„Wie alles auf dieser Welt sind auch die Tropengewitter flüchtig in ihrer Ewigkeit“

Der kolumbianische Autor Tomás González erzählt von einem unlösbaren Vater-Sohn-Konflikt

Von Martina KopfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martina Kopf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bestimmte Orte scheinen für die Eskalation zwischenmenschlicher Konflikte wie geschaffen zu sein, sie werden dann regelrecht zu einem Katalysator. Wenn es im Gebirge oder über dem Meer „gewittert“, dann umso heftiger und gefährlicher. Bereits zu Beginn von Tomás González’ Roman Was das Meer ihnen vorschlug liegt das aufziehende Gewitter in der Luft: Es ist vier Uhr nachts an der kolumbianischen Karibikküste und ein Blitz, der seine Fangarme am Horizont ausstreckt, scheint nicht nur ein meteorologisches Drama anzukündigen. Er kündigt auch die Eskalation einer hasserfüllten Vater-Sohn-Beziehung an, auf hoher See, inmitten eines Tropengewitters.

Bald werden die zwei Brüder Javier und Mario mit ihrem Vater zum Fischfang aufbrechen. Gemeinsam führen sie ein kleines Strandhotel mit einfachen „Cabañas“, versorgen die Gäste mit Fischgerichten und Kochbananen. Das Verhältnis zwischen Vater und Söhnen ist allerdings seit Jahren zerrüttet und was bleibt, ist gegenseitiger Hass. Der chauvinistische Vater betrachtet Javier und Mario als Versager und demütigt sie, wo er nur kann. Auch die Mutter Nora lebt in der Hotelanlage in ihrer eigenen „Cabaña“, sie ist verrückt geworden, hört Stimmen wie einen „Chor der Propheten“ und spricht zu imaginären Gestalten, während der Vater mit seiner neuen, wesentlich jüngeren Frau Iris und einem gemeinsamen Kind in einer Hütte lebt. Für die Krankheit der Mutter machen die Söhne den Vater, der immer wieder zynisch „der König“ genannt wird, verantwortlich.

Beim gemeinsamen Fischfang spitzt sich der Vater-Sohn-Konflikt schließlich zu und damit wird das Familiendrama zu einem Psychothriller, der mit sich abwechselnden Phasen von Spannung und Entspannung – eben einem Gewitter gleich – virtuos spielt. Das Unwetter wird schlimmer, die See stürmischer und die Mordgedanken am Vater, der immer schwächer wird, größer. Als der Vater bei hohem Wellengang schließlich über Bord stürzt, möchte Mario, auch auf die Zurufe Javiers hin, erst nicht umkehren, gibt dann aber schließlich nach. Schließlich taucht der Kopf des Vaters auf der Spitze eines Wellenbergs wieder auf und wie durch ein Wunder kehren alle drei an Land zurück.

Eine Absage an die Hoffnung

Was wie ein verheißungsvoller Wendepunkt angelegt scheint, entpuppt sich letztendlich als ernüchternde Bestätigung des Dagewesenen. Der Kampf mit dem Tod auf dem stürmischen Meer wird nicht zum erhofften Schlüsselereignis, er scheint absolut nichts und niemanden verändert zu haben, weder den Vater noch die Söhne. Nach dem nächtlichen Abenteuer auf hoher See bleibt auf beiden Seiten alles beim Alten: Wie seine beiden anderen Söhne, tauft der Vater auch seinen dritten Sohn, das Kind, das er gemeinsam mit seiner Zweitfrau hat, im Meer mit den flehenden Worten zu Gott: „Mach, dass dieser hier nicht auch so ein Versager wird wie die andern beiden, ja?“

Damit liest sich der Roman wie eine Absage an die Hoffnung auf Versöhnung und die Lösbarkeit von Konflikten. Am Ende flackert doch noch ein Funken Hoffnung auf (oder ist auch das Hoffnungslosigkeit?); dann heißt es nämlich – und dabei handelt es sich vielleicht um den schönsten Satz des Romans: „Wie alles auf dieser Welt sind auch die Tropengewitter flüchtig in ihrer Ewigkeit.“

Dem meteorologischen und zwischenmenschlichen Gewitter und eben diesem Wanken zwischen Vergänglichkeit und Ewigkeit hat sich der Roman verschrieben. Er erschien bereits 2013 unter dem Titel Temporal, was sowohl „Unwetter“ als auch „temporär“ bedeuten kann. Bestimmt ist der Titel der deutschen Übersetzung Was das Meer ihnen vorschlug keine schlechte Wahl, hier handelt es sich um ein leicht verändertes Zitat aus dem Roman, und außerdem würde die deutsche Übersetzung des ursprünglichen Titels kaum die wohl intendierte Doppeldeutigkeit widerspiegeln. Trotzdem gehen hier durch die Übersetzung zentrale Motti und Themen, nämlich Ewigkeit und Gewitter, verloren.

Diese finden sich auch in zwei dem Roman voran geschalteten Zitaten wieder. González zitiert hier Rimbaud („L’Eternité. / C’est la mer allée / Avec le soleil.“) und ein Lied des mexikanischen Sängers Javier Solís („Sturmwind ohne festen Weg, / der du alles fortnimmst / aus der Welt, / nimm auch den Knoten mit, / der meine Seele quält.“).

Facettenreiche Intertextualität und ein Makel

Bezüge finden sich nicht nur zu Rimbaud oder Solís – González scheint auf weitere Werke der Weltliteratur direkt und indirekt anzuspielen. Javier macht er zum Shakespeare-Liebhaber, der über Macbeth und König Lear sinniert und vom „Bild des mordenden Königs aus dem Buch, das er gerade las“ verfolgt wird. Auch bei der Figurenkonstellation und der Frage nach Macht und Unterdrückung, Hass und Boshaftigkeit meint man immer wieder einen Shakespeare’schen Einfluss zu spüren.

Der Kampf des Vaters mit den Fischen wirkt wie eine Hommage bzw. Persiflage auf Hemingways Der alte Mann und das Meer und gleicht in gewisser Weise Ahabs Kampf mit dem weißen Wal in Melvilles Moby Dick. Die Mordgedanken auf der See erinnern an Highsmiths Der talentierte Mr. Ripley und die Idee zu der verrückten Erstfrau, die durch eine Zweitfrau ersetzt wird, könnte González bei der Lektüre von Jane Eyre gekommen sein. Damit schreibt González, der zu den wichtigsten zeitgenössischen Autoren Kolumbiens zählt und von dem bereits einige ins Deutsche übersetzte Werke vorliegen, sich regelrecht in die Weltliteratur ein.

Auch wenn es sich insgesamt um einen brillanten Roman handelt, so ist ein literarischer Kunstgriff weniger überzeugend, nämlich der Versuch eines multiperspektiv angelegten Romans. Zwischendurch wird die auktoriale Erzählweise von den Stimmen der im Hotel untergekommenen Touristen durchbrochen, die sich alle auf gleiche Weise zu Wort melden, nämlich mit „ich bin“ und dann aus ihrem Leben berichten. So heißt es: „Ich bin der alte Mann aus der Cabaña 5.“ Oder: „Und ich bin der vierzigjährige Mann und Vater von drei Mädchen mit hellen Augen, zehn, neun und sieben Jahre alt […].“

Dieses standardisierte Vorstellungsprozedere wirkt merkwürdig künstlich aufgesetzt und stört die Kohärenz des Romans, wenigstens in der deutschen Übersetzung. Doch trotzdem: Tomás González, der auch als neuer García Márquez gefeiert wird, ist mit Was das Meer ihnen vorschlug ein poetischer Psychothriller gelungen, der zugleich eine kleine Abhandlung über die Ewigkeit und das Gewitter ist.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Tomás González: Was das Meer ihnen vorschlug.
Aus dem Spanischen übersetzt von Rainer und Peter Schultze-Kraft.
Mare Verlag, Hamburg 2016.
153 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783866482319

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