Appelle an die Öffentlichkeit

Neue Texte von und zu Peter Weiss (1916-1982) beschreiben den Autor als leidenschaftlichen kritischen Intellektuellen

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Zweisprachigkeit des Werks von Peter Weiss erlaubt noch immer überraschende Neuentdeckungen. Vor allem seine schwedischen Texte, die er für Zeitungen und Zeitschriften schrieb, sind längst noch nicht alle auf Deutsch publiziert. Während er in den 1940er- und 1950er-Jahren über seine Erfolglosigkeit als Künstler klagte, bemühte er sich mit Beiträgen für Expressen, Dagens Nyheter oder Aftonbladet darum, an aktuellen Diskussionen teilzuhaben, auch als Zeichen seines Wunsches, in Schweden eine künstlerische Heimat zu finden.

Bereits der erste ernst zu nehmende Beitrag in der Abendzeitung Expressen zielte 1953 darauf ab, Position zu beziehen. Auf der schwedischen Dichterkonferenz in Sigtuna im April des Jahres, schrieb Weiss, sei „die analytische Psychologie hingerichtet“ worden. Die drastische Wortwahl verrät den polemischen Gestus. Weiss bringt sich als Materialist und Modernist in Stellung gegenüber dem hausbackenen Naturalismus, der in Schweden damals gepflegt wurde. Während dieser Naturalismus auf „Erbsünde“ und Gottvertrauen gründe, wolle er selbst „die Lage hier und jetzt erleben und die zusammengesetzte Totalität meiner Eindrücke ausdrücken“.

Peter Weiss war auch nach seiner Aufnahme in die schwedische Staatsbürgerschaft 1945 ein künstlerisch Heimatloser geblieben, der zwar Unterschlupf in kleinen Kreisen fand, dem aber kaum größerer Widerhall, geschweige denn Bekanntheit zuteil wurde. Nach einer längeren Phase, die er der Malerei gewidmet hatte und ersten Gehversuchen als Autor von schwedischer Prosa (Von Insel zu Insel, 1947, und Die Besiegen, 1948), legte er anfang der 1950er-Jahre einen neuen Akzent auf den Film. Er drehte 1952/53 ein paar experimentelle Studien und daran anschließend ab 1956 sechs Dokumentarfilme und 1958 einen langen Spielfilm (Hägringen). Damit akzentuierte sich ein Reflexionsprozess, mit dem Weiss über Jahre hinweg die ästhetischen Möglichkeiten der unterschiedlichen künstlerischen Ausdrucksmittel auslotete.

In dem „dem Traum verwandten“ Gesamtkunstwerk Film erkannte er in den 1950er-Jahren eine erstrebenswerte Synthese von Bild, Sprache, Musik und Bewegung. Sein erstes filmästhetisches Programm formulierte er 1952 in einem Radiovortrag über die Ausdrucksmittel des Films, gedruckt erschien es im selben Jahr als Aufsatz in einer kleinen Filmzeitschrift und 1953 leicht gekürzt in der Zeitung Dagens Nyheter. Darin heißt es, dass der Film das Potenzial hat, „alle unsere Sinne“ in Bann zu ziehen, um das Publikum gleichermaßen zu aktivieren wie zu lähmen. Um diese Ambivalenz zwischen Bewusstmachung und Hypnose kreisen seine medienästhetischen Reflexionen. Während die Filmindustrie und noch intensiver die verflachenden TV-Produktionen auf die Passivität des Publikums zielen, schreibt er, seien es experimentelle Versuche (wie die eigenen), die „gänzlich neue Erlebniswelten“ eröffnen könnten.

Weitere Aufsätze und Rezensionen folgten. Weiss schrieb über Autoren wie Samuel Beckett, Henry Miller oder Hans Henny Jahnn. Vor allem aber erhob er seine kritische Stimme zu filmischen Fragen – mit dem Höhepunkt 1957, als er sich aus Anlass einer Zensur an seinem Film Im Namen des Gesetzes vehement zu Wort meldete. Seinen persönlichen Protest baute er zu einer grundsätzlichen Kritik an der Zensur aus. In mehreren Beiträgen bezog er mit aller Schärfe Stellung gegen jegliche staatliche Bevormundung. Darin hielt er den „konservativsten Kräften in der Gesellschaft“ ihre Doppelmoral vor, insofern sie den „Gewaltfilm als kleines Ventil für angestaute Aggressionen“ erlaubten, wogegen alles Sexuelle, aber auch „Nahaufnahmen der Verhältnisse in unseren Institutionen“ und somit „aktuelle Gesellschaftsprobleme“ kraft der Zensur weggesperrt würden.

