Triangulierung des Aufklärungsdiskurses

Ein Sammelband verortet Lessings Aufwertung der Sinnlichkeit zwischen Gegenaufklärung, moderater und radikaler Aufklärung

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit der Ausweitung und Systematisierung der (literatur-)anthropologisch orientierten Forschung zur Aufklärung, die zur Etablierung der Auffassung der sinnlichen Erkenntnis als Vernunftäquivalent (analogon rationis) und der Ästhetik als Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis (scientia cognitionis sensitivae) geführt hat, haben sich in den zurückliegenden Jahrzehnten zwei konträre Perspektiven etabliert. Der erste Deutungsansatz hat die Aufwertung des Körpers und der physischen Natur des Menschen als zentrales Merkmal der Aufklärung wahrgenommen. So hat Panayotis Kondylis 1981 in seinem wegweisenden Buch Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus in den unterschiedlichen philosophischen Strömungen der Aufklärung den gemeinsamen Ansatz einer Aufwertung der (nicht-rationalen) Sinnlichkeit erkannt, die als Fundament der Vernunftentfaltung zur Erschließung des „ganzen“ Menschen anzusehen ist.

Dahingegen glaubt der zweite, am Poststrukturalismus geschulte Ansatz, im 17. und 18. Jahrhundert gerade die Repression der Sinnlichkeit, die Trennung der Sinne vom Körper und den Verlust der ,Ganzheit‘ des Menschen zu erkennen. Nach Ansicht Michel Foucaults ist das, was man als vorbehaltlose Annäherung an die sinnliche Oberfläche der Welt, an das empirisch Erfahrbare versteht, als Ergebnis einer „rigiden Steuerung und Beschränkung des Blicks zum Zweck der rationalen Beherrschung“ zu deuten.

Diese Antithetik der Sichtweisen findet sich auch in der Beurteilung der Texte Lessings, die sich von früh an in einem Wett-Streit mit den philosophischen, theologischen und ethischen Vor-Schriften der Zeit befinden und in unterschiedlicher Weise die poetischen Zugänge zum Sitz der menschlichen Gefühle ausloten: Betrachtet man seine Schriften unter inhaltlichen Aspekten, dann zeigt sich nach Ansicht einiger Forscher in ihnen eine neue Synthese von Sinnlichkeit und Vernunft, die sich in zentralen Denkmustern Lessings (wie „Mitleid“, „anschauende Erkenntnis“, oder „sittliche Empfindung“) wiederfinden; Lessing habe zwar die anthropologische Wende maßgeblich mitgestaltet, ohne jedoch eine ihrer wesentlichen Prämissen, die Radikalität des anthropologischen Optimismus in sein Denken zu integrieren. In diskursanalytischer Perspektive jedoch scheint Lessing eher die Repression der Sinnlichkeit literarisch zu gestalten, da (vor allem) seine Dramen-Figuren einer „Diskursivierung“der Affekte unterliegen, durch die die erotische Leidenschaft als das ,Andere‘’ der Vernunft und der Körper als Fremd-Körper erkannt werden. Unter diesen Deutungsvoraussetzungen lassen sich die Themen „Sinnlichkeit“ und „Sexualität“ nicht mehr mit den moralischen und theologischen Rahmenvorstellungen der Zeit vermitteln.

Die Beiträge des jüngst erschienenen, von Alexander Košenina und Stefanie Stockhorst herausgegebenen Sammelbandes Lessing und die Sinne widmen sich diesem zentralen Forschungsfeld und bieten eine ganze Reihe überraschender und wegweisender Ergebnisse. Dabei nehmen die unterschiedlichen Sondierungen, Systematisierungsversuche und Fallstudien des Bandes ihren Ausgangspunkt von der eigentümlichen Textualität von Lessings Systematisierungsversuchen, die der Dichter selbst einmal treffend als „fermenta cognitionis“ bezeichnet hat. Lessing versteht sich im emphatischen Sinne als ästhetischer Empiriker und criticus, der von der Analyse des Einzelfalles ausgehend induktiv zu den Gesetzen der Kunst vordringt; eine systematische Organisation seiner Abhandlungen hat er in geradezu programmatischer Weise abgelehnt. Nimmt man die von ihm vorgenommene Zuspitzung zwischen „unordentlichen Collectanea“ (so die Selbstanzeige des Laokoons im Vorwort) und der Systempoetik Baumgarten’scher Prägung als gültige methodische Selbstbeschreibung ernst, wird man in Lessing den Vorläufer einer Poetik des Fragments und der progressiven Theoriebildung sehen, wie sie sich in der Frühromantik ausgebildet hat. Sinnliche und rationale Überlegungen fließen mitunter unentwirrbar verwirrend ineinander und erwecken den Eindruck einer gewissen Paradoxalität. Ästhetische Überlegungen finden sich bei ihm nicht nur in den genuin literarischen Texte, sondern auch in ,Rettungen‘, Rezensionen, Briefen, Fragmenten, Streitschriften und in den – leider weiterhin viel zu wenig beachteten – Collectaneen, „wobei er stets“, wie die Herausgeber in ihrem Vorwort zu Recht hervorheben, „ausgewählte argumentative Schlaglichter setzt, um bestehende Positionen, die ihm relevant erscheinen, zu überprüfen und durch polemische Revisionen und Provokationen den kritischen Diskurs einer bürgerlichen Öffentlichkeit zu befeuern“.

Kevin F. Hilliard liest in seinem Grundsatzbeitrag Lessing über die Sinnlichkeit des Dichters erkenntnistheoretische Überlegungen zu den Sinnen zum einen in Bezug auf physikalische, metaphysische und ,ästhetische’ Welterkenntnis, zum anderen in Bezug auf die anthropologisch-geschichtliche Kulturentwicklung; er kommt zu dem Ergebnis, dass in der Frage nach der Natur- und Welterkenntnis ein scheinbar zuversichtlicher Lessing begegnet, der angesichts der philosophischen und naturwissenschaftlichen Entwicklungen der Neuzeit einerseits, im Bewusstsein einer kulturgeschichtlichen Überlegenheit des Geistes über das Sinnliche andererseits, „alle skeptischen Zweifel entkräftet zu haben scheint“. Bei näherem Hinsehen lasse sich jedoch „dieser Eindruck höchstens für die Frühzeit des Naturwissenschaftsenthusiasmus aufrechterhalten“. Später mache sich zwischen den Zeilen vielmehr „eine verstörende Skepsis bemerkbar, die Lessing offenbar nur durch die Hoffnung auf eine jenseitige Fortsetzung der Wahrheitssuche beschwichtigen konnte“.

Ursula Goldenbaum, die sich in den letzten Jahren mit einigen interessanten Arbeiten zum historisch-intellektuellen Umfeld Lessings ausgezeichnet hat, untersucht in ihrem Beitrag  eine weitere wichtige Konstellation der ,Streitkultur‘ Lessings. Einen blinden Fleck der Lessing-Forschung aufgreifend, gelingt es ihr zu zeigen, dass im Zentrum Lessing’scher Kritik fast immer die Hallenser Pietisten und ihre Verbündeten standen (Samuel Gotthold Lange, Georg Friedrich Meier, Johann Joachim Winckelmann, Johann Melchior Goeze und Johann Salomo Semler) sowie ihre geistigen Kombattanten Johann Andreas Cramer und Friedrich Gottlieb Klopstock, Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger, Christoph Martin Wieland und am Ende Christian Adolph Klotz. Umgekehrt waren es Anhänger der leibniz-wolffianischen Philosophie (Abraham Gotthelf Kästner, Christlob Mylius und durch diesen Mendelssohn und Nicolai), die Lessings lebenslange Freunde und Mitstreiter wurden.

Signifikant ist, dass Lessings Aufwertung der Sinnlichkeit eng mit dem letztgenannten Personenkreis verbunden ist: Mit Nicolai entdeckte er die Du Bos’sche Forderung der Erregung der Leidenschaften als Aufgabe der Kunst (vgl. hierzu auch den Beitrag von Elisabeth Décultot), mit Mendelssohn studierte er Spinozas Affektenlehre; er begleitete die Ausarbeitung von Mendelssohns Theorie der gemischten Empfindungen (in kritischer Beschäftigung mit Hume und Sulzer) und wählte sie zum Ansatz seiner ästhetischen und theatralischen Arbeiten – der gemeinsame Briefwechsel mit Nicolai und Mendelssohn zeugt von der Intensität ihrer philosophisch-ästhetischen Diskussionen über die Engführung von Sinnlichkeit und Vernunft.

Goldenbaum nun gelingt es eindrücklich, die Einflusslinien schärfer als bisher geschehen zu konturieren, indem sie eine kritische Darstellung der ,Empfindungsästhetiker‘ vornimmt, der ,Hallenser‘ Fraktion um Cramer und Klopstock in Kopenhagen, Baumgarten, Meier, Pyra und Lange in Halle bis hin zu Bodmer, Breitinger und Wieland in Zürich. „Ihnen allen“, so Goldenbaum, „wird oft das Verdienst einer Aufwertung der Sinnlichkeit gegen den einseitigen Rationalismus der Wolffianer ausgesprochen, wobei sie als Zwischenschritt von Wolff zu Mendelssohn gesehen werden. Dabei werden sie mit alternativen Versuchen einer Aufwertung der Sinnlichkeit, wie sie durch Nicolai, Lessing und Mendelssohn geleistet wurde, unkritisch zusammengeworfen.“ Dagegen kann Goldenbaum zeigen, dass Lessing dieser Empfindungsästhetik kritisch gegenüberstand und ihre Wurzeln in einer Aufwertung pietistischer Religiosität erkannte, gegen die er in diversen Federkriegen zu Felde gezogen ist. Den ,Empfindungsästhetikern‘ in Kopenhagen, Halle und Zürich sei es gerade nicht um eine Aufwertung der sinnlichen Leidenschaften gegangen, sondern vielmehr jener Gefühle und Empfindungen, die sich ausschließlich aus dem Vokabular der christlichen Religion speisten. Diese Aufwertung des religiösen Gefühls diente nach Ansicht Goldenbaums vor allem der Begrenzung der Vernunft, ein Ziel, das die Trias Lessing, Mendelssohn und Nicolai genauso zu vermeiden suchte wie eine Diskursivierung der unkontrollierbaren, zerstörerischen Wollust aus der Feder radikaler Aufklärer französischer Provenienz.

Die französische Radikalaufklärung nimmt Monika Fick auf sehr anschauliche Weise am Beispiel von Lessings Auseinandersetzung mit dem französischen Arzt und Philosophen Julien Offray de La Mettrie, einem Mitglied der Tafelrunde Friedrichs II., in den Blick ( vgl. hierzu auch den Beitrag von Stefanie Stockhorst, die Lessings Fragment Aus einem Gedichte über die menschliche Glückseligkeit im Zusammenhang der Lessing-La Mettrie-Konstellation liest). Dabei gelingt es ihr zu zeigen, dass Lessing in seinen frühen Schriften (frühe Literaturkritik, Lyrik) und in seiner polemischen Bewertung von La Mettries pornographischer Skandalschrift L’art de jouir (1751) durchaus Schwierigkeiten hatte, „unschuldige und unsaubere Wollust, sinnliche Liebe und wahre Liebe trennscharf voneinander abzugrenzen“, da diese fließenden Übergänge ihn vor ein Problem gestellt hätten.

Dieses Problem, so ließen sich die wichtigen und wegweisenden Erkenntnisse Ficks ergänzen, könnte darin liegen, dass Lessings Texte als Zeugnisse moderater Aufklärung überwiegend entlang der binären Organisation der klassischen abendländischen Episteme gelesen werden, in der die ,Figur des Dritten‘ regulär nur in der Verbindung zweier Opponenten zu einer höheren Einheit (,Synthese’) gedacht wird. In diesem Sinne stellen metaphysische Systeme die Einheit der Welt sicher, indem sie in ihren begrifflichen Dualitäten einen Term priorisieren: etwa den Geist, der seinen Gegensatz, die Materie, einschließt, oder die Vernunft, die ihren Gegensatz, die Sinnlichkeit, umgreift, und so die Welt davor bewahrt, in zwei unversöhnlich einander gegenüberstehende Gegenkräfte zu zerfallen.

Auch wenn Lessing nicht jenem Idealbild des Aufklärers entspricht, das der Historiker Robert Darnton für dessen französische Zeitgenossen entworfen hat, die bei ihm als radikale Religionskritiker und Freigeister, stilbewusste Literaten und mondäne Philosophen erscheinen, schreiben sich Lessings Denkexperimente zu Lust und Leidenschaft gleichwohl in die Auseinandersetzung zwischen Gegenaufklärung, radikaler und moderater Aufklärung ein, die in jüngster Zeit als Leit-Differenz der Zeit herausgearbeitet wurde. Dabei entdeckt man – bei allen gravierenden Unterschieden – durchaus interessante Verbindungslinien zur französischen intellektuellen ,Avantgarde‘, sodass zu fragen wäre, inwieweit Lessings Schreibweisen von Körperlichkeit, Sinnlichkeit und Textualität im Hinblick auf geltende religiöse und gesellschaftliche Normen in subtiler Weise nicht in manchen Punkten ebenso subversiv sind wie die Schriften der radikalen Aufklärung. So ließen sich die Rettungen des Horaz (1754) – in ihrem von Monika Fick richtig erkannten Gegenwartsbezug innerhalb der Auseinandersetzung mit La Mettrie – innerhalb dieser von Carl Niekerk so genannten „Triangulierung des Aufklärungsdiskurses“ verorten.

Erkennbar wird, dass sich Lessing zwar ebenso wie die radikalen Vertreter der Zunft auf dem neuentdeckten Feld der Sinnlichkeit tummelt, im Unterschied zu den libertins der französischen Aufklärung die „Rehabilitation der Sinnlichkeit“ aber dadurch perspektiviert, dass er ein ,tertium‘ sucht, indem er die Sinnlichkeit in das Konzept einer ,natürlichen Religion‘ integriert und den poetischen Ausdruck des sexuellen Begehrens im Kontext der Autonomie der Dichtung diskutiert. Nicht im Sinne eines Entweder-oder, sondern im Sinne eines Sowohl-als-auch; auffällig ist, dass die immer wieder angenommene Aufspaltung der Episteme der Aufklärung in eine gelehrt-wissenschaftliche Welt der intensiv analytisch-diskursiven Deutlichkeit einerseits und eine ästhetische Welt der extensiv-sinnlichen Klarheit andererseits bei Lessing nicht vorliegt – Aisthesis und Noesis werden stets miteinander enggeführt (vgl. hierzu auch die treffende Bemerkung John A. McCarthy in seinem Beitrag: „Dem Denker Lessing waren […] Räsonieren und Erfinden, Schaffen und Betrachten, Denken und Empfinden keine von einander ablösbaren Binaritäten; sie waren komplementär“). Weiterführende Ansätze hierzu bietet Fick, indem sie an Lessings bürgerlichem Trauerspiel Miß Sara Sampson zeigt, „wie Lessing dasjenige, was beim diskursiven Vergleich von Liebe und Wollust unentwirrbar verwirrend ineinanderfließt, auf der Bühne zu einer anschauenden Erkenntnis und lebensweltlichen Lösung bringt“.

Carl Niekerk kommt das große Verdienst zu, Lessing aus der einseitigen Rubrizierung als ,moderater Aufklärer‘ befreit zu haben, indem er deutlich macht, dass sich Lessings Texte, vor allem seine Familiendramen Miß Sara Sampson und Emilia Galotti, an der Auseinandersetzung zwischen radikaler und moderater Aufklärung beteiligt haben, wie sie in der neuesten Forschung zum 18. Jahrhundert von Jonathan Israel als leitende Differenz der Epoche herausgearbeitet wurde.

Am Beispiel La Mettries, Diderots, aber vor allem Spinozas mit seiner von einem konsequenten Historismus geprägten Religionskritik, seiner Privilegierung des Körpers über den Geist in seiner monistischen Theorie menschlicher Subjektivität wird deutlich, dass sich Lessings intellektueller Werdegang mehrfach mit den intellektuellen Zeugnissen der Radikalaufklärung überschneidet. Konsequenterweise nimmt Niekerk in seinem Beitrag in den Blick, „wie in Lessings Werken radikale und moderate Impulse aufeinander treffen und diese Impulse in seinen Texten auf ihre gesellschaftliche und politische Tauglichkeit hin überprüft werden“. So sei etwa die spezifische Radikalität von Miß Sara Sampson in der Forschung nicht ausreichend gewürdigt worden. „Zur Radikalität von Lessings Text gehört, dass über die Insistenz auf Körperlichkeit und Affekt auch die Ethik in der autonomen Subjektivität, im Gefühl und deshalb jenseits von kodifizierten Gesetzen, Sitten und Normen fundiert wird.“

Erkennbar wird, dass neben den kritischen Schriften auch die Dramen „nicht nur einen Konflikt zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung [inszenieren], sondern auch die Dynamik, die zwischen radikaler und moderater Aufklärung existiert“. In diesem Sinne kann nicht länger angenommen werden, dass Lessing mit einem dualistischen, sondern vielmehr mit einem triadischen Aufklärungsmodell arbeitet. Diese fundamentale Erkenntnis sollte in den nächsten Jahren auch zu einer ,Dynamisierung‘ der Lessing-Forschung führen.

Thomas Martinec unterstreicht in seinem Beitrag, Lessings Überlegungen zu Literatur und Kunst (im Trauerspiel-Briefwechsel, im Laokoon und in der Hamburgischen Dramaturgie) hätten darin ihren Ansatz, dass „man sich in ästhetischen Fragen zuallererst über die Wirkung des Kunstwerks auf die sinnliche Wahrnehmung des Betrachters zu nähern habe“. Dem begegnet Martinec in seinem Untersuchungsweg von Lessings Tragödien- und Fabelpoetik zum Laokoon auf zweifache Weise: Im Bereich der Epistemologie gehe es darum zu klären, wie die sensitiven Erkenntniskräfte des Betrachters auf ein Kunstwerk reagieren würden und welche Konsequenzen daraus für dessen moralischen Zweck zu ziehen seien; im Bereich der Anthropologie werde untersucht, mit welcher Art von sinnlichen Eindrücken die Seele durch den Körper versorgt werde:

Durch Lessings intensive Auseinandersetzung mit der Wirkung von Tragödie und Fabel auf die sensitive Erkenntniskraft des Zuschauers bzw. Lesers wurde die epistemologische Grundlage geschaffen, auf der sich Lessing dann im Laokoon mit den Sinnesorganen befasst, durch die dem sensitiven Teil der Seele sinnlich strukturierte Gegenstände zugeführt werden.

Während Lessings Erkenntnisse zu Tragödie und Fabel sich als epistemologische Basis für den Laokoon erweisen, lässt sich dieser als anthropologische Erweiterung der Tragödien- und Fabelpoetik lesen. „Der Vergleich von Künsten, deren Wirkung auf unterschiedlichen Zeichensystemen basiert, ruft die Sinnesorgane Auge und Ohr auf den Plan, damit die Täuschung der betrachtenden Seele auf ihre Voraussetzung hin befragt werden kann.“

Der Umstand, dass Lessings Sensualismus stets auf den ganzen Menschen gerichtet ist, wird auch durch den Beitrag von Beate Allert  unterstrichen, die Lessing noch stärker als bisher geschehen in den Visualitätsdiskurs des 18. Jahrhunderts integriert. Wie kein anderer Autor zuvor betone er die Bedeutung der Imagination für die Bildlichkeit der Darstellung in der Poesie und stelle sie als entscheidendes Kriterium für gelungene Dichtung und lebendige Sprache heraus. In der Laokoon-Debatte, die in den letzten Jahren durch die Positionen Wellberys und Vollhardts geprägt wurde, nimmt Allert eine Leerstelle wahr:

Was in dieser Diskussion bisher von beiden Seiten ausgeklammert wurde, sind Lessings hervorragende Überlegungen zur Poesie, die nämlich nach seinem Verständnis sowohl von der Malerei mit ihrer primären Dimension ,Raum‘ als auch von der Musik mit ihrer primären Dimension ,Zeit‘ Anleihen macht und mit Ironie, Witz und anderen rhetorischen Kunstgriffen metaphorische Überschneidungen oder die Doppelbödigkeit der Sprache reflektiert.

Allert gelingt es zu zeigen, dass beide Dimensionen – Raum (Malerei) und Zeit (Musik) – von Lessing in seiner Ästhetik jeweils berücksichtigt werden und die „Idee poetisch-zeitlicher Bilder“ eine wichtige Rolle im Laokoon spielt. Auch für Alexander Košenina sind Hören und Sehen als privilegierte Theatersinne anzusehen, die in Lessings Dramen vielfältig zum Ausdruck gelangen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Lessings Theater „Augenbühne und Hörbuch für die Sinne des mitleidigsten Menschen [kombiniert], der so leichter zu jenen dramatisierten Gedanken durchdringt, die ihn auch zum besten Menschen machen.“

Zweifellos werden die vielfältigen Erkenntnisse dieses sehr lesenswerten Bandes die Lessing-Philologie der nächsten Jahre in vielfältiger Hinsicht befruchten.

Titelbild

Alexander Košenina / Stefanie Stockhorst (Hg.): Lessing und die Sinne.
Wehrhahn Verlag, Laatzen 2016.
234 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783865254993

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