Welcome to the Machine

In E. M. Forsters Dystopie „Die Maschine steht still“ ist unsere Gegenwart längst angekommen

Von Nico Schulte-EbbertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nico Schulte-Ebbert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 4. September 1909 machten sich Max Brod und Franz Kafka (Brods Bruder Otto sollte sich mit Verspätung dazugesellen) auf den Weg von Prag gen Süden in die Sommerfrische ins oberitalienische Riva – eine Bahnreise, die immerhin 21 Stunden dauern sollte. Während ihres fünftägigen Aufenthalts erfuhren die Freunde aus einer Zeitung, dass der französische Luftfahrtpionier Louis Charles Joseph Blériot (1872-1936), der erst am 25. Juli als erster Mensch den Ärmelkanal von Calais nach Dover überflogen hatte, im gut 80 Kilometer entfernt liegenden Brescia an einem Flugmeeting teilnahm. Dieses Ereignis wollten sich die drei nicht entgehen lassen. Und so brachte sie ein Dampfer am 10. September innerhalb von vier Stunden vom nördlichen Ufer des Gardasees an dessen südlichen Zipfel nach Desenzano. Von dort aus ging es mit der Bahn weiter nach Brescia. Kafka hat das Spektakel in einem Zeitungsartikel mit dem Titel Die Aeroplane in Brescia festgehalten, in dem es unter anderem heißt:

Nun aber kommt der Apparat, mit dem Blériot den Kanal überflogen hat; keiner hat es gesagt, alle wissen es. Eine lange Pause und Blériot ist in der Luft, man sieht seinen geraden Oberkörper über den Flügeln, seine Beine stecken tief als Teil der Maschinerie.

Es scheint, als hätte Blériot seine aviatische Meisterleistung nur deshalb erbringen können, weil er eins mit seinem Flugzeug geworden war – die Verschmelzung von Mensch und Maschine!

Nur zwei Monate nach dem Technikspektakel auf dem Flugfeld von Montichiari (und der Publikation des Kafka’schen Augenzeugenberichts am 29. September 1909 in der deutschsprachigen Zeitung Bohemia) veröffentlichte die Literaturzeitschrift Oxford and Cambridge Review in ihrer November-Ausgabe eine Science-Fiction-Kurzgeschichte des dreißigjährigen Engländers E. M. Forster (1879-1970), dessen dritter Roman A Room with a View ein Jahr zuvor erschienen war, und dessen hochgelobter vierter, Howards End, ein Jahr später publiziert werden sollte.

Der Titel der gut 12.000 Wörter umfassenden, recht handlungsarmen, doch außergewöhnlichen Erzählung lautete: The Machine Stops – außergewöhnlich deshalb, weil ein Großteil der in Die Maschine steht still beschriebenen Technologie inzwischen zum Repertoire des Alltagslebens des 21. Jahrhunderts zählt. Kann Forster somit als Science-Fiction-Pionier, gar als Gründer dieses Genres bezeichnet werden? Dies ist keine leicht zu beantwortende Frage, denn setzt Science-Fiction schon im Jahre 1516 mit Thomas Mores Utopia ein, oder steht am Anfang doch Somnium, eine Erzählung des Astronomen Johannes Kepler, die 1634 postum von Keplers Sohn Ludwig veröffentlicht wurde? Vielleicht ist der Sci-fi-Prototyp auch Mary Shelleys Frankenstein aus dem Jahre 1818; vielleicht kann man erst mit den von Hugo Gernsback 1926 herausgegebenen Amazing Stories von dieser (literarischen) Richtung sprechen. Die Unsicherheit des Geburtstermins sowie die Tatsache, dass es unzählige, sich teils widersprechende Definitionen gibt, veranlasste den britischen Kritiker Paul Kincaid in seinem jüngst in der Los Angeles Review of Books erschienenen Beitrag This is Science Fiction? zu der folgenden Klarstellung:

However, what we call science fiction is not and never has been uniform. If there is any consistency in science fiction, it is an engagement with the new, and so science fiction is constantly engaged in reinventing itself. The science fiction of 25 years ago, 50 years ago, and 100 years ago is clearly ancestral to the science fiction we read today, but it is not the same thing. Those antecedent forms were not using the same tools or working toward the same end.

Die ‚Beschäftigung mit dem Neuen‘ und wie dieses Neue auf das Alte einwirkt, zeichnet Forsters Erzählung wesentlich aus. In ihr sind Mensch und Maschine auf eine andere Art verschmolzen als es in Kafkas nonfiktionalem Text der Fall ist. Die Symbiose ist tiefgreifender, elementarer, ja beinahe natürlich. Doch warum nur, so könnte man fragen, sollte am Beginn des technikaffinen 20. Jahrhunderts eine Maschine stillstehen? Etwas Übermenschliches, Unnatürliches, Unvorstellbares zu leisten, liegt im Wesen der Maschine, die etymologisch den Begriffen Macht und Magie nahesteht; sie hat das Vermögen, die Lebenswelt entscheidend zu prägen, zu strukturieren und zu organisieren. Was würde geschehen, stünden Maschinen still?

Wiederum lohnt sich ein vergleichender Blick in Kafkas Text. In einer unveröffentlichten Passage seines Berichts heißt es: „Weil er nicht mehr weiter kann, macht der Zug endgültig halt. Eine Gruppe Automobile bremst gleichzeitig, durch den auffliegenden Staub sehn wir nicht weit viele kleine Fahnen wehn, noch hält uns eine Rinderherde auf, die ausser Rand und Band, einknickend auf dem hügeligen Boden, förmlich in die Automobile läuft.“ Stillstand der Maschinen bedeutet Stau im umfänglichsten Sinne und in sämtlichen Lebensbereichen. In Forsters Zukunft nimmt dieses Erliegen apokalyptische Ausmaße an, und die Könnerschaft des Autors zeigt sich im Spannungsbogen, den er vom individuellen Schicksal bis zum globalen Kollaps auf gerade einmal 73 Seiten spannt: „‚Nicht mehr lange, und die Maschine steht still‘“, heißt es gegen Ende der Erzählung.

Vermutlich nahm Forster mit Die Maschine steht still Bezug auf eine der frühen Utopien seines Landsmannes H. G. Wells (1866-1946), allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass Forster die zunehmende Macht der Maschinen äußerst kritisch sah und die Abhängigkeit der Menschen von ihrer selbstgeschaffenen Technik mit großer Besorgnis zum Ausdruck brachte. In einem Tagebuch-Eintrag vom 27. Januar 1908 schreibt Forster: „Science, instead of freeing man – the Greeks nearly freed him by right feeling – is enslaving him to machines.“

Die Versklavung der Menschen durch Technik ist der Basso continuo der Die Maschine steht still, Forsters einzige Science-Fiction-Story, durchzieht. Eine allgegenwärtige Maschine regelt als gigantische Bedürfnisbefriedigerin in einer unbestimmten Zukunft das Leben der untertage in wabenförmigen Zimmern singulär existierenden Menschen (die kongeniale Cover-Gestaltung Hoffmann und Campes muss an dieser Stelle lobend erwähnt werden):

Die Knöpfe und Schalter waren überall. Mit ihnen ließ sich Nahrung, Musik und Kleidung anfordern. Es gab einen Knopf für Warmbäder, nach dessen Betätigung ein Becken aus künstlichem Marmor aus dem Boden fuhr, bis zum Rand gefüllt mit einer warmen desodorierten Flüssigkeit. Es gab einen Knopf für Kaltbäder. Es gab einen Knopf für Literatur. Und natürlich gab es jene Knöpfe, die es ihr [Vashti] ermöglichten, mit ihren Freunden zu kommunizieren.

Vashti, „eine Frau, etwa anderthalb Meter groß, mit einem Gesicht weiß wie Pilz“, ist eine der beiden namentlich genannten Protagonisten der Forster’schen Dystopie. Sie fühlt sich nicht versklavt oder unterdrückt; sie kennt keine andere Existenzform und würde es nie wagen, an ihrer Situation auch nur das Geringste zu ändern, geschweige denn die Maschine und die von ihr begründete Kultur zu kritisieren. Ganz anders ihr Sohn Kuno, dem die Maschine eine Zelle auf der anderen Seite der Erde, unterhalb Wessex’, zugewiesen hat. Nicht nur unterscheidet er sich äußerlich – ihm ist eine „gewisse physische Stärke eigen“, was als Makel, wenn nicht gar als Bedrohung aufgefasst wird –; gerade seine innere, kritische, neugierige Einstellung ist wesentliches Movens der Erzählung.

