Eine Goldmedaille für den Mount Everest

Ein Gespräch mit Leonard Cohens Biografin Sylvie Simmons

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Sylvie Simmons ist eine der weltweit prominentesten Rockmusikjournalistinnen. Seit die Britin in den späten 1970er Jahren als US-Korrespondentin für das Musikmagazin Sounds ihre Karriere begann, hat sie sowohl für zahlreiche namhafte Zeitungen geschrieben, darunter den Guardian, die Times oder den San Francisco Chronicle, als auch für große Musikmagazine wie Rolling Stone oder Mojo (wo sie seit der ersten Ausgabe mitarbeitet). Sie lebte in Los Angeles, London, Paris und seit 2004 in San Francisco.

2012 veröffentlichte sie die weltweit hochgelobte, definitive Biografie Leonard Cohens, I’m You Man, die in mehrere Sprachen übersetzt wurde; die deutsche Ausgabe erschien im gleichen Jahr bei btb. Die jahrelange, ertragreiche Arbeit an dem Buch war nur dank der engen Beziehung möglich, die Sylvie Simmons zu dem kanadischen Musiker entwickelt hat. Auch inspirierte er sie dazu, selbst Musik zu machen; vor drei Jahren veröffentlichte Sylvie Simmons ein wunderbares, von der Kritik gefeiertes Album, auf dem sie ihre leisen Folk-Songs mit einer Mandoline begleitet.

Nicht erst seit Leonard Cohens Tod ist sie eine gefragte Gesprächspartnerin, wenn es um Leben und Werk des Singer-Songwriters geht. Für Literaturkritik.de erklärte sie sich bereit, hauptsächlich über Cohen als Lyriker und Songtexter zu sprechen; ein Thema, das ihr sehr am Herzen liegt und zu dem sie eher selten befragt wird. „Neulich rief mich sogar ein Modemagazin an und wollte über das Comeback des Rollkragenpullovers sprechen“, bemerkt Simmons lachend.

Im Dezember hat Bob Dylan den Nobelpreis für Literatur verliehen bekommen. Es gibt nicht wenige Stimmen, die nach der Verkündung meinten, Leonard Cohen wäre die bessere Alternative gewesen. Wie sehen Sie das?

Erstmal bin ich der Überzeugung, dass dieser Wettbewerbs- und Listenwahn in der Popkultur ein zutiefst männliches Phänomen ist. Als Frau sträube ich mich gegen diese Spielchen, die selbstredend von den meisten Publikationen, für die ich schreibe, gerne gespielt werden. Insofern würde ich hier keinen Wettbewerb zwischen den beiden starten wollen, wer die literarisch besseren Texte geschrieben hat.

Ich würde Ihnen viel lieber eine Geschichte erzählen: Leonard Cohen hat mir einmal von einem für ihn denkwürdigen Treffen mit Bob Dylan berichtet, das ihn jahrelang beschäftigt hat. Sie saßen in einem Pariser Café und Dylan sagte irgendwann, dass er Leonards Hallellujah für einen wunderbaren Song halte und fragte ihn, wie lange er denn daran geschrieben habe. Leonard hatte, wie er mir berichtete, über zehn Jahre für den Text gebraucht, aber das war ihm vor Dylan peinlich, also untertrieb er maßlos und sagte: „Zwei Jahre“. Dylan schaute ihn nur verwundert an und sagte, er habe einige seiner großen Klassiker der 60er Jahre in 15 Minuten auf dem Rücksitz eines Autos während der Fahrt geschrieben. Das hat Leonard sehr schockiert und sicherlich auch Selbstzweifel hinsichtlich seiner äußerst langsamen Arbeitsweise hervorgerufen, aber gleichzeitig zeigt es natürlich, mit wie viel Hingabe er sich seinen Songs gewidmet hat.

Um zurück zum Nobelpreis zu kommen: Leonard hat ja noch gelebt, als bekannt wurde, dass Dylan ihn verliehen bekommen würde. Er kommentierte das nur lapidar mit den Worten: „Das ist, als ob man dem Mount Everest eine Goldmedaille umhängen würde.“ Er fand die Auszeichnung verdient, aber sinnlos.

Wie beurteilen Sie denn Cohen als Lyriker?