Nachdem Peter Weiss mit seiner Monographie Avantgardefilm 1956 Bahnbrechendes geleistet hatte – sie ist laut Hans Scheugl und Ernst Schmidt das „erste ausführliche Buch über den Avantgardefilm“ – beschloss er 1961 mit einem Plädoyer für die schwedische Filmkunst den Reigen seiner filmkritischen Beiträge für schwedische Periodika. 1965 untermauerte er im legendären Laokoon-Aufsatz dann endgültig den Vorrang des Wortes vor den Bildmedien. Die ästhetische (Selbst-)Reflexion fand einen Abschluss, indem Peter Weiss nochmals seine außerordentliche künstlerische Mehrfachbegabung unter Beweis stellte.

Der Literaturwissenschaftler Gustav Landgren hat die schwedischen Aufsätze und Essays von Peter Weiss in einem Band gesammelt, übersetzt und mit Anmerkungen versehen. Auch wenn er dafür den Essay-Begriff etwas zu weit ausdehnt, ist die von ihm zusammengestellte Auswahl – ergänzt um einige bisher unbeachtete schwedische Interviews – ein wichtiges Puzzleteil im Werk von Peter Weiss.

Aus der Zeit nach Mitte der 1960er-Jahre dokumentiert Landgren einen zweiten diskursiven Schwerpunkt. Peter Weiss meldete sich erstmals 1966 mit einem Beitrag über Vietnam zu Wort. Er ist unter dem Titel Vietnam! in Rapporte 2 erschienen. Ab dem Juli 1967 hakt Weiss mit einem Einspruch gegen die „anti-kommunistische Hetzpropaganda“ im schwedischen Fernsehen nach (Niederlage der Ehrlichkeit), um dem Thema Vietnam die nächsten Jahre und weit über das Ende des Vietnamkriegs hinaus mit größter Beharrlichkeit treu zu bleiben. Vor allem Gunnar Myrdal wurde sein Gegenspieler, mit dem sich Weiss über Jahre hinweg stritt. Erstmals reagierte er 1968 auf eine Rede Myrdals, die Weiss als „grobe Wirklichkeitsverfälschung“ brandmarkte. Elf Jahre später fragte er schon im Titel: Wie lange darf Jan Myrdal seine Lügenfabrik betreiben? Diese Querele dokumentiert Landgren übrigens vertieft in einem Aufsatz im Peter Weiss Jahrbuch 25 (2016).

Solch streitbare Beharrlichkeit trug Peter Weiss den Ruf eines „Vulgärmarxisten“ ein, welcher 1970 durch die linke Kritik am Stück Trotzki im Exil allerdings wieder relativiert wurde. Vielleicht lag seine Treue gegenüber Vietnam auch im Biographischen begründet, wie ein Eintrag in den Notizbüchern von Mitte Mai 1968 nahe legt: „Bin voller Scham“, weil er in Vietnam wegen eines Nierensteins die vom Krieg versehrte medizinische Versorgung beanspruchen musste.

Peter Weiss führte die Auseinandersetzungen mit leidenschaftlichem Engagement. Seine Streitbarkeit entsprang freilich weniger dem Willen zur ideologischen Begradigung als einem grundsätzlichen Interesse an Diskussion und Widerspruch. Dies lässt die Erinnerung an den Jugendfreund und Philosophen Hermann Levin Goldschmidt aufleben, der schon Anfang der 1950er-Jahre ein dialogisches Konzept entwickelte, das er in seiner Hauptschrift 1976 mit Freiheit für den Widerspruch betitelt hat. Peter Weiss dürfte zumindest darum gewusst haben. Wie weit dieser dialogische Ansatz in seinem Werk Eingang gefunden hat, bleibt noch zu untersuchen.

Der Auswahlband Dem Unerreichbaren auf der Spur gibt Zeugnis davon, wie Peter Weiss nach und nach seinen Platz in der schwedischen Öffentlichkeit gefunden hat. Die Beiträge für Zeitungen und Zeitschriften sind ein zentrales Element nicht nur der (medien-)politischen Auseinandersetzung, sondern auch der persönlichen Integration im schwedischen Umfeld.

Beide Aspekte bilden auch das Gravitationszentrum in Werner Schmidts neuer Biographie über Peter Weiss – mit dem Untertitel: Leben eines kritischen Intellektuellen. Der emeritierte Professor für Geschichte an der Universität in Stockholm konturiert in der kurzen Vorrede seine Zielsetzung: „Diese Biografie handelt von der Formierung und Entwicklung des eingreifenden Schriftstellers und Intellektuellen Peter Weiss.“ Zeitlich setzt sein Buch entsprechend im Jahr 1964/65 an, als Peter Weiss mit dem Laokoon-Aufsatz seine ästhetische Position schärfte, mit dem Marat-Sade-Stück für Aufsehen sorgte und in den 10 Arbeitspunkten eines Autors in der geteilten Welt unmissverständlich seinen Standpunkt festmachte: „Jedes Wort, das ich niederschreibe und der Veröffentlichung übergebe, ist politisch“ – wobei es der Autor mit dem grammatikalischen Präsens offen ließ, ob er dabei nur an die Zukunft oder nicht auch an die Vergangenheit dachte.

Die ersten fünfzig Lebensjahre werden von Werner Schmidt mit sicherem, klarem Strich, doch sehr gerafft nachgezeichnet – gewissermaßen als ein Vorstadium, das auf den biographischen Kern, das politische Leben, hinführt. Problematisch daran ist, wie die Prosabände Abschied von den Eltern und speziell Fluchtpunkt als biographische Quelle herangezogen werden, obwohl es sich dabei um literarische Konstruktionen handelt, die den Autor in der Rolle des Rebellen zeigen. Werner Schmidts essayistischer Zugang zu dieser Lebensphase sträubt sich gegen den Anspruch von „Biographie“ im Buchtitel. Entsprechend zurückhaltend werden auch die Nöte der Heimatlosigkeit, die privaten wie die künstlerischen Probleme und nicht zuletzt die Geschichte seines ästhetisch vielseitigen Werks behandelt. Weit mehr Interesse bringt Werner Schmidt den politischen Auseinandersetzungen ab 1965 entgegen, die sich an den Theaterstücken sowie schließlich an der Ästhetik des Widerstands kristallisierten. Hier entfaltet der konzentrierte Zugang seine Stärken. Mit der Aufführung des Marat-Sade in der DDR begann Peter Weiss‘ komplizierte Beziehung zum östlichen Deutschland, die auf beiden Seiten für Irritation und Kritik sorgte. Wurde im Westen die Annäherung an das SED-Regime missbilligt, wollte dieses wiederum von der Forderung nach freier Meinungsäußerung nichts wissen. Werner Schmidt zeichnet die Diskussion, in der Weiss‘ differenzierte Haltung förmlich zerrieben wurde, akribisch nach. Im Mai 1968 notierte Weiss bündig: „Würde ich hier leben, ich säße längst in der Klemme“. Mit seinem Zweifel und seinen Widersprüchen, die bei aller Parteinahme stets sein Kennzeichen blieben, musste er sich auf einem schmalen Grat zwischen Ost und West einrichten. „In jedem erreichten Zustand blieb etwas Unabgeschlossenes eingeschrieben“, formuliert Schmidt dazu.

Mit Rückgriff auf neue Quellen wie beispielsweise die Memoiren von Olof Lagercrantz, dem damaligen Chefredakteur von Dagens Nyheter, zeichnet Werner Schmidt ausführlich die auch innerschwedisch brisanten Debatten nach, die Weiss‘ künstlerische Arbeit begleiteten. Er tut es systematisch, ausgedehnt und nicht frei von Wiederholungen. Als Einführung in ein ästhetisch vielgestaltiges, komplexes, von Zweifeln und Aufbrüchen geprägtes Werk erfüllt diese „Biographie“ ihre Aufgabe jedoch nur unzureichend. Ihre Schwerpunktsetzung bildet eher eine Ergänzung für fortgeschrittene Weiss-Leser, die sich genauer mit den (innen)politischen Debatten der 1960er- und 1970er-Jahre auseinandersetzen möchten. Genau darin steckt freilich das Risiko einer Historisierung des Werks von Peter Weiss, die ihm nur unzureichend gerecht wird.

Unter dem dialektischen Diktat kommt das Dialogische zu kurz. Denn Peter Weiss zielte weniger auf die Überwindung von historischen Grundfragen. Es ging ihm prinzipiell um die Auseinandersetzung mit einem Gesprächspartner, doch stets auch mit sich selbst, seinen künstlerischen Impulsen, der eigenen Unsicherheit, den Alpträumen und ihn heimsuchenden Nachtmahren. Es ist gerade die Engführung von Politik und Ästhetik, die seinen Romanen und Stücken über die Epoche ihrer Entstehung hinaus Gültigkeit verschafft. Die im Dilemma gefangene Grundfrage aus dem Marat-Sade-Stück, wer zuerst befreit werden müsse: die Gesellschaft oder das Individuum, bleibt unaufgelöst und in letzter Konsequenz unauflösbar. Es ist „ein individuelles Erleben, das dem Engagement zugrunde liegt“, wie Peter Weiss in einem Gespräch einmal geäußert hat. Daraus gewinnt das Werk seine Wirkkraft: angefangen von der frühen Prosa Von Insel zu Insel bis hin zum Opus magnum Die Ästhetik des Widerstands.

Gustav Landgrens Auswahl von schwedischen Zeitungsartikeln und Aufsätzen leistet eine gute Ergänzung zu Werner Schmidts Buch. Dazu gesellt sich auch eine neue Monographie von Landgren: Zum Verhältnis von Stadt und Erinnerung im Werk von Peter Weiss. Biographisch hat sich Peter Weiss vornehmlich in Stadträumen bewegt: Berlin, Prag, Paris, Stockholm – die auch Schauplatz in seinen Bildern, Filmen und Büchern sind. Sein Spielfilm Hägringen von 1958 beschreibt den urbanen Raum, der einen Heimatlosen anzieht und zugleich ausstößt, in einem grandiosen, virtuosen Bilderreigen.

Im räumlichen Kontext spielt die Erinnerung eine zentrale Rolle. Sie wehrt sich gegen den drohenden Erinnerungsverlust auf dreifache Weise: im Modus der persönlichen Erinnerung, des politisch-historischen Gedenkens und nicht zuletzt der traumhaften Vergegenwärtigung einer idealen Welt. Sie stehen miteinander in einem produktiven Konflikt. Gustav Landgren konzentriert sich in seiner Studie stark auf das enge Beziehungsgeflecht von Stadtraum und Erinnerung in der Ästhetik des Widerstands. So sehr Weiss darin historische Ereignisse zu rekonstruieren versucht habe, bilanziert Landgren, so wenig handelt es sich dabei „um einen historischen Tatsachenbericht, sondern um eine Literarisierung von historischen Begebenheiten, um eine Umwandlung von historischen Dokumenten in literarisches Material“. Umwandeln, verwandeln, neu erfinden und ausgraben sind zentrale Motive in dieser Romantrilogie wie in Weiss‘ gesamtem Werk.

Im Anhang zu Landgrens Monographie findet sich ein bisher unpublizierter und undatierter Text von Peter Weiss abgedruckt mit dem Titel Skulla ja vara riktigt konsekvent… Vermutlich um 1961 herum verfasst, steht er über einem Vortrag zum Thema Dada und Surrealismus. Ja: Wäre ich ganz konsequent… – dann hätte Peter Weiss wohl ein anderes, geradlinigeres Werk geschaffen. Ein weniger schillerndes auch und ein weniger anstößiges im eigentlichen Wortsinn.

Titelbild

Peter Weiss: Dem Unerreichbaren auf der Spur. Essays und Aufsätze.
Übersetzt aus dem Schwedischen von Gustav Landgren.
Verbrecher Verlag, Berlin 2016.
303 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783957321992

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Werner Schmidt: Peter Weiss. Biografie.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
461 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783518425701

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Gustav Landgren: Rauswühlen, rauskratzen aus einer Masse von Schutt. Zum Verhältnis von Stadt und Erinnerung im Werk von Peter Weiss.
Transcript Verlag, Bielefeld 2016.
400 Seiten, 44,99 EUR.
ISBN-13: 9783837636185

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