Verloren im ‚Datendschungel‘ des Mittelalters?

Christian Kiening beschreibt auf 468 Seiten ‚Fülle und Mangel‘ mittelalterlicher Medialität

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Medien und Medialität sind zwischenzeitig so allgegenwärtig, dass eine Welt ohne mediale Vermittlung kaum mehr vorstellbar, ja womöglich nicht einmal mehr lebenswert erscheint. Wenn derlei Aspekte dieser (Post-)Moderne der Vergangenheit gegenüber als Unterscheidungsmerkmal angeführt werden, erscheint die Präsenz medialer Vermittlungsphänomene und -probleme in der Vormoderne und sogar im Mittelalter kaum vorstellbar. Christian Kiening macht sich in seinem lesenswerten Buch daran, diese Vorstellungen zu korrigieren und ‚Medialität im Mittelalter‘ vorzustellen.

In zehn Kapiteln (‚Einleitung‘, Modell‘, ‚Präsenz‘, Wort‘, ‚Schrift‘, ‚Körper‘, ‚Materialität‘, Zeitenraum‘, ‚Metonymie‘ und schließlich ‚Ausblick‘) wird die mittelalterliche Wissensvermittlung beziehungsweise -sicherung dargelegt. Dies erfolgt unter dem stichhaltigen Dualismus zwischen ‚Fülle‘ und ‚Mangel‘, denn diese machen „den Grundzug aller medialen Formen aus“, so der Text des Schutzumschlags. Christian Kiening arbeitet dabei im Grundsätzlichen auf der Basis einer durch Quellenbelege gestützten stringenten Argumentationsfolge den auf den ersten Blick widersprüchlichen Antagonismus zwischen eben Fülle und Mangel auf. Über die Zeiten hinweg gilt, dass Medialität zwar einerseits tatsächlich mehr bewahrt als das bloße Gedächtnisleistung vermöchte, andererseits aber dabei die Gefahr besteht, dass diese Codifizierung allein schon durch – bewusste oder unbewusste – Interpretation die ‚wirkliche‘ Realität zu verzerren vermag.

Die Anwendung dieser allgemeinen These auf mittelalterliche Verhältnisse erscheint zunächst überraschend; die Vorstellung von ‚Medialität‘ als einem Phänomen der Gegenwart oder bestenfalls jüngeren Vergangenheit wurde ja bereits angesprochen. Sie wird jedoch nicht nur durch eben diese grundsätzliche Problematik medialer Bewahrungsmechanismen, sondern insbesondere dadurch möglich und stringent, dass das Moment des Göttlichen oder besser gesagt Religiösen ein Kernelement mittelalterlicher Vermittlung und Bewahrung ist. Hier ist ein Filter gegeben, der so in der postaufklärerischen (Medien-)Wirklichkeit nicht mehr existiert.

Damit wird ein anregender Lesepfad eingeleitet, auf dem der Autor, Bezug nehmend auf kirchliche Texte aber auch begleitende Abbildungen, die Präsenz des Göttlichen in mittelalterlichen Medien thematisiert und problematisiert. Dass das Nichtfassbare letztlich auch nicht dargestellt werden kann, macht eine entsprechende ‚Bewahrung‘ eigentlich unmöglich, das Transzendentale zu erfassen und festzuhalten scheitert an seiner grundsätzlichen Beschaffenheit, die eben nicht festzuhalten ist. Genau das aber ist das gesamte Mittelalter hindurch immer wieder versucht worden – und musste dementsprechend scheitern oder konnte wenn, dann nur unzureichende Ergebnisse zeitigen. Dies gilt, wie der Autor nachweist für das Mittelalter und auch noch die Frühe Neuzeit. Christian Kiening versteht es, den berühmten ‚roten Faden‘ auch bei der Betrachtung größerer Zeiträume nicht zu verlieren und kontinuierliche Parameter mittelalterlicher Medialität im Blick zu behalten, die eben in der reziproken Koexistenz von ‚Fülle und Mangel bestehen.

Trotz dieses heute wie damals eigentlich nicht aufzulösenden Paradoxons wurden immer wieder Versuche unternommen, das Unmögliche umzusetzen. Dies geschah in Wort und Bild, durch die man sich dem Kern anzunähern suchte, ohne ihn erreichen zu können. Möglicherweise jedoch, auch das scheint mir anhand der Argumentation Kienings durchaus abzuleiten, hat das Unmögliche eher dazu angeregt, noch größere Anstrengungen zu unternehmen. Gerade auch die bildliche Ausgestaltung von Texten, aber auch Kirchengebäuden, wie den im Buch thematisierten Reliquiaren und Kruzifixen, diente dem Zweck, sich dem Göttlichen zu nähern und sich seiner Gegenwart zu versichern, womit der Mangel an direkter Gottesschau ausgefüllt werden konnte.

In diesem also Kontext „ist der Anblick der sinnlichen Pracht geeignet, die äußeren Sinne anzusprechen und gleichzeitig auf die inneren hinzuführen.“ Damit wird der grundlegende Ansatz der Theologie Sugers von St. Denis (frühes 12. Jahrhundert) paraphrasiert – und dann entsprechend den Vorstellungen des Abtes erweitert. Rückgriffe wie diese ermöglichen es dem Leserkreis, anhand der zitierten Textpassagen aus den entsprechenden Quellen zumindest mittelbar in die mittelalterliche Vorstellungswelt einzudringen. Darstellungen und Quellen, die vom Frühen Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit reichen, liefern eine entsprechende Zugangsbasis, die den hohen Reiz von ‚Fülle und Mangel‘ ausmacht.

Das Buch ist zweifellos spannend und eine anregende Lektüre. Mitunter jedoch tun sich in sprachlicher Hinsicht unerwartete (und auch unnötige) Hürden auf. So werden geneigte Leserinnen und Leser immer wieder einmal mit reichlich überfrachteten syntaktischen Konstruktionen konfrontiert. Ein signifikantes Beispiel hierfür bieten etwa die einleitenden Formulierungen zum zweiten Hauptteil, ‚Modell‘: „Die Mangelstruktur medialer Formen lässt sich, von den Extremen her gedacht, in zweifacher Weise aufheben: indem sich die Vermittlung aufgrund einer direkten Präsenz des Unmittelbaren erübrigt oder indem das Vermittelnde keinen Unterschied zum Vermittelten aufweist.“ Das liest sich zunächst beeindruckend und passt sich damit auf vermutlich ungewollte Weise in die Kernthese des Buches ein, die ja den problematischen Antagonismus von ‚Fülle‘ und ‚Mangel‘ zum Thema hat. Denn nur scheinbar werden hier Basisinformationen gegeben; im Gegenteil ist der Versuch erkennbar, allgemeine Phänomene, die in einer nicht per se ungestört gegebenen Vermittelbarkeit von Inhalten begründet liegen, durch einige Metaschleifen zu erklären. Diese ‚Erklärung‘ hilft jedoch nicht wirklich weiter, da sie in hohem Maße selbstreferentiell und recht inhaltsleer ist.

Der wissenschaftliche Duktus erschwert an dieser Stelle lediglich den Zugang zum Gemeinten beziehungsweise verdeckt die vage Allgemeingültigkeit der getroffenen Aussage. Das ist allein schon deshalb ärgerlich, weil der Autor an vielen weiteren Stellen beweist, dass es auch anders geht. Dabei ist ein solcher Duktus auch vollkommen unnötig, weil die ‚Medialität im Mittelalter‘ so breit und dennoch fundiert angelegt ist, ohne derlei stilistischer Pirouetten zu bedürfen. Glücklicherweise überwiegt der flüssig und lesefreundlich gehaltene Schreibstil bei weitem.

Damit ist eigentlich das Wesentliche schon gesagt: ‚Fülle und Mangel‘ ist – trotz mancher sprachlicher ‚Hyperventilation‘ – inhaltlich lesenswert, ermöglicht über detaillierte Beispiele auch einen Gesamtblick und stellt somit eine wesentliche Ergänzung für jede mediävistische Bibliothek dar. ‚Fülle und Mangel‘ ist ein schönes, haptisch ansprechendes Buch, dessen Quartformat angenehm in der Hand liegt, was den Lesegenuss definitiv nicht nur am Schreibtisch sichert. Diesen fördern neben einem umfangreichen Literaturverzeichnis und einem nützlichen Registerteil auch die insgesamt vierzig Abbildungen. Hier zeigt sich freilich die Kehrseite der soeben gelobten Handlichkeit, denn da die Bilder in den Text eingearbeitet sind, es also keinen separaten Tafelteil gibt, verlieren sich manche Details doch etwas. Schön wäre es natürlich auch gewesen, wenn die Bilder als Farbdrucke vorlägen – das allerdings hieße wohl angesichts des wirklich günstigen Preises den Bogen überspannen!

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Christian Kiening: Fülle und Mangel. Medialität im Mittelalter.
Chronos Verlag, Zürich 2016.
468 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783034013543

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch