bereits berühmt-berüchtigten Szene in der „food bank“ – englisches Äquivalent der Tafel – ganz zu schweigen. Alles in diesem System ist darauf ausgerichtet, sowieso schon angreifbare Menschen zusätzlich zu verwirren und auszulaugen, zu verängstigen und zu entmachten. In einem Klima gesättigt mit absurden und schikanösen Forderungen wird jegliche Protestregung mit den immer gleichen Phrasen oder gar Sanktionen beantwortet, so dass man als Zuschauer/-in nur darauf wartet, dass irgendjemandem einmal so richtig der Kragen platzt. Daniel allerdings bewahrt erstaunlich lange seinen trockenen Humor, und auch der Film als solcher hat durchaus seine komischen Momente: Daniels Versuche, sich mit dem fremden Wesen Computer anzufreunden beispielsweise („The screen’s frozen“ – „Well, can you defrost it?“) oder seine durchaus schlagfertigen Repliken auf den gedankenlos vorgetragenen Fragenkatalog der „Work Capability Assessment“ („…please, ask me about my heart and not my arse, which works fine…“).

Neben diesem unmissverständlichen Angriff auf ein scheiterndes Sozialsystem, in dem Kosteneffektivität alles und das menschliche Einzelschicksal nichts gilt, legt Loachs Film aber auch Wert darauf, zwischenmenschliche sowie intergenerationelle Solidarität zu betonen. Die Abwärtsspirale aus (immer weiter zunehmender) Armut, Handlungsunfähigkeit und sozialer Isolation wird zeitweilig unterbrochen, wenn Daniel Holzspielzeug für Katies Kinder schnitzt oder wenn Daniels junger, latent kleinkrimineller Nachbar China ihm nachdrücklich zu verstehen gibt, dass er immer auf ihn zählen könne. Mancherlei englischsprachige Rezension warf Loach aus diesem Grund vor, seine Repräsentation von Armut sei „sanitised“, die dargestellten Charaktere zu tugendhaft, da völlig unverschuldet in ihre jeweilige Situation hineingeraten. Es stellt sich allerdings im Gegenzug die Frage, ob man der medial befeuerten Dämonisierung der sogenannten „Unterschicht“ und dem omnipräsenten Klischee vom „Sozialschmarotzer“ tatsächlich noch eine weitere Facette beifügen muss, um einem Realismusgebot nachzukommen, das auf Kunstwerke sowieso nicht zutrifft. Der Schärfe von Loachs Kritik nehmen diese Szenen wenig, eher im Gegenteil.

Diese Kommentare deuten jedoch darauf hin, dass das Urteil der Kritiker/-innen durchaus gespalten ist. Schon in Cannes äußerten einige Unmut über die Entscheidung der Jury, und es stellt sich tatsächlich die Frage, ob Loach, als fest etablierter, vielfach honorierter Regisseur, tatsächlich seine zweite Palme d’Or hätte gewinnen müssen für einen Film, der politisch sicherlich bitter notwendig, künstlerisch betrachtet aber durchaus zu beanstanden ist.

Auch in der britischen Presse gingen die Meinungen auseinander – wenig überraschend orientierten sich die Bewertungen des Films mehr oder weniger an traditionellen politischen Grenzverläufen. Klassisch linksliberale Medien wie der Guardian beließen es nicht bei ausführlichen Besprechungen, sondern entwickelten ein komplettes paratextuelles Universum zum Film, bestehend aus Glossen, Kommentaren, Videos, Leser/-innenbefragungen und Hintergrundreportagen. Peter Bradshaw und Mark Kermode bewerteten den Film positiv, entweder im Sinne einer „powerful parable against the failings of the benefits system“ (Bradshaw) oder, noch dramatischer, als „battle cry for the dispossessed“ (Kermode).

In der Daily Mail wurde der Film hingegen – erwartungsgemäß – von Tobi Young verrissen, der Loach eine detaillierte Liste vermeintlicher Fehldarstellungen und Unglaubwürdigkeiten vorhielt (man sollte allerdings erwähnen, dass Brian Viner in der Daily Mail auch eine weitaus gemäßigtere Kritik vorlegte). Die meisten anderen Rezensionen situierten sich irgendwo im Mittelfeld zwischen diesen beiden Extremen und kamen darin überein, dass es einiges auszusetzen gebe an I, Daniel Blake – die Holzschnittartigkeit der Charaktere, die im Stile der Agitprop wenig dezent vorgetragene politische Botschaft – man es aber dennoch mit einem guten und wichtigen Film zu tun habe.

Selbst einige Politiker fühlten sich zu Filmkritikern berufen und griffen in die Debatte um I, Daniel Blake ein. Iain Duncan-Smith beispielsweise, ein bedeutender Tory-Politiker und bis vor kurzem Secretary of State for Work and Pensions, griff Loach für seine negative Darstellung des Sozialsystems, insbesondere der Jobcenter-Angestellten, an. Interessanterweise war es Duncan-Smith selbst, der unter der Cameron-Regierung wesentlich für tiefgreifende Kürzungen und die Umstrukturierung des Sozialsystems hin zum Universal Credit verantwortlich war. Man kann sich also nur schwerlich des Eindrucks erwehren, dass sich hier jemand persönlich angegriffen fühlte. Duncan-Smiths Tory-College Greg Clark, seines Zeichens Business Secretary, geriet in der BBC Question Time aus ähnlichen Gründen mit dem Regisseur aneinander. Ganz anders hingegen der nach vielem Hin und Her nun doch als Labour-Chef bestätigte Jeremy Corbyn, der nicht nur seine eigenen Parteimitglieder, sondern auch die derzeitige Regierungschefin Theresa May zur Sichtung des Films aufforderte, um weitere Kürzungen im Sozial- und Gesundheitsbereich zu verhindern. Da soll noch einmal jemand behaupten, Kunst hätte heutzutage keine gesamtgesellschaftliche Relevanz mehr.

Die extrem politisierte Rezeption von Loachs Film zeigt, dass I, Daniel Blake den neuralgischen Punkt derzeitiger gesellschaftlicher Debatten zielsicher trifft: Es zeigt sich allenthalben, dass die Austeritätspolitik der Cameron-Regierung gescheitert ist. Soziale Ungleichheiten wurden weiter verschärft, Abstiegsängste geschürt, die dann im Zuge des Brexit-Referendums gegen Minderheiten gewendet und populistisch ausgeschlachtet wurden. Nachdem unter Theresa May ein Ende dieser Politik nicht in Sicht ist, stellt sich tatsächlich die Frage, wie weite Teile der britischen Bevölkerung in den nächsten Jahren und Jahrzehnten über- und miteinander leben sollen.

Gleichzeitig konturieren diese Debatten natürlich ein Rezeptionsproblem: Loachs Film wird fast durchgängig im Modus des Dokumentarischen, als Zustandsbeschreibung, und nicht als dessen künstlerische Interpretation verstanden. Dies ist auch Loachs künstlerischem Ansatz geschuldet, den Peter Bradshaw im Guardian als „doing-without aesthetic“ beschrieben hat. Und nicht zuletzt Loach selbst betonte im Verbund mit seinem Drehbuchschreiber Paul Laverty immer wieder, wie minutiös recherchiert und faktenbasiert das Werk sei. Solch eine Herangehensweise verstellt jedoch den Blick auf eine wichtige Frage: Welchen Beitrag kann Kunst leisten angesichts katastrophaler sozialer Zustände? Gerade im Rückgriff auf diese Frage entfaltet sich möglicherweise das über eine bloße Polemik hinausgehende Potential von Loachs Film. Indem der Film die Selbstaffirmation des Protagonisten im Titel aufnimmt, lässt er Daniel Blake bis zu einem gewissen Grad die Anerkennung zukommen, die die Mehrheitsgesellschaft ihm verweigert. Als Zuschauer/-innen werfen wir sozusagen einen Blick hinter die Kulissen des durchökonomisierten, outgesourcten“, dem Diktat der Statistik unterworfenen Sozialsystems und folgen ein, zwei, drei Individuen auf ihrem Lebens- und auch Leidensweg.

Gleichzeitig gelingt es dem Film, möglicherweise gerade in seiner Kapazität als Kunstwerk, die Möglichkeit der Solidarität zu betonen. Das mögen einige als Romantisierung von Armut begreifen. Man kann es aber auch lesen als Aufrechterhaltung eines Minimums an „agency“ und als Gegenentwurf zur entsolidarisierten Ellbogen-Gesellschaft: Wenn es selbst Daniel Blake noch irgendwie gelingt, anderen zu helfen, warum nicht uns allen? Schönes kann in I, Daniel Blake aus den hässlichsten Umständen erwachsen, ohne diese zu entschuldigen. Denn Loachs Film rutscht im Ganzen eben nicht ins Sentimental-Heroische und Romantisierende ab. Daniel ist kein heldenhafter Widerstandskämpfer und er ist auch kein Vorbild. Er ist lediglich ein Mensch, der sich weigert, bis zur Selbstaufgabe zu buckeln und das letzte Quäntchen Würde und Mitgefühl aufzugeben. Als es ihm während eines Jobcenter-Termins endgültig zu bunt wird, verlässt er wortlos das Gebäude und besprüht die Außenwand mit dem titelgebenden Satz: „I, Daniel Blake demand my appeal date before I starve“. Von umstehenden Passanten wird er für diesen kleinen Akt der Rebellion gefeiert. Ken Loach zeigt uns aber auch, welchen Preis er dafür bezahlt – er wird in Polizeigewahrsam genommen und erhält eine Verwarnung – und dass die Aktion am großen Ganzen natürlich nichts ändert; sehr wahrscheinlich ist die Wand spätestens am nächsten Tag überstrichen. In ähnlicher Weise führt auch kein Weg am (zugegebenermaßen vorhersehbaren) Ende des Films vorbei: Kurz vor der Anhörung und dem wahrscheinlichen Erfolg seines „appeals“ erleidet der mittlerweile völlig heruntergewirtschaftete Daniel eine zweite Herzattacke und stirbt. Er hinterlässt der Nachwelt eine handschriftliche Notiz, in der er Anerkennung fordert: „My name is Daniel Blake, I am a man, not a dog. As such I demand my rights. I demand you treat me with respect. I, Daniel Blake, am a citizen, nothing more, nothing less. Thank you“. Dies sind die letzten Sätze, die im Film gesprochen, und von Katie bei der Beerdigung Daniels vorgetragen werden. Sie enthalten eine Aufforderung, für die es im Hinblick auf Daniel eigentlich schon zu spät ist. Keineswegs zu spät jedoch ist es für all die anderen Daniel Blakes und auch Katies dieser Welt – das scheint Loachs Film uns mitgeben zu wollen.

I, Daniel Blake
Vereinigtes Königreich 2016
Regie: Ken Loach
Drehbuch: Paul Laverty
Darsteller: Dave Johns, Hailey Squires
Länge: 100 Minuten

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

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