Vergleicht man ihn mit Dylan, so halte ich ihn für einen „kompletteren“ Lyriker, gerade weil seine Gedichte und Lieder bestimmte Themen und Motive beinhalten, die sich durch sein gesamtes Werk ziehen. Er hat sozusagen eine eigene lyrische Stimme. Es ist dieses Gebrochene im Verhältnis zur Welt, zu Gott und zu Frauen, das immer wieder in seinen Texten durchdringt. Ich würde es als eine Art Imperfektion bezeichnen, die sich wie ein roter Faden durch sein Werk zieht. Was natürlich auch einen gewissen Widerspruch beinhaltet, da er ja beim Schreiben ein solcher Perfektionist war, wie das eben von mir erwähnte Gespräch mit Dylan zeigt.

Man darf auch nie vergessen, wie lange er gebraucht hat, um als Künstler die Akzeptanz zu bekommen, die er heute genießt – worunter er sehr gelitten hat. In Europa war er ja schon seit den 60er Jahren recht anerkannt, aber in den USA und auch in seiner Heimat Kanada wurde er erst in den späten 1980er Jahren einem breiten Publikum bekannt, als er seinen Sound radikal veränderte und auf dem 88er-Album I’m Your Man mit Drumcomputern und Synthesizern arbeitete. Das hat ihn auf der einen Seite sehr gefreut, denn Leonard war diese Anerkennung seiner Kunst sehr wichtig, andererseits hat ihn die Musikindustrie so ausgelaugt, dass er nach dem Folgealbum The Future beschloss, auszusteigen und der Musik den Rücken zu kehren. Er zog sich ja dann jahrelang in ein Kloster zurück. 

Dabei begann er ja Mitte der 60er Songs zu schreiben, um als Lyiker von einem jugendlichen Publikum erhört zu werden…

Diesem populären Mythos muss ich vehement widersprechen. Und zwar insofern, als es Leonard nicht in erster Linie um Akzeptanz oder Ruhm ging, sondern ganz einfach ums Geld. Er gab das auch ganz offen zu. Sehen Sie, er lebte ja damals in den 60er Jahren als armer Poet auf der griechischen Insel Hydra, und hatte tatsächlich kaum finanzielle Mittel. Er flog hin und wieder nach Kanada, um sich irgendwelche Stipendien abzuholen, von dem Geld lebte er dann ein paar Monate, schrieb seine Bücher, die sich kaum verkauften und flog wieder zurück, um von Förderinstitutionen Geld zu bekommen.

Er merkte schnell, dass man von 2000 verkauften Büchern nicht leben kann und wurde aufmerksam, als er von diesen Leuten hörte, die ihre Songs zu akustischen Gitarren sangen und damit ein Millionenpublikum erreichten. Also versuchte er das auch. Aber es ist wichtig zu erwähnen, dass er nicht einfach seine Gedichte vertonte, sondern sich intensiv mit der Kunst des Songwriting auseinandersetzte; er schrieb wirklich Songtexte, die formal und stilistisch anders waren als seine Gedichte.

Sie kannten Leonard Cohen ja sehr gut. Würden Sie ihn als stark autobiographischen Songwriter bezeichnen, oder glauben Sie, vieles, was er schrieb, hat seine Basis in anderen Büchern? Was mich interessieren würde: War seine Arbeitsweise intertextuell?

Ich würde definitiv sagen, dass seine Texte sein Leben widerspiegeln und seine Erlebnisse und Erfahrungen in lyrischer Sprache verarbeitet haben. Nehmen Sie Suzanne, das ist ja konzipiert wie ein Tagebucheintrag: Der Erzähler beobachtet Suzanne dabei, wie sie ihn verführt, ihm Dinge zeigt und sein Leben beeinflusst. Er war ein sehr persönlicher Songwriter, aber auch ein sehr spiritueller Mensch, und beides wird in seinen Texten zu einem Ganzen verbunden. Aber ja, er schrieb über seine Erfahrungen und verdichtete sie.

Interessierte er sich, bevor er selbst zum Musiker wurde, überhaupt für die Pop-Szene?

