Pop und die Ästhetik des Bösen

Ein Vergleich zwischen der Lyrik Leonard Cohens und Charles Baudelaires

Von Sandy LunauRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandy Lunau

Seit seinem Tod am 07.11.2016 ist der kanadische Dichter, Romanautor, Musiker und Songwriter Leonard Cohen vielfach gewürdigt worden. Sein Einfluss auf andere Musiker und Künstler, die Wirkung seines umfangreichen Werkes auf die Pop- und Folkszene sowie seine Strahlkraft als Persönlichkeit wurden gepriesen. Dabei ist es nicht weiter verwunderlich, dass der Schwerpunkt der Würdigung in Cohens musikalischem Werk liegt. Zweifelsohne wurde er in erster Linie als Musiker wahrgenommen, was nicht zuletzt an der Tatsache liegt, dass sein Hauptwerk musikalischer Natur ist. Man darf aber nicht vergessen, dass Cohen als junger Mann zunächst schriftstellerische Ambitionen hegte und im Laufe seines Lebens neben zahlreichen Gedichtbänden auch zwei Romane veröffentlichte.

Darüber hinaus lassen sich auch seine Songtexte literarisch würdigen, einen Schritt den zum Beispiel Sascha Seiler in seinem Nachruf auf Leonard Cohen macht, wenn er zu bedenken gibt, ob der Kanadier nicht der bessere Kandidat für den Nobelpreis für Literatur gewesen wäre. Es gilt also, auch Cohens literarisches Werk angemessen zu achten und das nicht nur wegen der Qualität seiner Songtexte, die im Vergleich zu vielen anderen Popstars ungleich poetischer und komplexer zu bewerten sind. Darüber hinaus ist sein lyrisches Werk, in das ich seine Liedtexte einschließen möchte, als Teil der Weltliteratur zu betrachten, insofern als seine Texte sich in Verbindung zu anderen literarischen Werken und Traditionen setzen lassen.

Sandra Djwa beispielsweise sieht Cohen durch eine gemeinsame Tradition mit literarischen Größen wie Keats, Lawrence und Gênet verbunden. Sie attestiert dem „Black Romantic“, als den sie Cohen bezeichnet, eine Nähe zur Literatur der Décadence und insbesondere der Lyrik von Charles Baudelaire. Die Unterordnung des Lebens unter die Kunst, die Betonung der Relativität des Bösen und die Affirmation der Ekstase und der Zerstörung in Bezug auf den künstlerischen Schaffensprozess sind dabei die Vergleichsgrößen, die auf eine Verwandtschaft schließen lassen.

Die Schönheit des Bösen

Die Literatur der Décadence und damit auch Baudelaires bricht durch ihre Ästhetik mit der traditionellen Einheit von Schönem, Gutem und Wahrem in der Kunst. An deren Stelle tritt das Postulat, dass Schönheit nicht nur mit dem Bösen, Leid oder gar dem Tod assoziiert sein kann, sondern auch, dass das Böse seine eigene, ambivalente Schönheit beinhaltet. Es durchdringt die Natur sowie das Soziale und ist nicht seltener im Gewöhnlichen, denn im Monströsen aufzufinden. Diese Grundhaltung der Décadence bringt Baudelaire in seinem Eröffnungsgedicht der Fleurs du malAu lecteur – zum Ausdruck.

Sur l’oreiller du mal d’est Satan Trismégiste
Qui berce longuement notre esprit enchanté,
Et le riche métal de notre volonté
Est tout vaporisé par ce savant chimiste.

C’est le Diable qui tient les fils qui nous remuent!
Aux objets répugnants nous trouvons des appas;
Chaque jour vers l’Enfer nous descendons d’un pas,
Sans horreur, à travers des ténèbres qui puent.

Auch für Cohen lässt sich eine solche Haltung gegenüber der menschlichen Natur feststellen. Ein besonders anschauliches Beispiel hierfür bieten seine Gedichte über den Holocaust in seiner Gedichtsammlung Flowers for Hitler. Die meisten dieser Texte weisen die mutmaßliche Singularität des Holocausts zurück. Cohen präsentiert ihn als ein Ergebnis der allgemeinen und universellen menschlichen Verderbtheit und wehrt sich dagegen, die Verantwortung dafür auf einzelne, moralisch verkommene und pervertierte Individuen oder spezielle singuläre Umstände abzuwälzen.

So stellt er die Verbrecher des Dritten Reiches nicht als verabscheuungswürdige Monster dar, sondern betont ihre Alltäglichkeit. In dem Gedicht All there is to know about Adolph Eichmann etwa werden sämtliche äußeren Merkmale Eichmanns aufgelistet und als „medium“ bezeichnet, während unter „distinguished features“ die Bemerkung „none“ zu finden ist. Die Erwähnung der Anzahl seiner Finger und Zehen spiegelt seine grundsätzliche Normalität wider. Im Anschluss daran stellt das lyrische Ich die Frage:

What did you expect?
Talons?
Oversize incisors?
Green saliva?

Madness?

Cohen zeigt hier deutlich eine Weigerung, das Monströse, Schreckliche und Unmenschliche in repräsentativen Figuren zu bannen, um sich davon abzugrenzen. Stattdessen betont er seine eigene Verstricktheit in das Böse in einer Manier, die unweigerlich an Baudelaire denken lässt, wie etwa in dem Gedicht What I’m Doing Here.

I do not know if the world has lied
I have lied
I do not know if the world conspired against love
I have conspired against love
[…]
I would have done the same things
even if there were no death
I will not be held like a drunkard
under the cold tap of facts
I refuse the universal alibi

[…]
I wait
for each one of you to confess.

Cohens Texte teilen mit der Literatur der Décadence – und somit Baudelaires – die Tendenz, konventionelle Normen des Geschmacks und Anstands gezielt zu verletzen. Diese Affirmation des Hässlichen und des Bösen zieht sich durch Baudelaires gesamtes Werk, seine Gedichte erwachsen daraus und werden so zu „Fleurs du Mal“. Ein in besonderem Maße anschauliches Beispiel für diese Affirmation des Bösen stellt das Gedicht Les Litanies de Satan dar, das in der Form eines Gebetes Satan als „grand roi des choses souterraines, / Guérisseur familier des angoisses humaines“ feiert und den „Prince de l’exil, à qui l’on a fait tort“ wiederholt bittet, sich des lyrischen Ichs zu erbarmen.

Satan wird so zu einer Erlöserfigur und Gott gleichgestellt. Dieser Aspekt tritt besonders in der letzten Strophe hervor, in der das lyrische Ich seine Hoffnung äußert, durch eine Verbindung mit dem Teufel Erlösung finden zu können: „Fais que mon âme un jour, sous l’Arbre de Science, / Près de toi se repose, à l’heure où sur ton front / Comme un Temple nouveau ses rameaux s’épandront!“

Auch in Cohens Lyrik lässt sich eine Parteinahme für das Böse ausmachen. Wie Baudelaire erkennt dieser nicht nur die Versündigung jedes Einzelnen an, er propagiert sogar die Assoziation mit dem Schrecken als Möglichkeit seiner Überwindung. So weisen Cohens Gedichte bisweilen eine fast schon obszöne, ja sogar perverse Grausamkeit auf. Etwa in dem Text It Uses Us! aus Flowers for Hitler, fordert das lyrische Ich ein Gegenüber auf “[to] [c]ome upon this heap / exposed to camera leer: / would you snatch a skull / for midnight wine, my dear?”

Diese Schändung der Opfer des Holocausts, um die es sich hier zweifelsohne handelt, kommt einer gesellschaftlich nicht tolerierten Missachtung des Horrors der Nazi-Verbrechen gleich. Die fünfte Strophe schließlich zeigt eine Baudelaire ähnliche Erwartung der Erhöhung des Menschen durch Assoziation mit dem Bösen:

Now you and I are mounted
on this heap, my dear:
from this height we thrill
as boundaries disappear.

Sowohl Cohen als auch Baudelaire verletzen also bürgerliche Moralvorstellungen in bewusster Provokation ihrer Leser. Die Ablehnung der bürgerlichen Existenz beschränkt sich aber nicht auf die Moral, sondern ist grundlegend für die Auffassung von Kunst und Künstlertum beider Autoren.

Die Isolation des Künstlers

Für den Künstler des Ästhetizismus steht die Kunst im Mittelpunkt seines Lebenszusammenhangs, ja wird sogar zu seiner existenziellen Bedingung. Der Künstler, oder auch der ihm nahestehende Dandy, sind nach Baudelaire die letzten Möglichkeiten des Heldentums in einer von Dekadenz bedrohten Welt. „Le dandysme est le dernier éclat d‘héroïsme dans les décadences […].“ Dieser Heldenstatus bei Baudelaire kommt einem Element der Künstlerfigur Cohens sehr nahe, dem der „Sainthood“. Künstler stellen für Cohen außergewöhnliche Individuen dar. Sie befinden sich in der Entwicklung zu einem „state of grace“, der als eine Art Heiligenstatus das Diesseits transzendiert.

Auch bei Baudelaire lässt sich diese mystische Aufladung des Künstlerbildes finden, der genau wie Cohens Heiliger sein weltliches Dasein durch das Streben nach Schönheit übersteigen soll. Das Gedicht Bénédiction veranschaulicht dieses Verständnis des Künstlers als erhabenes Wesen, der sich mit einer höheren Sensibilität ausgestattet und durch eine größere Leidensfähigkeit geadelt von der Masse abhebt, ja sogar in eine göttliche Sphäre erhoben wird.

Vers le Ciel, où son œil voit un trône splendide,
Le Poète serein lève ses bras pieux,
Et les vastes éclairs de son esprit lucide
Lui dérobent l’aspect des peuples furieux:

[…]

Je sais que vous gardez une place au Poète
Dans les rangs bienheureux des saintes Légions,
Et que vous l’invitez à l’éternelle fête
Des Trônes, des Vertus, des Dominations.

Auch Cohen kultiviert die Erhabenheit der künstlerischen Existenz in seinem Werk. Seine Künstler leben in einem „Tower of Song“, der sie von der alltäglichen Lebensweise gewöhnlicher Menschen absondert, wie in dem gleichnamigen Liedtext deutlich wird:

I was born like this, I had no choice
I was born with the gift of a golden voice,
and twenty-seven angels from the great beyond,
they tied me to this table right here in the tower of song.

Mit einer höheren Sensibilität ausgestattet und der Sphäre des Schönen zugehörig hebt der Künstler sich von der profanen Lebenswirklichkeit seiner Mitmenschen ab. Er ist dadurch zwar einerseits geadelt, andererseits macht ihm dieser Status aber ein gewöhnliches Leben unmöglich.

Auf besonders anschauliche Weise ist dieses Dilemma des Künstlers in Baudelaires Gedicht L’Albatros dargestellt: als ein Bild für den Künstler ist der Vogel in diesem Text durch Anmut und Erhabenheit gekennzeichnet, solange er in der Luft und damit über der profanen Welt schwebt. Auf dem Boden, bzw. im Gedicht auf den Brettern des Schiffes, verliert der Dichtervogel seine Eleganz und Grazie, ja er sieht sich sogar der Lächerlichkeit und dem Spott der Seemänner ob seines unbeholfenen Ganges ausgeliefert.

A peine les ont-ils déposés sur les planches,
Que ces rois de l’azur, maladroits et honteux,
Laissent piteusement leurs grandes ailes blanches
Comme des avirons traîner à coté d’eux.

Die daraus entstehende Isolation ist zwar einerseits dem speziellen Wesen des Dichters geschuldet. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Absonderung von der Gesellschaft gänzlich unwillentlich geschieht. Der Künstler bei Baudelaire und Cohen grenzt sich bewusst von der Gesellschaft ab, deren Materialismus und Utilitarismus er als Anhänger der zweckfreien Kunst verachtet und ablehnt. Die Isolation des Künstlers stellt also zu großen Teilen eine Selbstisolation dar.

Dies beinhaltet neben einer sozialen Abgrenzung außerdem die Verweigerung des Künstlers gegenüber einer bürgerlichen Existenz, geprägt durch eine geregelte Arbeit, einen festen Wohnsitz, eine monogame Lebensweise, sowie gesellschaftskonformes Verhalten. Diesem versagt sich der Dichter um seine Aristokratie zu behaupten und sein Anderssein zu unterstreichen. Dementsprechend schreibt Baudelaire in Mon cœur mis à nu: „Un Dandy ne fait rien. Vous figurez-vous un Dandy parlant au peuple, excepté pour le bafouer.”

Auch für Cohen ist diese Abkapselung von der Gesellschaft, diese „Strangerhood“ eine notwendige Bedingung des Künstlertums. Diese Haltung wird beispielsweise in dem Liedtext zu Stranger Song deutlich, in dem eine als „du“ angesprochene Figur wiederholt mit der Begründung „I told you when I came I was a stranger“ verlassen wird. Diese Fremdheit wird von ihnen als Grundbedingung ihrer Existenz aufgefasst. Da die Frau diese durch die Geborgenheit, die sie bietet, bedroht, sehen sie sich daher immer wieder gezwungen, sie zu verlassen: „And then leaning on your window-sill he’ll say one day you caused his will to weaken with your love and warmth and shelter. And taking from his wallet an old schedule of trains, he’ll say, I told you when I came I was a stranger.”

Dieser Text zeigt, dass das künstlerische Selbstverständnis wie es in den Texten Cohens zum Ausdruck kommt, auch Konsequenzen für das Verhältnis zur Frau hat. Auch darin steht er der Literatur der Décadence nahe. Denn für den Künstler des Ästhetizismus beinhaltet die Ablehnung der bürgerlichen Lebensweise auch eine negative Haltung gegenüber der Ehe im Besonderen und einer Bindung an die Frau im Allgemeinen. In Mon cœur mis à nu antwortet Baudelaire dementsprechend auf die Frage danach, was die Liebe sei: „Le besoin de sortir de soi. L’homme est un animal adorateur. Adorer, c’est se sacrifier et se prostituer. Aussi tout amour est-il prostitution.“

Der wichtigste Grund allerdings, warum eine Bindung an eine Frau für den Künstler beiden Dichtern nach zu urteilen abzulehnen ist, besteht in den befürchteten Auswirkungen dieser Verbindung auf die Integrität des Künstlers. Dementsprechend wir die künstlerische Existenz in den Gedichten beider Autoren als durch die Verlockungen des weiblichen Geschlechts gefährdet portraitiert. Der Künstler hat folglich in einem Zustand weltabgewandter Entsagung zu leben, will er seine künstlerische Exzeptionalität bewahren. Durch die Einsamkeit und das Leiden der Askese soll ihm der Zugang zu einem tieferen Erleben und einer tieferen Erkenntnis ermöglicht werden.

Der Dichter gerät also durch das Begehren einer Frau in ein Dilemma. Cohens Gedicht Travel aus The Spice-Box of Earth macht dies sehr anschaulich:

Loving you, flesh to flesh, I often thought
Of travelling penniless to some mud throne
Where a master might instruct me how to plot
My life away from pain, to love alone
In the bruiseless embrace of stone and lake.

Lost in the fields of your hair I was never lost
Enough to lose a way I had to take;
Breathless beside your body I could not exhaust
The will that forbid me contract, vow,
or promise, and often while you slept
I looked in awe beyond your beauty.

Das Gedicht birgt die Überzeugung, dass die Befriedigung, die die Frau zu geben in der Lage ist, das Streben des Dichters nach dem Absoluten stillen, ja sogar zum Versiegen bringen kann. Darüber hinaus wird deutlich, dass der Glaube an eine Notwendigkeit dieser Entsagung in der Überzeugung begründet liegt, das Leiden, hervorgerufen durch die Abwesenheit des begehrten Objektes, biete Zugang zu einem tieferen Verständnis der Liebe, als ihre tatsächliche Auslebung dies vermöge. Durch die Erfahrung des Leidens und der Melancholie geadelt ist dieser Zustand für den Künstler dem einer Zweisamkeit mit der Frau vorzuziehen.

Die Frau als Erlöserin und Gefahr

Für Baudelaire steht die Frau mit der gefallenen Natur in Verbindung und stellt somit einen Gegenpol zu dem, im Gegensatz zu ihr mit der Kunst assoziierten, Mann dar. Dementsprechend tritt sie in zahlreichen seiner Gedichte als „femme fatale“ auf, die den Untergang des (künstlerischen) Mannes bedeuten kann. So beschreibt das Gedicht Un voyage a Cythère den Gemütszustands des lyrischen Ichs angesichts der Insel Kythera, die als Geburtsort der Aphrodite die Verlockung des weiblichen Geschlechts symbolisiert.

Ausgehend von einem anfänglichen Zustand wolllüstiger Sehnsucht nach der Insel – „Belle île aux myrtes verts, pleine de fleurs écloses, / Vénérée à jamais par toute nation, / Où les soupirs des cœurs en adoration / Roulent comme l’encens sur un jardin de roses“ – fühlt es sich im weiteren Verlauf des Gedichts zunehmend von ihr abgestoßen. Ausgelöst wird diese Reaktion durch das Entsetzen angesichts eines am Galgen Gehenkten, dessen Schicksal für das lyrische Ich sein eigenes Leiden unter den fleischlichen Begierden versinnbildlicht: „Ridicule pendu, tes douleurs sont les miennes! / Le sentis, à l’aspect de tes membres flottants, / Comme un vomissement, remonter vers mes dents / le long fleuve de fiel des douleurs anciennes.“

Dieses Entsetzen verursacht schließlich eine Läuterung des lyrischen Ichs, die es dazu befähigt, seinen Trieben zu widerstehen. Baudelaires Verhältnis zur Sexualität ist allerdings mitnichten von Entsagung geprägt. „Wie bei den meisten anderen Schriftstellern der literarischen Décadence spielt auch bei Baudelaire die ihrer natürlichen, biologischen Funktionen beraubte Liebe, die gegen die Moralvorstellungen des Bürgertums verstößt, eine große Rolle. Es geht Baudelaire bei der Darstellung solcher Liebe nicht nur um Provokation und Absetzung von der Masse, sondern auch um das eigene Streben nach Schönheit und Idealität. Die Liebe soll zur Ekstase und damit zum Überwinden der Realität führen.“

In dem Moment also, in dem die körperliche Liebe eine Transzendenzerfahrung möglich macht, stellt sie eine überlegene Form der Sexualität dar. Sie wird damit auch in die Nähe der Kunst gestellt, da die Entrückung, die sie verursacht, durch den Künstler ästhetisch nutzbar gemacht werden kann.

Diese Sublimierung vollzieht sich am wirksamsten durch die Erfahrung von Leid. Eine Sättigung der sinnlichen Liebe mit Melancholie reinigt diese von ihrem profanen Charakter und transformiert sie in ein spirituelles Verlangen. Der Tod als finale Form des Leidens stellt dabei auch die höchste Form der Sublimierung dar: „In death, the sublimation of volupté is complete. […] Through awareness, sadness, suffering, and the feeling of regret, therefore, volupté, in this final expurgated state, emerges as an element eminently spiritual.”

Diese Haltung wird in dem Gedicht La mort des amants sehr deutlich. Darin schildert das lyrische Ich seiner Geliebten eine Zusammenkunft, deren Darstellung durch Wendungen wie „[d]es divans profonds comme des tombeaux“ oder „chaleurs dernières“ bereits in die Nähe des Tode gerückt wird. Allerdings wird ihr außerdem eine erhebende, das banale Diesseits transzendierende Qualität zugesprochen. So etwa durch die Erwartung von „des cieux plus beaux“ oder durch die Beschreibung der Herzen der Geliebten als „deux vastes flambeaux“.

Dass diese Zusammenkunft sexuelle Konnotationen hat zeigt besonders die dritte Strophe: „Un soir fait de rose et de bleu mystique, / Nous échangerons un éclair unique, / Comme un long sanglot, tout chargé d’adieux.“ Der Moment des sexuellen Höhepunktes fällt mit dem des Todes zusammen, beendet die Verbindung der Liebenden jedoch nicht. Vielmehr wird ihre Begierde in himmlischen Sphären wieder entfacht, was einer spirituellen Erhebung der Sexualität gleichkommt: „Et plus tard un Ange, entr’ouvrant les portes, / Viendra ranimer, fidèle et joyeux, / Les miroirs ternis et les flammes mortes.“

Betrachtet man die Behandlung, die Sexualität in den Texten Leonard Cohens erfährt, wird deutlich, dass seine Texte wie die Baudelaires eine gewisse Promiskuität und ein bedingungsloses Ausleben sexueller Wünsche propagieren, eine Haltung, die ihm von einigen Kritikern als Hang zur Pornografie ausgelegt worden ist. Sie steht damit durch ihre Provokation konventioneller Moralvorstellungen Baudelaires drastischen Darstellungen von Sexualität nahe.

Allerdings distanziert auch Cohen sich in seiner Konzeption der physischen Liebe von bloß körperlicher Begierde. Sexualität tritt in seinen Gedichten häufig in enger Verbindung zu religiösen Gefühlen auf. Auch die Sprache, mit der sie beschrieben wird, entstammt häufig diesem Bereich. Körperliche Liebe wird so zu einer spirituellen Erfahrung, die die Liebenden „in contact with the energy of love“ bringt. Das körperliche Element der Liebe vereint zwei Menschen, transzendiert also die Einzelperson und kann so für das Erreichen einer erhabenen, spirituellen Existenz genutzt werden.

In besonders anschaulicher Weise bringt diese Haltung das Gedicht You have the Lovers zum Vorschein, in dem ein mit „du“ angesprochener Protagonist eine Art Ritual oder Experiment mit einem Liebespaar durchführt, das darin besteht, beide über Jahre in einem Raum von jeglichem Kontakt zur Außenwelt abgeschirmt einzuschließen. Als nach langen Jahren das Zimmer geöffnet wird, bietet sich dem Du des Gedichts folgende Szene:

The room has become a dense garden,
full of colours, smells, sounds you have never known.
The bed is smooth as a wafer of sunlight,
in the midst of the garden it stands alone.
In the bed the lovers, slowly and deliberately and silently,
perform the act of love.
Their eyes are closed,
as tightly as if heavy coins of flesh lay on them.
Their lips are bruised with new and old bruises.
Her hair and his beard are hopelessly tangled.
When he puts his mouth against her shoulder
she is uncertain whether her shoulder
has given or received the kiss.

Besonders der letzte Abschnitt der zitierten Passage macht deutlich, wie hier die körperliche Liebe zu einer Entgrenzung der eigenen Person und einer Verschmelzung mit dem Gegenüber führt. Darüber hinaus wird wie bei Baudelaire in dem Zustand der Liebenden durch den Vergleich ihrer geschlossenen Augenlieder mit „heavy coins of flesh“ eine Nähe zum Tod aufgebaut, denn das Bild der Münzen evoziert den antiken Brauch, selbige als Bezahlung für Charon, den Fährmann der Unterwelt, auf die Augen der Toten zu legen.

Diese Art der Darstellung von Sexualität schreibt ihr eine spirituelle Qualität zu, erhebt sie über ihren triebhaften, animalischen Charakter. Die Frau tritt hier nicht als Gefahr für die Integrität des Künstlers, sondern als Erlöserin auf. Wie in Baudelaires Lyrik, so stellt also auch bei Cohen die Frau und ihre Sexualität eine vermittelnde Instanz zwischen dem Dichter und dem Absoluten dar, indem sie ihn dazu befähigt, einen Zustand der Exaltation zu erleben, in dem künstlerische Inspiration erfahrbar ist. Die Haltung beider Autoren zur Frau ist also von einer deutlichen Ambivalenz geprägt: einerseits erscheint sie als Medium der Transzendenz, das den Künstler in seinem Künstlertum unterstützt, andererseits stellt sie durch ihre Bindungsansprüche eine potentielle Gefahr für ihn dar.

Während allerdings bei Baudelaire die Angst vor der Frau sie bisweilen in Bildern von extremer Monstrosität erscheinen lässt,[1] ist sie bei Cohen in der Regel selbst dann positiv konnotiert, wenn der Künstler sein Künstlertum von ihr bedroht sieht. So heißt es etwa in dem Songtext zu So long, Marianne: „You know I love to live with you / but you make me forget so very much / I forget to pray for the angels / and then the angels forget to pray for us.“ Es lässt sich also zusammenfassen, dass Cohens Frau bei aller Ambivalenz eine Erlöserfigur bleibt, während Baudelaire ihr zwar diese Qualität einerseits zugesteht, sie aber andererseits für ihre Nähe zur Natur verachtet.

Transposition ins 21. Jahrhundert

Trotz einiger Unterschiede im Kunst- und Künstlerselbstverständnis der beiden Dichter, zeigen sich deutliche Parallelen zwischen Baudelaires und Cohens poetologischen Gedichten. So kultiviert Cohen genau wie Baudelaire eine dezidierte Ästhetik des Bösen und des Hässlichen, die so zentral für sein Schaffen ist, dass man von einer bloß zufälligen Ausformung absehen muss. Es ist davon auszugehen, dass sie das Ergebnis einer gezielten Auseinandersetzung mit der Literatur der Décadence darstellt. Die Tatsache, dass Cohens Figur des Heiligen dem Künstlerkonzept Baudelaires nahesteht, bestätigt diese These. Darüber hinaus wird sie durch die ähnlichen Auffassungen beider Autoren zum Verhältnis des Dichters zur Gesellschaft und zur Frau untermauert.

Gerade die aufgezeigten Unterschiede legen nahe, dass Cohen ein eigenständiges Kunstverständnis in seiner Lyrik entworfen hat. Wohl hat er sich zwar von Dichtern wie Baudelaire, Rimbaud und Mallarmé inspirieren und tief beeinflussen lassen. Gleichzeitig brachte er es aber fertig, deren Ästhetik und Poetologie in ein Nordamerika des mittleren bis späten 21. Jahrhunderts zu übertragen und zeitgenössische Ausdrucksformen für sie zu finden. Dies wird zum Beispiel an seiner Behandlung des Holocausts deutlich, die in ihrer Ästhetik des Bösen klare Anleihen bei der Décadence aufzeigt, diesen Ansatz jedoch um die spezifischen Erfahrungen der die Moral erschütternden Schrecken des Zweiten Weltkriegs erweitert und sich so in einen Diskurs über die Möglichkeit der Literatur im Schatten des Holocausts einreiht.

Cohens Gedichte und Songs weisen also eine Verwandtschaft zu Baudelaire auf, die bisweilen ob ihrer Nähe geradezu frappierend erscheint und eine direkte Bezugnahme einiger seiner Texte auf Baudelaires Lyrik nahelegen. Sie finden jedoch einen modernen, individuellen und selbstbewussten Ausdruck, der für einen so jungen Dichter, wie Cohen es zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seiner ersten Gedichtbände war, erstaunlich ist.

 

[1] So etwa in dem Gedicht Le Vampire, in dem die Frau, zu der das lyrische Ich in einer Art masochistischem Abhängigkeitsverhältnis zu stehen scheint, zu etwas Abscheulichem und Bösem wird, das das Leben aussaugt, an das er aber trotz allem unwiederbringlich gebunden zu sein scheint.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz