Der Erste Weltkrieg als Katalysator der europäischen Moderne

In „Einsatz der Dichtung“ folgt Alexander Honold den Wechselbeziehungen von Krieg und Literatur

Von Tobias SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein später, wenn auch im wahrsten Sinne gewichtiger Nachzügler des Gedenkens an den Ausbruch des Ersten Weltkrieges ist Alexander Honolds 2015 erschienene 850-Seiten-Studie Einsatz der Dichtung. Literatur im Zeichen des Ersten Weltkriegs. Honold geht darin in vielfältiger Weise den Wechselbeziehungen zwischen dem Ersten Weltkrieg und der Literatur nach. Das Hauptaugenmerk legt Honold dabei auf den Zeitraum von 1900-1930, um sowohl die Vorgeschichte wie auch das Nachleben des Ersten Weltkrieges begreifbar zu machen. Es ist jene radikale Umbruchphase, in der das „Neue“ virulent wird (Technik, Mobilität, Massen), neben dem aber auch das „Alte“ noch seinen Platz behauptete.

Mit der Rede vom „Einsatz der Dichtung“ nutzt Honold die doppelte Bedeutung des Wortes „Einsatz“, das er zum Einen auf die „engagierte, wirklich massenhafte Beteiligung“ von bereits bekannten Autoren und einer Unzahl von Laienschriftstellern an der Mobilmachung für den Krieg bezieht. Zum Anderen aber auch in Bezug auf eine langfristige, stark ideologisch geprägte Perspektive hin liest, in der vor und während des Krieges Intellektuelle sich massiv in die Deutung des Geschehens involvieren ließen, u.a. Hugo von Hofmannsthal, Thomas Mann und Robert Musil.

Thema des Buches sind dabei nicht der Erste Weltkrieg selbst und auch nicht in erster Linie Texte, die sich direkt mit diesem auseinandersetzen, sondern es sind die „Auftrittsbedingungen, unter welchen er als eine Erscheinung der Moderne möglich wurde und geführt worden ist.“ Aus dieser Perspektive heraus kommen dann auch Texte in den Fokus, die vordergründig nichts mit dem Ersten Weltkrieg zu tun haben, die Honold aber dann doch gekonnt und überzeugend in ihrer je spezifischen Konfiguration mit dem Krieg in Beziehung zu setzen weiß. Damit beleuchtet Honold einen blinden Fleck der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung zu Weltkriegstexten, die üblicherweise dort ansetzt, „wo er [der Weltkrieg] in der Literatur selbst als Sujet in den Vordergrund trat“. Dem setzt Honolds Untersuchung vor allem „symptomale Lektüren“ entgegen, die den indirekten Spuren und den Auslassungen des Krieges nachgehen. Sein Material sind vor allem Texte der auch heute noch bekanntesten Vertreter einer europäischen literarischen Moderne: Hofmannsthal, Rilke, Heinrich und Thomas Mann, Döblin, Musil, Proust und Hašek.

Mit den ‚symptomalen Lektüren‘ verbindet Honold zwei zentrale „Arbeitsprämissen“: Neben Prosa bezieht Honold auch Texte anderer Gattungen und dezidiert nicht-literarische Texte in seinen Korpus ein, die in der Vor- und Nachkriegszeit entstanden, um so einen „vielfach […] verknüpften kulturellen Text“ der Zeit zu rekonstruieren. Die zweite Prämisse geht davon aus, dass schon während des Kriegs eine geschichtsphilosophische Bewertung dieser Zäsur vollzogen wurde und auch die Kunst im Zeichen des Krieges sich neu zu konzipieren begann. Vor allem für die Autoren der vor und um 1880 geborenen Generation (Hauptmann, Hofmannsthal, Mann, Döblin, Kafka, Broch u.a.) stellte der Krieg einen Bruch innerhalb ihres künstlerischen Schaffens dar: „Der Krieg war Zwangspause, auferlegte Prüfung und Gelegenheit zur Inventur des bisher Erreichten, zur Rechenschaft, deren Bedeutung über das Persönliche hinausging, weil dessen Umbruch von dem der Zeitläufte herausgefordert und überlagert wurde.“ Die Zeit des Krieges und die Jahre danach stellt Honold schlüssig als Zeit der künstlerischen Selbstpositionierung aus, er zeigt die Kämpfe sowohl der Autoren mit sich selbst aber auch mit anderen Kollegen. Althergebrachte Selbstbilder stehen bei den modern denkenden Autoren zur Disposition, für sie wird es zu einer zentralen Aufgabe werden, sich zu ihrer Zeit zu verhalten.

In acht sehr umfang- und detailreichen Kapiteln geht Alexander Honold den verzweigten Verbindungen von Literatur und Erstem Weltkrieg nach, analysiert dabei in großen Bögen die Vor- und Nachwehen einer gesamteuropäischen Lage. Der Erste Weltkrieg als Bruch mit allem bisher Bekannten grub sich nicht nur weit ins soziale und kulturelle Gedächtnis Europas ein, er war auch Innovationsmotor par exellence. So führte der Grabenkrieg zur Erfindung von Stahlhelm, Tanks und dem Einsatz von Tarnfarben. Und auch die neuen, auf Distanz operierenden Waffensysteme hatten nicht nur enorme Auswirkungen auf die Kriegsführung, die mit den Herausforderungen des Grabenkrieges überfordert war; auch die Soldaten selbst hatten keine Orientierung mehr auf den Blachfeldern an der Westfront. Die Sinne wurden von ohrenbetäubenden Detonationen,  plötzlichen Granateinschlägen, zerfetzten Leichen schlichtweg überfordert. Das Sehen als Primärsinn musste seinen Dienst im Angesicht von Granatwerfern, Gewehren und Panzern versagen, der träge Hörsinn kündigte meist nur den nahenden Tod an, noch bevor eine Flucht möglich war.

Besonders sensibel reagierte die Literatur auf die massiven Einflüsse des Kriegsgeschehens, die mit dem Wort „Verlust“ zwar treffend, aber dann doch eher euphemistisch zu fassen sind: „Entfabelung, Episierung und essayistische Sprengung der Fiktion, die Auflösung der handelnden Charaktere in unzusammenhängende Bewußtseinsfetzen und das Sprachmaterial vorgebener Diskurse sind einige der konstruktiven Antworten auf die vom Krieg dozierte Verlusterfahrung.“ Dieser Verlusterfahrung spürt Honold in seinen durchweg überzeugenden, äußerst detailliert belegten und doch meist fokussierten Analysen nach. Eines seiner Hauptverfahren ist das Gegen- und Mitlesen von meist zwei Texten bekannter Autoren der Moderne. So werden beispielsweise im Kapitel IV („Im Turm der öffentlichen Einsamkeit“) die Kämpfe um eine souveräne Autorschaft im Bann des Krieges an zwei der wichtigsten Autoren deutscher Sprache anschaulich klar: Thomas Mann und Hugo von Hofmannsthal. Beide hatten seit der Jahrhundertwende Krisenmomente im eigenen Schreiben zu bestehen, was sich exemplarisch am Chandos-Brief Hofmannsthal zeigt, und wurden im Vorfeld des Krieges wie auch die gesamte Kriegszeit hindurch beständig mit starken Zweifeln an ihrem Schaffen konfrontiert. Für beide letztendlich mit dem gleichen Ergebnis: einer je eigenen Antwort auf die Zäsur des Krieges. Das Ende des Krieges zeigt den Autoren, dass eine Nachfolge klassischer kanonischer Dichter schlechterdings nicht mehr möglich und vor allem künstlerisch eine Sackgasse ist. Thomas Mann und Hugo von Hofmannsthal reflektieren in ihren Werken der Kriegs- und Nachkriegszeit intensiv über die Instanz des Autors. Darin zeigt sich ein allmählicher Wandel in beider Auffassung der eigenen Profession, weg von einer abgehobenen Dichter-Autorität: „Die Selbstmodernisierung vom Dichter zum Schriftsteller ist, nach dem unfreiwilligen Desillusionstheater der Kriegspropaganda, nun unwiderruflich.“

Einsatz der Dichtung ist eingängig geschrieben, ohne jedoch auf eine theoretische Sprache zu verzichten. Die Dichte und Ausführlichkeit der Analysen wirken auf den ersten Blick zwar erschlagend, doch sind die einzelnen Kapitel und das gesamte Buch derart klar konzipiert, dass die Orientierung meist leicht fällt. Für die Literaturwissenschaft liegt mit Einsatz der Dichtung eine beeindruckende Monographie vor, die zukünftig wohl als Standardwerk über die Wechselbeziehungen von Krieg und Literatur zu gelten hat.

Titelbild

Alexander Honold: Einsatz der Dichtung. Literatur im Zeichen des Ersten Weltkriegs.
Verlag Vorwerk 8, Berlin 2016.
838 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783940384652

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