Nein, das hat ihn nicht sonderlich interessiert. Er lebte für die Poesie, Pop-Musik war ihm fremd. Natürlich hatte er als junger Mann in Kanada die frühen Rock’n’Roll-Helden mitbekommen, Chuck Berry, Fats Domino, die Namen waren ihm durchaus ein Begriff gewesen, auch der Bob Dylans. Aber es gibt ja unter seinen Biografen beispielsweise einen großen Streitpunkt darüber, ob er Dylan damals in den frühen 60ern in New York getroffen habe, als beide dort waren. Leonard wusste es nicht mehr oder wollte sich nicht erinnern, ich kann es nicht sagen, aber ich glaube eher, dass sie sich erst viel später kennengelernt haben, einfach, weil Cohen aus einer ganz anderen Szene kam und mit jungen Musikern nichts zu tun hatte. Selbst die Beat-Poets waren ihm damals nur ein Begriff, mehr nicht.

Wie kam er denn selbst als Popstar zurecht?

Eher schlecht. Er hasste die endlosen Tourneen, dieses viel gepriesene Rockstar-Leben war nichts für ihn. Und die Industrie hat ihn zermürbt. Deswegen ist er ja auch in den 90ern ausgestiegen, obwohl er da gerade recht erfolgreich war. Aber er war ja schon 60 und wollte sich das nicht länger antun. Doch das Problem fing ja schon viel früher an.

Schauen Sie sich mal den Dokumentarfilm Bird on a Wire an, der Anfang der 1970er Jahre entstand. Da wird er ja bei einem Zusammenbruch während der laufenden Tournee gefilmt. Er fühlte sich immer, wie er mir mehrfach berichtete, als würde er seine Songs Abend für Abend vergewaltigen. Die endlose Wiederholung des Immergleichen raubte ihnen seiner Meinung nach ihre Seele. Umso schlimmer war es für ihn, nachdem sein ganzes Geld von seinem damaligen Management gestohlen worden war, mit über 70 wieder auf Tour zu gehen.

Und doch war es wohl gerade diese Tour, die seine kreative Flamme neu entfacht hat, denn danach veröffentlichte er in schneller Abfolge drei Alben, die teilweise das Niveau seines Frühwerks erreichen…

Sein Spätwerk erreicht ja teilweise das künstlerische Niveau seiner frühen Arbeiten…

Das ist völlig richtig und es war auch für ihn wie eine unerwartete Erweckung seiner kreativen Kräfte. Erst ging er widerwillig auf diese Tour. Ein Promoter hatte ihm sehr viel Geld dafür geboten, seine alten Songs auf der Bühne zu spielen, und er brauchte das Geld dringend. Aber mit jedem Abend wuchs die Lust und die Begeisterung in ihm, und nach der ersten Tour habe ich mit ihm telefoniert und er sagte: „Weißt Du was, ich spüre es wieder, ich möchte wieder Songs schreiben.“

Ich bin ja schon lange im Geschäft und kenne unzählige Rockstars, die einem immer wieder das Gleiche erzählen: Dass sie nach einer Tournee noch so voller Adrenalin stecken, dass sie diese überschüssige Energie, die sie ja nicht mehr auf der Bühne loswerden können, in neue Songs stecken wollen. Und das spürte er, ganz unerwartet für ihn, plötzlich auch.

Waren Sie von seinem plötzlichen Tod überrascht?

Nicht wirklich. Menschen, die ihm nahe standen, wussten, dass es gesundheitliche Probleme gab. Das ist ja auch kein Wunder, wenn man mit 82 Jahren noch immer auf der Bühne steht und um die Welt reist. Er konnte nur noch am Stock gehen, und dazu kamen noch weitere kleinere Dinge, die man im gehobenen Alter eben hat, so kam eins zum anderen.

Wichtiger ist mir aber etwas anderes: Er hat sich sein ganzes Leben lang mit dem Tod befasst, er hat sich intensiv mit Glauben, Religion und mit Gott beschäftigt. Er hat diese spirituellen Erfahrungen und die existenziellen Fragen, die aus dieser Beschäftigung entsprungen sind, jahrzehntelang in seinen Texten verarbeitet. Und schon vor über 20 Jahren, als er sechzig wurde, hat er gesagt: „Ich bin bereit.“ Am Ende seines Lebens ist er, das hat er mir immer wieder berichtet, auch wieder viel in die Synagoge gegangen, hat lange Gespräche mit dem Rabbi geführt und sich intensiv mit der Kabbala beschäftigt. Das hat ihm sehr viel Halt gegeben.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz