Ein glückliches Leben

Imre Kertész reflektiert in „Der Betrachter. Aufzeichnungen 1991-2001“, wie er ein Teil des literarischen Betriebs wurde

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen“, schreibt Albert Camus über seinen Helden der ewigen Qual. In der Last findet auch Imre Kertész sein Glück. 1994 hält er mit Blick auf seine Schriftstellerexistenz fest: „Glück ist das Gegenteil jeder Leichtigkeit. Glück ist die Leichtigkeit der zu tragenden Last“. Er notiert dies auf einer Reise „durch halb Europa“, auf der ihm die Freiheit als eine ambivalente Erfahrung begegnet. Für einen, der aus dem Holocaust nach Hause zurückgekehrt ist und den anschließenden Sozialismus unbehelligt überstanden hat, ist es nicht einfach, die vertraute Einsamkeit und Abgeschiedenheit einfach so hinter sich zu lassen. Imre Kertész bleibt skeptisch. Was soll er mit dieser äußerlichen Freiheit, wo „bis jetzt der Geruch der Freiheit in mir“ war. Und sechs Jahre später: „Mein Ideal ist nichts weiter als eine gewisse Unabhängigkeit von den Urteilen anderer und das Sich-Abfinden mit den eigenen kläglichen Möglichkeiten.“

Diese Zitate von Imre Kertész finden sich in einem Buch, das posthum unter dem Titel Der Betrachter erschienen ist und das Aufzeichnungen aus den Jahren 1991 bis 2001 wiedergibt. Es beschreibt die Epoche zwischen der Wende 1989 und dem späten Ruhm durch die Verleihung des Nobelpreises 2002. Kertész hat 1991 die Arbeit am Galeerentagebuch abgeschlossen, 2001 schließen sich mit ein paar Überschneidungen die nachfolgenden Tagebücher unter dem Titel Letzte Einkehr an.

2. Oktober 1991  Chronik als Selbstprüfung. Alles niederschreiben, so wie es kommt“ – beginnt Der Betrachter. Die plötzliche Entlassung aus dem „sechzigjährigen Eingeschlossensein“ schärft beim Verfasser Fragen über sein Selbstverständnis angesichts der steigenden Aufmerksamkeit für seine Bücher und angesichts der Rolle als neue moralische Autorität. Vorab aus Deutschland erhält er viel positive Resonanz. Der Erfolg zwingt ihn, aus seinem abgeschotteten Dasein als Schreibender und Denkender herauszutreten und auf einmal über alles und jedes Auskunft geben zu müssen. „Das Berühmtwerden. Lächerlich“, hält er in aller Kürze fest. „Die vielen Kontakte ramponieren meine Moral“. Und er gibt zu bedenken, „dass wir auch den Erfolg ertragen können müssen, so wie wir auch Zurücksetzung, Anonymität und Erfolglosigkeit ertragen“. Doch als Teil des Betriebs wird sein Ich notgedrungen zu einem anderen.

Dem steigenden Interesse im Ausland korrespondiert weiterhin ein absolutes, schmähliches Desinteresse an seinem Werk zu Hause in Ungarn. Erst recht nach der Wende fühlt sich Imre Kertész hier gänzlich unzugehörig, entsprechend scharf fallen seine Urteile über die Verhältnisse in diesem „Operettenland“ aus, das lieber „seine echten und vermeintlichen Wunden leckend, sich hinter Wahnideen versteckend, dahinvegetieren will“, als sich wahrhaft mit der eigenen faschistischen und sozialistischen Geschichte auseinanderzusetzen. Die harschen Sätze, die Kertész vor 20 Jahren über die kollektive Verfasstheit Ungarns notierte, geben einen verblüffend klaren Blick auf die heutigen Zustände frei. Schon 2000 war er überzeugt, dass eine „faschistische Renaissance“ drohe.

In diesen Aufzeichnungen aus den 1990er-Jahren begegnet uns ein zweifelnder, hadernder, mit sich und den Umständen ringender, widerständiger, scharfzüngiger Geist, der sich vehement gegen „das schrecklichste Verhängnis“ wehrt: „die Altersweisheit“. Mit „existentieller Erregung“ beobachtet er gerade auch sich selbst ausgesprochen kritisch. Schuld ist ein häufig wiederkehrendes Wort. Er wirft sich vor, seine Ehefrau Albina nicht bis zum Tod gepflegt zu haben, und auch die Liebe seiner zweiten Ehefrau Magda vermag er nicht so zu erwidern, wie sie es verdiente.

Vor allem und eindringlich erinnert Kertész aber an den Holocaust und an Auschwitz als einen zentralen Wendepunkt in der abendländischen Geschichte. An Auschwitz hat „sich die Wirklichkeit entlarvt, die Tatsächlichkeit, die Daseinsform, in der wir leben“. Auschwitz steht für die totalitäre Macht und Unterordnung, es ist „die Manifestation des Erlöschens einer zweitausendjährigen Kultur“. Was durch das Christentum und Judentum einst Sinn erhalten hat, ist dadurch bedeutungslos geworden. Sein Gottvertrauen wird deshalb allerdings nicht erschüttert. Sein Gott hat weder Namen noch Bart und körperliche Gestalt, er liegt tiefer verborgen. „Er ist unerreichbar, weil er nicht existiert. Das ist mein Gott.“ Der Atheismus rettet nicht aus dem scheinbaren Paradox, deshalb sei er „ein vollkommenes verkehrtes Denken“, das an Stelle „einer großen, sagen wird: tragischen Lebensführung“ bloß noch ein „Moralisieren“ erlaubt. Sein unscheinbarer Gott hat nichts mit den religiösen Institutionen gemein, und ebenso wenig mit einem Fundamentalismus, der nicht abwartet, „bis die von ihm zum Tode verurteilten zugrunde gehen“, sondern „sie lieber eilends ermorden“ möchte.

Auschwitz steht aber auch dafür, dass „ausgerechnet Antisemiten“ den Überlebenden Imre Kertész zum Juden machen, wogegen er sich vehement sperrt. Er akzeptiert den jüdischen Stempel allein zum Zeichen des Unzugehörigen: ein anderer sein, der weder an der politischen Macht teilhat noch am allgemeinen Wertezerfall und Niedergang, den er in Europa allenthalben wahrnimmt.

So bleibt ihm letztlich nur das eigene Schaffen, und das Glück innerhalb der eigenen „kläglichen Möglichkeiten“. „Wollte ich von außen definieren, warum ich schreibe (was freilich nicht viel Sinn hätte)“, so vielleicht deshalb, „um zumindest für einen Augenblick heimzufinden aus Unmenschlichkeit, Fremdheit, Exil; heim – das bedeutet unser eigenes Leben und unseren Tod“. Im Schreiben findet er eine beglückende, „frevelhafte Form der Existenz“. Und im Glauben an die eigene Arbeit liegt auch der Glauben ans Gute, letztlich an Gott begründet, die dem eigenen Pessimismus trotzt. Ein großer Künstler sei einer, notiert Kertész, „der seine ganze Existenz aufs Spiel setzt, mit allem verschwenderischen Risiko“ – wie er selbst.

So überrascht es am Ende nicht, dass bei aller Düsterkeit, Radikalität und Skepsis in diesen Aufzeichnungen immer wieder das Wort „Glück“ auftaucht. Ohne ein solches würden diese Aufzeichnungen unerfüllt bleiben. Der Mensch hat „die Pflicht glücklich zu sein“. Und so fühlt sich Imre Kertész glücklich, „solange ich schreiben kann“ – als ein „die letzten Möglichkeiten des Heroismus ausnutzender und formulierender Schriftsteller“, der mit „zitternder Demut“ darauf wartet, „ob mir noch ein mir wichtiger Text in die Feder kommt“.

Diese gleichermaßen harschen wie liebevollen Aufzeichnungen treten den Beweis eindrücklich an. Entsprechend schließt Der Betrachter 2001 mit einem versöhnlichen Ende: „Solange du lebst, sei glücklich, weil allein das Glück des Lebens würdig ist, sonst vegetierst du würdelos…“

PS: Anfang Januar 2017 meldete die Deutsche Depeschenagentur DPA, dass in Budapest ein Kertész-Museum eingerichtet werden solle. Als Trägerin fungiert eine „regierungsnahe Kulturstiftung“, die kontrolliert wird von Maria Schmidt, einer Vertrauten Viktor Orbans, die des offenen Antisemitismus bezichtigt wird. Tote können sich nicht wehren. Imre Kertész darf sich wenigstens in seiner Analyse der ungarischen Operettendiktatur bestätigt fühlen.

Titelbild

Imre Kertész: Der Betrachter. Aufzeichnungen 1991–2001.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Heike Flemming und Lacy Kornitzer.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2016.
253 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783498035617

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