Auf Kuno trifft das zu, was Hans Blumenberg am 18. April 1953 in seinem unter dem Pseudonym Axel Colly in den Düsseldorfer Nachrichten veröffentlichten Text Die Rechnung ohne den Wirt. Von der Unsicherheit im Umgang mit der Technik ausgeführt hat: „Noch inmitten der ausgeklügeltesten Konstruktion“, so Blumenberg, „setzt sich der Mensch durch als das, was er wesenhaft ist: als Subjekt, das heißt: als eigenwilliges Wesen.“ Kunos Eigenwille ist das störende Moment in einer gleichgeschalteten, das Subjekt sedierenden Maschinen-Kultur; Kunos Welt ist Wille und Vorstellung, Neugier und Mut, ein transzendentes Mehr und eine metaphysische Ferne.

Diese Differenz zwischen Vashti und Kuno lässt Forster auch auf sprachlicher Ebene aufscheinen: Während sich jene ängstlich, zurückhaltend und linientreu äußert und dadurch die kalte, rationale Welt der Maschine verkörpert, berichtet dieser leidenschaftlich und direkt, ja geradezu poetisch von seinen Gedanken, Gefühlen und Erlebnissen in einer menschenleeren, fremden Welt: „Die Hügel schlafen jetzt“, so Kuno, „– vielleicht für immer. Und in ihren Träumen halten sie Zwiesprache mit der Menschheit.“

Der innere Unterschied wird durch äußere Distanz verstärkt, eine Distanz, die zunächst scheinbar durch Technologie aufgehoben wird – Forster erfindet hierfür einen Skype-Prototyp (bereits 1996 hatte der deutsche Science-Fiction-Autor Frank Bosch eine Analogie zwischen dem noch neuen und weithin unbekannten Internet und Forsters vernetzter Zukunftsgesellschaft gezogen)! – und schließlich durch einen physischen Besuch Vashtis bei ihrem Sohn, die dafür eine lange Reise mit dem Luftschiff auf sich nimmt, wobei sie „das Grauen des direkten Erlebens“ packt: „‚Was denn, mein lieber Junge? Schnell doch! Weshalb keine Rohrpost?‘ ‚Weil ich es dir persönlich sagen will. Ich möchte …‘ ‚Nun?‘ ‚Ich möchte, dass wir uns sehen.‘ Vashti betrachtete sein Gesicht auf der blauen Scheibe. ‚Aber ich sehe dich doch!‘, rief sie. ‚Was willst du mehr?‘ ‚Ich will dich nicht durch die Maschine sehen‘, sagte Kuno. ‚Ich will dich auch nicht durch die lästige Maschine sprechen.‘ ‚Sei still!‘, sagte seine Mutter verstört. ‚Du darfst dich nicht maschinenfeindlich äußern!‘“

In einer Welt, in der eine Maschine das Leben der Menschen beherrscht und schier gottgleiche Attribute besitzt, dient Technik einzig dazu, die Individuen von der Wirklichkeit fernzuhalten und sie zur Ideenproduktion zu animieren: „Sie [Vashti] verdunkelte ihr Zimmer und schlief. Sie hielt Vorträge und sie hörte Vorträge. Sie besprach Ideen mit unzähligen Freunden, und sie war überzeugt, dass sie zunehmend vergeistigte.“ Zugleich ist das Unbehagen das größte, da niemand mehr weiß, wie die Maschine funktioniert. Stattdessen ist man naiv genug, sämtliche Hoffnungen in sie zu setzen, auf dass schon alles seine Richtigkeit habe.

Alles Körperliche, alle sinnlichen Wahrnehmungen werden unterdrückt; der Mensch wird dehumanisiert. Laut Forsters Biographin Wendy Moffat liegt der Ästhetik des englischen Schriftstellers ein Hauptthema zugrunde: „[…] the search of a person for an honest connection with another human being.“ Und genau dies ist es, was Kuno anstrebt. Er besinnt sich: „Der Mensch ist das Maß. Das habe ich [Kuno] zuerst gelernt. Das Maß für Entfernung sind die Füße, das Maß für Besitz sind die Hände, und das Maß für alles Liebenswerte, Begehrenswerte und Starke ist der Körper.“

Seine Neugier treibt ihn auf die lebensfeindliche Erdoberfläche, an der man nur mit Atemmaske überleben kann. Man kann sich als Leser des Eindrucks nicht erwehren, hierin eine Anspielung auf Platons Höhlengleichnis zu erkennen: Kuno gibt sich nicht länger mit den Schatten an der Wand, will sagen: den Bildern auf den Monitoren zufrieden. Und Forster baut eine zweite Verbindung zur Antike auf, indem er die Ausgangsluken als ‚Vomitorien‘ bezeichnet. Doch diese führen eben nicht in ein Theater und also in eine Scheinwelt; durch sie erreicht der subterrane Mensch eine Realität frei vom Einfluss der Maschine, ihrer technologischen Bevormundung, ihrer Paragraphen und Wörter, Wörter, die im Text durch Kapitälchen hervorgehoben werden, die unmissverständlich der neuen Maschinenkultur und ihrer Bürokratie angehören: Heimatlosigkeit, Ausgangserlaubnis, Zentralgremium oder Korrekturapparat sind nur einige Beispiele dafür. (Andere Wörter klingen für heutige Ohren antiquiert – darunter etwa Luftschiff, Rohrpost oder Grammophon –, weswegen man Forster allerdings keinen Vorwurf machen kann.) Und es ist eben diese Heimatlosigkeit, die Kuno nach seinem unerlaubten Ausbruch an die Erdoberfläche erwartet. Vashti ist fassungslos:

Er hielt inne. Vashti kamen die Tränen. Sein Schicksal war besiegelt, das wusste sie. Wenn er nicht heute starb, dann morgen. Für Menschen wie ihn gab es keinen Platz auf der Welt. Sie empfand Mitleid und Ekel zugleich. Sie schämte sich, dass ausgerechnet sie diesen Menschen geboren hatte, sie, die sie doch stets so überaus anständig und voller Ideen gewesen war.

Im April 2016 sagte Facebook-Gründer Mark Zuckerberg in einer programmatischen Rede: „And the Internet has enabled all of us to access and share more ideas and information than ever before. We’ve gone from a world of isolated communities to one global community, and we’re all better off for it.“ Sind wir in dieser globalen Gemeinschaft tatsächlich besser dran, ja ist diese neue virtuelle Welt gar die beste aller möglichen Welten? Forster würde dem wohl vehement widersprechen. Seine Kurzgeschichte ist ein Plädoyer für Individualität und Mut sowie eine Warnung vor der Technikeuphorie des beginnenden 20. sowie der digitalen, vernetzten Gegenwart des 21. Jahrhunderts, in der Präsenz und das Zusammensein von Menschen mehr und mehr entwertet werden. So ist es weniger die recht frappierende Ähnlichkeit mit heutiger Technologie, die Die Maschine steht still so lesenswert macht; es sind die Fragen nach der menschlichen Natur und was eine Kultur der physischen Distanz mit ihr macht, wenn wir einer Maschine eine so zentrale Rolle in unserem Leben einräumen.

Anfang Dezember 2016 schrieb Liu Cixin in der New York Times: „As a science-fiction writer, it’s my duty to warn the human race that the robot revolution has begun — even if no one has noticed yet.“ Über hundert Jahre zuvor ließ E. M. Forster seine Figur Kuno summieren:

Wir haben sie [die Maschine] erschaffen, uns zu dienen, aber sie dient uns nicht mehr. Sie nimmt uns das Gefühl für den Raum und den Sinn für Berührungen, sie betäubt alle zwischenmenschlichen Beziehungen, reduziert Liebe auf einen fleischlichen Akt, lähmt unsere Körper und unseren Willen, und jetzt zwingt sie uns auch noch dazu, sie anzubeten!

Forsters Text ist eine Warnung, eine Warnung davor, zu viel von uns an Maschinen abzugeben, und eine Mahnung, die Maschine anzuhalten, bevor sie uns anhält.

Titelbild

E. M. Forster: Die Maschine steht still.
Übersetzt aus dem Englischen von Gregor Runge.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2016.
80 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783455405712

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