Entdeckung – Echtheit – Eigenart – Gemeinschaft

Peter Raedts über die Konstruktion des Mittelalters in der Moderne

Von Jelko PetersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jelko Peters

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Titel lässt Schlimmes vermuten. Liegt mit dem im Klappentext als „Magnum Opus“ angekündigten Die Entdeckung des Mittelalters. Geschichte einer Illusion von Peter Raedts eine weitere Abhandlung vor, die von Phantomzeiten und einem erfundenen Mittelalter spricht und als Verschwörungstheorie allenfalls unterhaltsam, aber mit keiner Zeile wissenschaftlich zu nennen ist? Sowohl der Werdegang Raedts, der als Professor für mittelalterliche Geschichte an der Universität von Nijmegen lehrt, als auch der renommierte Verlag Philipp von Zabern, welcher die von Klaus Jöken und Stefanie Schäfer besorgte Übersetzung aus dem Niederländischen veröffentlichte, sprechen gegen diese Annahme. Und tatsächlich gelingt es Raedts mit der Entdeckung des Mittelalters nicht nur ein mediävistisches, sondern ein gesellschaftliches, kulturelles, historisches und germanistisches bedeutsames Thema inhaltlich umfassend, intellektuell beeindruckend und zugleich lesbar darzustellen.

Einleitend stellt Raedts fest, dass die existierenden Geschichten über das Mittelalter den Anforderungen der Gegenwart nicht mehr gerecht werden. Die Mediävisten könnten die gesellschaftliche Relevanz ihrer Forschungen nicht hinreichend darlegen; ihnen gelinge es nicht, zu begründen, warum etwa mehr Wissen über die Kreuzzüge helfen könnte, die Konflikte zwischen der islamischen und westlichen Welt zu verstehen. Auch die aus dieser Not erwachsene Strategie und Argumentation, dass gerade die Alterität des Mittelalters den Reiz dieser Epoche ausmache und man durch das Andere, das Nichtmoderne seine eigene moderne Identität ausschärfen könne, funktioniere nicht mehr, da man zunehmend begonnen habe, an der „Vitalität“ der „eigenen Kultur zu zweifeln“.

Der mediävistischen Forschung fehle eine gesellschaftliche Legitimation, solange sie die Frage nicht beantwortet, warum man sich mit dem Mittelalter und seiner Geschichte beschäftigen solle. Bedingt durch die Postmoderne, stellt Raedts heraus, hätte man sich zu sehr auf die fragmentarische Produktion von Wissen beschränkt und dabei zu wenig das Bedürfnis der Menschen berücksichtigt, die „in der Vergangenheit nach Sinn, Bedeutung, Zusammenhang und Deutungen“ suchten, und daher eine „große Geschichte“ wünschten. Nach Raedts könne die „mittelalterliche Vergangenheit bei der Reflexion Europas über seine Kultur“ dann ein wesentliches Fundament bieten, wenn die Mediävistik versucht, „das Mittelalter innerhalb der weiter gefassten Geschichte der westlichen Kultur wieder zur Sprache zu bringen.“

Aus diesem Anliegen ergeben sich die beiden Forschungsfragen Raedts, der nach den Gründen sucht, warum man in der Vergangenheit so tat, „als hätte es seit dem Mittelalter nie einen Bruch in der Entwicklung gegeben“. Des Weiteren untersucht er, warum – im Unterschied zur Antike – die „Konstruktion des Mittelalters immer umstritten blieb“.

Durch seine Darstellung der Narrationen des langen 19. Jahrhunderts über das Mittelalter entfaltet er in Konfrontation mit dem zeitgenössischen Bild der Antike das breite Feld der gotischen und klassizistischen Betrachtungsweisen auf die europäische Vergangenheit, die in den Dichotomien von Gefühl und Vernunft, Nationalismus und Kosmopolitismus, Partikularismus und Universalismus, Tradition und Moderne, Individuum und Gemeinschaft sichtbar wird.

Seine eigene „große Geschichte“ von der Entdeckung des Mittelalters beginnt Raedts mit den Humanisten, die zwar die 1000 Jahren zwischen ihnen und der Antike als dunkle Zeiten dem Vergessen anheim fallenlassen wollten, aber doch auf die mittelalterlichen Dokumente zurückgreifen mussten, um etwa die Geschichte der Engländer, Franzosen oder Deutschen erzählen zu können, über die die antiken Quellen freilich schwiegen. Das Studium des Mittelalters stand demnach von Anfang an im Zeichen des Partikularismus, da durch die Erzählungen die Unterschiede zwischen den Völkern hervorgehoben werden sollten, während die antike Kultur die gebildeten Bürger Europas miteinander verband.

Anhand repräsentativer deutscher, französischer und englischer Darstellungen zum Mittelalter seit der Aufklärung analysiert Raedts, wie man in diesen Deutungen der mittelalterlichen Vergangenheit durch die „Entdeckung“ des Mittelalters zugleich die „Echtheit“ und „Eigenart“ der Völker zu begründen versuchte. Das Mittelalter, so Raedts, wurde vor allem durch Johann Gottfried Herder „zum Vorbild für die Gestaltung der Nation erhoben“, da nur in dieser Epoche jedes Volk erkennen konnte, „was es im Grunde war und werden sollte“. Deutsche, französische und englische Aufklärer und Liberale entdeckten zudem im Mittelalter passend für ihre Nation die Basis etwa für die bürgerliche Freiheit, eine starke Staatsgewalt und einen nationalen Freiheitsdrang. Die Deutungen des Mittelalters fungierten somit als bedeutsame Elemente im jeweiligen Nation-Buildung-Prozess. Nach der Revolution von 1848 und den Forschungen Jacob Burckhardts zur Renaissance nahmen sich vor allem die Katholiken, Sozialisten und Nationalisten des Mittelalters an, die in der vermeintlich authentischen „Gemeinschaft“ des mittelalterlichen Dorfes das positive Gegenstück zur rationalen und individualistischen „Gesellschaft“ der modernen Stadt konstruierten. Raedts beschreibt in diesem Kontext beginnend mit Herder eine kontinuierliche Entwicklung eines Ideals vom Mittelalter, welches von enger und geschlossener Gemeinschaft und einem starken Glauben geprägt ist, als eine „Zeit der Kindlichkeit und Abhängigkeit, des Gehorsams, der Opfersinns und der Disziplin“. Dieses Ideal nutzten auch über die Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs hinaus linke und rechte Agitatoren und Politiker, um die Gemeinschaft über das Individuum und den Gehorsam über die Verantwortung und den Instinkt und Trieb über den kritischen Verstand zu stellen.

Abschließend stellt Raedts Möglichkeiten für einen gegenwärtigen Umgang mit der mittelalterlichen Geschichte vor. Dazu gehört der Vorschlag einer neuen Periodisierung, nach der die Antike bis zum Jahr 1000 andauere, das Mittelalter sich von 1000 bis 1800 erstrecke und dann die Neuzeit beginne. Des Weiteren besteht für ihn der Sinn eines Mittelalterstudiums darin, die Konfrontation zwischen unserer Macht und der Machtlosigkeit des Menschen des Mittelalters zu untersuchen. Das Mittelalter könne unserer Gegenwart einen Spiegel vorhalten, wenn es uns an die Zeiten großer Unsicherheit erinnert, in denen nichts selbstverständlich war, und uns so unsere „Grenzen der Macht vor Augen führen“, wenn wir die „unsicheren, tastenden Anfänge in unserem kollektiven Gedächtnis lebendig halten.“

Insgesamt setzt Raedts die Forderung, dass die Historiker sinnbildende „große Geschichten“ erzählen sollen, gekonnt und grandios um. Dazu rückt er zu seinen jeweiligen inhaltlichen Aspekten einen repräsentativen Forscher ins Zentrum seiner Ausführung. Durch diese Personenorientierung wird seine Narration verständlich, allerdings teilweise auch zu distanzlos, da nicht immer durch indirekte Rede zwischen der Wiedergabe einer historischen Position und dem Urteil Raedts unterschieden wird. Nichtsdestoweniger ist aufgrund der inhaltlichen Breite und Tiefe sowie seiner Urteilsfreudigkeit Die Entdeckung des Mittelalters zu Recht als Magnum Opus zu bezeichnen, das sowohl von den Wissenschaftlern als auch von einem breiteren Publikum mit großem Gewinn gelesen werden kann. Unabhängig davon, ob man Raedts Vorschlägen etwa für eine neue Periodisierung oder für eine neue Betrachtungsweise einer Geschichte des Mittelalters zustimmt, wird jeder Leser angesichts der disparaten Perspektiven auf das Mittelalter im 19. Jahrhundert und den dazugehörigen gesellschaftlichen und politischen Intentionen und Implikationen dazu aufgefordert, sein persönliches Mittelalterbild zu hinterfragen und sich bewusst zu machen, welcher großen Erzählung vom Mittelalter er nachhängen und welches Bild von dieser Zeit er vermitteln will.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Peter Raedts: Die Entdeckung des Mittelalters. Geschichte einer Illusion.
Verlag Philipp von Zabern, Mainz 2016.
431 Seiten, 49,95 EUR.
ISBN-13: 9783805349765

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